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2. Alte und neue Konzeptionen

Die folgenden Abschnitte umreißen die semantische Bandbreite des Heldenbegriffs in seiner gegenwärtigen Bedeutung sowie in der Geschichte der Germanistik und in der Literaturwissenschaft, um vor diesem Hintergrund die Heldenauswahl dieses Bandes genauer zu begründen. Die anschließenden Kapitel zu den einzelnen Epen können grundsätzlich unabhängig voneinander gelesen werden. Ihr volles Potenzial entfalten sie allerdings in der vergleichenden Lektüre, weil die einzelne Heldenfigur in der Absetzung von den anderen Typen an Profil gewinnt; dies wird an zentralen Stellen durch entsprechende Querverweise hervorgehoben. So wird einerseits ersichtlich, welche Eigenschaften die dargestellten Helden teilen (Kraft, Führungsqualitäten, Zorn, Schuld) und andererseits, wie sie ihre Individualität gewinnen (Generationenkonflikt, Identitätsverlust, Selbstzerstörung).

2.1 Die Faszinationskraft von Helden

Helden sind faszinierend anders: außeralltäglich, außerordentlich, gar mit einzigartigen Fähigkeiten ausgestattet. Gleichzeitig können sie erstrebenswerte Grundhaltungen und Aktionsmacht verkörpern. Sie sind als die bewunderten Außergewöhnlichen zugleich auch Vorbilder – und das selbst dann, wenn sie jung sterben oder scheitern. Sie bieten also Identifikationsmöglichkeiten, ihre Aktionen sind aber von der Art, dass sie nicht in den Alltag zu übertragen sind. Das Heroische, das sich im Handeln realisiert, sprengt die lebensweltlich eingeübten Handlungsmuster. Helden entziehen sich, so lässt sich als erstes Vorverständnis festhalten, mindestens in einem Punkt, vielleicht auch in vielerlei Hinsichten, der Nachahmbarkeit.

In der globalisierten Gesellschaft ist die enorme Nachfrage nach dem Helden, der eine unnachahmliche Besonderheit vorzuweisen hat, in seiner Gegenbildlichkeit zur mannigfach-ausdifferenzierten Einbindung Einzelner in soziale Entitäten begründet: Der Held steht für sich. Das Verlangen nach solchen Helden findet seinen Ausdruck in dem sich unaufhörlich erweiternden Repertoire an Heldenfiguren: Die ‚alten‘ Helden werden fortlaufend durch ‚neue‘ ergänzt. Aus der Fantasy-Literatur, der Science-Fiction oder aus Comics stammen Helden wie Harry Potter, Luke Skywalker, Batman oder Monkey D. Ruffy. Zugleich zeugt die moderne Vergesellschaftung von Helden in jährlichen Neuaufnahmen in Halls of Fame des Sports oder der Musik vom aktuellen Bedürfnis, der Durchschnittlichkeit des Alltags durch Identifikation mit herausgehobenen Figuren zu entkommen, die man bewundern und denen man nacheifern kann. Dabei geht es gerade nicht nur um das Außergewöhnliche des Helden / der Heldin, sondern damit eng verbunden auch um das Bedürfnis, im imaginären Mitgehen mit dem Helden Besonderheit gegenüber anderen zu gewinnen, sei es im individuellen Genuss der besonderen Beziehung zur Heldenfigur oder im Bewusstsein kollektiver Fan-Kultur.

Gegenläufig zur Komplexitätssteigerung in modernen Gesellschaften ist seit dem 19. Jahrhundert eine Tendenz zur allmählichen Verengung des Heldenbegriffs zu beobachten, die auch die aktuellen Auseinandersetzungen um den Helden in den Feuilletons prägt. Helden werden in öffentlichen Diskursen in erster Linie unter dem Aspekt der Vorbildlichkeit gefasst, und dies spiegelt sich auch in Wortbildungen wie ‚Volksheld‘, ‚Helden des Alltags‘ oder ‚Heldenkollektiv‘. Diese Helden zeichnen sich dadurch aus, dass sie ihren Erfolgswillen mit den Prinzipien eines gemeingesellschaftlich für gut befundenen Handelns in Einklang bringen. In Umfragen zum Grad der Hochschätzung von Berufsgruppen stehen Feuerwehrleute vor Pflegern, Ärzten oder auch Soldaten auf dem ersten Platz (vgl. die Umfrage in: Focus Nr. 9, 2002).

2.2 Geschichte des Heldenbegriffs

Dass Helden heute wieder in aller Munde sind, ist nicht selbstverständlich. Unsere Gesellschaft gilt als ‚postheroisch‘ (vgl. Münkler 2007), und schon Brecht legte seinem Galilei das Diktum in den Mund, dass diejenige Gesellschaft glücklich sei, die keinen Helden nötig habe. Nun sind die Helden, die wir heute feiern, in der Regel keine Heroen mit einzigartigem Status. Vielmehr scheint es ein Merkmal des (post-)modernen Helden zu sein, dass er im Kollektiv handelt. Das gilt für die Feuerwehrleute vom Ground Zero ebenso wie für die ‚Helden von Fukushima‘. Das Heldenkollektiv hat auch in die Literatur Eingang gefunden: Harry Potter oder der Hobbit Frodo handeln zusammen mit ‚Gefährten‘. Ferner ist unser Verständnis vom Helden durch das Merkmal der Zivilcourage bestimmt: Jemand handelt zum Wohl anderer und begibt sich dabei in Gefahr.

Dieses verhältnismäßig ‚junge‘ Grundverständnis vom Heldentum als ‚Bürgerpflicht zum Handeln‘, zum ‚Nicht-Wegschauen‘ zeigt vor allem eines an: Die Demokratisierung des Heldentums. Theoretisch kann heute jeder von uns ein Held oder eine Heldin sein bzw. werden. Dieser Heldenbegriff wird durch eine ganze Reihe von Vereinen und Institutionen propagiert, die ‚normalen‘ Bürgern eben dies: die Pflicht zur Tat, zur Widerständigkeit, zum Eigensinn beibringen wollen. Solche Initiativen sind etwa der im Jahr 2000 gegründete Verein ‚Gesicht zeigen. Für ein weltoffenes Deutschland e.V.‘, das für Schulen 2009 entwickelte ‚Projekt Zivilcourage‘ oder das von der AG ‚Frieden‘ in Trier seit 2010 betriebene Kursangebot ‚Yes, you can‘. Der amerikanische Psychologe Philip G. Zimbardo verfolgt im Rahmen seines 2010 begründeten ‚Heroic Imagination Projects‘ ähnliche Ziele: Auf Zivilcourage und Widerständigkeit könne die Demokratie nicht verzichten. Daher bietet Zimbardo auf seiner Homepage einen Internetkurs an, in dem jeder den everyday heroism erlernen, sich also Klick für Klick zum Helden ausbilden lassen kann.1

Dass diese Demokratisierung des Heldenbegriffs – jeder kann ein Held sein, wenn er eigene Interessen zum Wohl anderer in bestimmten Situationen zurückstellt – einer auf Einzigartigkeit und Außerordentlichkeit des Helden basierenden Substanz des Heldenbegriffs zuwiderläuft, ist klar: Führt man sie konsequent zu Ende, dann ist jede Mitbürgerin eine Heldin, die das ausgesperrte Nachbarskind für einige Stunden aufnimmt; jeder Mitbürger, der das verlorene Portemonnaie ins Fundbüro zurückbringt usw. Einer derartigen Omnipräsenz der Helden leisten die Medien in ihrem Neuigkeits- und Sensationshunger kräftig Vorschub. – Wir erinnern nur an die Werbung der Sportschau (ARD) zum Start der Bundesliga- Saison 2011: „Hier werden Helden gemacht!“

Diese im Alltag weit verbreitete Entheroisierung des Helden ist freilich kein Zufall, sondern man kann sie geradezu als Reaktion auf seine vorhergehende Bedeutung im 19./20. Jahrhundert lesen. Gerade in Deutschland hat man kein ungebrochenes Verhältnis zum Heldentum und ist deshalb bemüht, den Begriff mit sozialen Tugenden wie Zivilcourage und kollektivem Handeln zu besetzen. Als Beispiel für die Problematik des Begriffs führen wir ein Zitat aus einem am 15. Mai 2010 in der Bild am Sonntag erschienenen Interview an, in dem der damalige Verteidigungsminister zu Guttenberg eine Neubewertung des Heldenbegriffs forderte:

„Der Begriff des Heldentums ist durch den Missbrauch in der Nazi-Zeit erheblich belastet. Das erschwert einen rationalen Umgang. Wenn man ihn aber davon entkoppelt, stellt man schnell fest, dass der Umgang individuell ganz unterschiedlich ist. Meine Kinder benutzen den Begriff Held ganz zwanglos, bei anderen löst er sofort Nesselausschlag oder Entsetzen aus. Genauso unterschiedlich wird von jedem beantwortet, ob sich jemand tapfer, sehr tapfer oder wie ein Held verhalten hat. Grundsätzlich aber gilt, dass wir den Schritt hin zu einem rationalen Umgang mit dem Begriff Held oder Heldentum nur mit der gebotenen Sensibilität und im Bewusstsein der Geschichte tun können.“

(http://www.bild.de/politik/2010/interview/was-ist-fuer-sie-ein-held-12549608.bild.html, Zugriff am 03. 01.2014)

Die von zu Guttenberg geforderte Rationalisierung des Heldenbegriffs hatte Bundeskanzlerin Angela Merkel gerade nicht vorgenommen, als sie die ersten ‚Ehrenkreuze der Bundeswehr für Tapferkeit‘ im Sommer 2009 verlieh. Den Begriff des ‚Helden‘ sparte sie in ihrer Ansprache nämlich aus. „Die Soldaten bekamen die Tapferkeitsmedaille ausgehändigt, weil sie sich unter Lebensgefahr um verletzte Kameraden gekümmert hatten. Ihr Handeln entsprach damit dem, was auch im zivilen Kontext preiswürdig war: dem selbstlosen Einsatz für andere“ (Frevert 2011: 804). Bei der militärischen Verwendung des Heldenbegriffs tun wir uns also alles andere als leicht.

Dies aber hängt mit der Geschichte des Begriffs zusammen, die hier in aller Kürze vorgestellt werden soll. Denn ‚Held‘ ist zunächst einmal kein Terminus aus Gesellschaft und Politik, sondern ein Begriff aus der mittelalterlichen Literatur. Der Ausdruck ist in der Geschichte der deutschen Sprache erstmals in der frühmittelalterlichen Dichtung belegt, im altsächsischen Heliand (um 830) und im althochdeutschen Hildebrandslied (um 840), jeweils gebunden in Stabreimformeln: heliđos in hallu (‚die Helden in der (Fest)-Halle‘), heliđos ubar hringa (‚die Helden über die Ringe‘, also über ihre Kettenhemden). Wir haben es demnach mit einem Begriff der Dichtersprache zu tun, mit dem Krieger in Rüstung beim Kampf oder bei der anschließenden Feier in der Festhalle beschrieben werden. Mit diesen Belegen aus dem 9. Jahrhundert ist der Begriff ein Element der germanischen Heldendichtung und in ähnlichen Formeln in der altenglischen oder altnordischen Stabreimdichtung vertreten. Im 12. Jahrhundert scheint sich das Wortfeld für den Krieger in der Epik zu erweitern: Neben helt treten recke, wîgant oder degen als Bezeichnungen für den Krieger. Auffallend ist dabei, dass der Ausdruck ‚Held‘ in die moderne höfische Literatur um 1200, Romane auf der Grundlage keltischer oder antiker Stoffe, nicht übernommen wird. Im Parzival, im Iwein oder im Lancelot sind ‚Ritter‘ (rîter) die Protagonisten der Erzählung. Offensichtlich versucht man sich mit dem auch im Alltag und in der Rechtssprache üblichen Ausdruck ‚Ritter‘ von den älteren ‚Helden‘, diesen Kriegern aus der heroischen Vorzeit, abzusetzen. Ab dem 17. Jahrhundert findet der Begriff ‚Held‘ schließlich als „wertfreier Terminus für die literarische Hauptfigur“ Verwendung (Fuchs 1997: 12). Freilich ist diese neutrale Bezeichnung für den Protagonisten nur die eine Seite der geschichtlichen Entwicklung. Denn daneben behauptet sich seit dem 19. Jahrhundert erneut jene Vorstellung des alle Dimensionen sprengenden Einzelkämpfers, die schon der klassischen höfischen Dichtung um 1200 nicht mehr als zeitgemäß erschienen war.

Dieses erneute Anknüpfen an die überholte Bedeutung eines Kriegers aus der Vorzeit hängt unmittelbar mit der Situation im ehemaligen Kaiserreich Anfang des 19. Jahrhunderts zusammen. Um dem politisch und kulturell als überlegen angesehenen Frankreich eine eigene nationale Identität entgegenzusetzen, erkundete das liberale deutsche Bürgertum seine kulturellen Anfänge. Dabei versuchte man auf der Suche nach den eigenen Wurzeln bewusst alles zu übergehen, was an Traditionen und Errungenschaften aus der Romania im Laufe der Jahrhunderte adaptiert worden war. Nördlich vom Limes sei der von äußeren Einflüssen kaum oder spät erreichte, ursprüngliche Kern der deutschen Kultur zu finden, ja Nordeuropa insgesamt schien in seinem Widerstand gegen das römische Imperium Elemente der eigenen Vorzeit bewahrt zu haben. Als Träger dieser Kultur und damit zugleich als Vorläufer der Deutschen wurden die Germanen bestimmt. Einer jener Forscher, die hier ihren Schwerpunkt setzten, war Jacob Grimm. Von der deutschen Philologie gern als einer ihrer Gründungsväter beansprucht, ging es Grimm selbst doch neben der Sprache immer auch um Recht und Religion der Germanen, eben um eine ‚germanische Kulturgeschichte‘. Dies spiegelt sich in seinen Werken, der Deutschen Grammatik, den Deutschen Rechtsaltertümern, der Deutschen Mythologie und der gemeinsam mit seinem Bruder Wilhelm herausgegebenen Sammlung der Deutschen Sagen (1816 und 1818). Dass Grimm mit der kulturgeschichtlichen Zielsetzung seiner Forschungen nicht allein stand, bezeugen die Titel fachwissenschaftlicher Periodika, die seit der Mitte des 19. Jahrhunderts aufkamen, etwa die 1841 begründete Zeitschrift für deutsches Altertum und deutsche Literatur oder die erste Ausgabe des zu Beginn des 20. Jahrhunderts erschienenen Reallexikons für Germanische Altertumskunde. Erkennbar wird diese durch eine Reihe von Philologen betriebene Suche nach den Anfängen der ‚eigenen‘, der ‚germanischen‘ Kultur auch in der Namengebung des Faches: Germanistik. Freilich boten die deutschen Texte für eine Kulturgeschichte der eigenen Vorzeit viel zu wenig Material, und so wurde auch die altnordische Götter- und Heldendichtung als Quelle herangezogen. Dies erklärt, warum die Begründung der Germanistik als Wissenschaft in Deutschland die Gründung des Faches Nordistik nach sich zog (Engster 1986).

Nur von diesem Punkt aus aber, von der Bedeutung der germanischen Heldendichtung für die Suche nach einer kulturellen Identität, die die fehlende nationale Einheit gewissermaßen ersetzen sollte, nur von dieser Situation in der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts her ist die weitere Geschichte des Heldenbegriffs erklärbar. Aus den Kriegern der Heldendichtung wurden unversehens Leitbilder für die Jugend. Diese Entwicklung kann hier nicht in allen Einzelheiten nachgezeichnet werden; einige wenige Beispiele sollen genügen: August Wilhelm Schlegel empfahl im Jahr 1812 das Nibelungenlied als „Hauptbuch bey der Erziehung der deutschen Jugend“ (zit. nach: Heinzle / Waldschmidt 1991: 142). Gustav Roethe, 1859 geborener Mediävist, erklärte zur Relevanz der älteren Texte: „Von deutschen Heldenliedern her rauschen uns diese Töne herüber […]; es ist die Treue, die in Deutschland ebenso den größten Gedanken, dem Kaisertum, der Reformation zum Siege verholfen hat“ (Roethe 1927: 5). Andreas Heusler, 1865 geborener Mediävist, stellte seinem 1905 publizierten Urväterhort, einer mit Illustrationen versehenen Sammlung von Texten der germanischen Heldensage, folgende Ausführungen voran:

„Das Entscheidende ist die Heldengesinnung. Unsere Heroensage ist eine große Verherrlichung der altgermanischen Ehre. Diese heidnische Ehre befiehlt dem Manne, sich nichts bieten zu lassen, kein Recht preiszugeben, seinen Ruhm unvermindert ins Grab zu nehmen; in unbeugsamem Trotze in den Tod zu gehen, ein Lachen auf den Lippen; sie macht ihm zur obersten Pflicht die Rache für die eigene Kränkung und für den Tod des Angehörigen; sie gebietet dem Gefolgsmanne, mit freudigem Stolze für den Herrn zu sterben. […] Urväterhort mögen diese Sagen mit Recht heißen: den Alten haben sie ihr Kriegerleben verklärt; dem Nachkommen sind sie das Vermächtnis, woraus ihm die Stimme der Vorzeit vernehmlich entspringt.“ (Heusler / Koch 1905: 5)

Bei Heusler wird, wie bei Schlegel und Roethe, die Gegenwart auf eine ‚heroische‘ Tradition verpflichtet, aus der Werte wie Ehre, Treue und Todesbereitschaft abzuleiten seien. Die Textausgaben von Heldendichtungen und Heldensagen, die der Grimmschen im 19. Jahrhundert folgten, sind bislang noch nicht systematisch zusammengestellt und gedeutet.2 Reihentitel von Büchern mit Heldensagen wie Jugend- und Hausbibliothek oder Leitfaden für den ersten Geschichtsunterricht an höheren Mädchenschulen zeigen aber an, dass Heldensagen in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts jenen von Schlegel geforderten festen Platz in der Jugenderziehung erlangt hatten.

Die in der Öffentlichkeit, aber auch in Teilen der Fachwissenschaft betriebene Engführung der mittelalterlichen Literatur auf die Heldendichtung und den Heldenbegriff war von Anfang an ideologisch, „die Moderne [band] den Heldenbegriff fest in das Projekt der Nationsbildung ein“ (Frevert 2011: 804). Dieser ‚treue‘ und ‚todesbereite‘ Held wurde in dem Moment instrumentalisiert, als die kriegerischen Auseinandersetzungen des 19. Jahrhunderts anstanden. Der ‚neue‘ Held in der Nachfolge der heldenepischen Krieger sollte nun der Soldat sein, der sich für die Nation opfert. Auch hier haben Germanisten argumentativ mitgeholfen. Wilhelm Scherer entwirft als Grundhaltung der Germanen bzw. Deutschen im Jahr 1871 Folgendes:

„Die Frage nach dem Lebensglück des Einzelnen tritt weit zurück. Der Soldat, der auf dem Schlachtfelde mit dem Tode kämpft, jubelt mit dem letzten Athemzug den siegenden Cameraden ein Hurrah zu.“ (zit. nach: Engster 1986: 46)

Schon nach dem Ersten Weltkrieg wurden Soldatenfriedhöfe als ‚Heldenhaine‘ bezeichnet, und wir alle kennen jene Gedenksteine, die in den einzelnen Gemeinden an die Gefallenen des Ersten und dann auch des Zweiten Weltkrieges erinnern: Sie sind regelmäßig überschrieben mit der Widmung: „Unseren Helden“. Mit dem Begriff der Helden werden hier alle gefasst, die für die Nation gefallen sind. Wenn wir also diesen Heldenbegriff des 19. und 20. Jahrhunderts an eine Wertidee binden wollten, dann wäre dies die Idee, dass ein Held für die Nation handelt, sie verteidigt und dabei den Tod in Kauf nimmt.

Obwohl der Erste Weltkrieg zahllose Tote gefordert und zahllose Invaliden (vgl. Kienitz 2008) hervorgebracht hatte, konnten die Nationalsozialisten an diesen instrumentalisierten Heldenbegriff noch einmal anknüpfen. Schon ein Jahr nach der sogenannten Machtergreifung, also im Jahr 1934, bestimmte die NS-Regierung auf Anregung des Bundes für Kriegsgräberfürsorge, dass der Volkstrauertag, der an die Gefallenen des Ersten Weltkrieges erinnern sollte, in Heldengedenktag umbenannt wurde. Dieses Verständnis spiegelt sich oftmals auch in Todesanzeigen oder in jenen Briefen, in denen die Wehrmacht den Angehörigen den Tod eines Familienmitglieds bekannt gab. Ein auf der Homepage des Deutschen Historischen Museums zugängliches Plakat (DHM 1987/260 http://www.dhm.de/ausstellungen/lebensstationen/2_167.htm, Zugriff am 03.01.2014) aus dem Jahr 1940 ruft zu Spenden für die Pflege der Kriegsgräber auf: „Ehret die Heldengräber“ heißt es in der Aufschrift. „Der scharfkantige Kopf eines Soldaten der Wehrmacht, der hinter Stahlhelmen und weißen Kreuzen sichtbar wird, gibt der Darstellung eine düstere, zugleich heroische Ausstrahlung.“ Der Einband des Buches Helden streiten, Götter ringen aus dem Jahr 1937 zeigt auf dem Titelblatt den Kopf eines Helden, freilich ist seine Darstellung deutlich an die Ikonographie des Soldaten angelehnt. Joseph Campbell bezeichnet solche nationalen Helden in seinem Schlusswort als „Heilige eines Antikultus“, die der Propaganda und Selbstverherrlichung von Partikularinteressen dienen (Campbell 2011: 372).

Zweifelsohne hängen unsere Vorbehalte gegenüber dem Heldenbegriff mit dieser Geschichte zusammen, an der sich aus germanistischer Sicht nichts beschönigen lässt. Das heißt nicht, dass die Fachwissenschaft die Voraussetzungen und die Leitbegriffe dieser (noch einmal: zum Teil von ihr selbst verantworteten) Reduktion ihrer Texte auf ein ‚nationales Narrativ‘ (zum Begriff vgl. Müller-Funk 2008) nicht längst einer grundlegenden Kritik unterzogen hätte. Vor allem Klaus von See ist der Ermahnung nicht müde geworden, dass sich die Helden der Vorzeit nur sehr bedingt für die Wertidee der Nation vereinnahmen lassen. Weder sind sie (etwa im Nibelungenlied) ‚treu‘, noch sind sie (als Goten oder Burgunden) mehrheitlich als ‚Vorfahren‘ der Deutschen zu betrachten, noch beugen sich die Protagonisten der Heldendichtung einem numinosen Schicksal. Beowulf, Siegfried oder Högni kämpfen im Gegenteil dagegen an (von See 1991).

2.3 Joseph Campbell „Der Heros in tausend Gestalten“

Wir fokussieren in unserem Band weder allein Helden der Heldendichtung, noch möchten wir den Begriff so weit verallgemeinert sehen, wie dies oftmals in der Textanalyse geschieht, nämlich als Bezeichnung für eine Hauptfigur. Vielmehr schließen wir mit unserem Heldenbegriff an Joseph Campbells berühmte Studie zum Heros in tausend Gestalten an. Campbell entwirft darin einen anthropologischen Heldentypus, für dessen Weg sich unabhängig von einzelnen Epochen oder Sprachen in Mythen, Märchen, Legenden oder Sagen eine ‚universale‘ Struktur nachzeichnen lässt: „Der Held verläßt die Welt des gemeinsamen Tages und sucht einen Bereich übernatürlicher Wunder auf, besteht dort fabelartige Mächte und erringt einen entscheidenden Sieg, dann kehrt er mit der Kraft, seine Mitmenschen mit Segnungen zu versehen, von seiner geheimniserfüllten Fahrt zurück“ (Campbell 2011: 42). Die Grundstruktur dieser Narrative vom Helden ist demnach die Reise, und die mythische Abenteuerfahrt des Helden folgt, in vergrößertem Maßstab, der Formel, wie die Abfolge der rites de passage sie vorstellt: „Trennung – Initiation – Rückkehr, einer Formel, die der einheitliche Kern des Monomythos genannt werden kann“ (Campbell 2011: 42).

Dieses grobe Erzählschema lässt sich durch die folgenden Stationen weiter ausdifferenzieren: Im Abschnitt des Aufbruchs begegnen wir zunächst der Schilderung der Alltagswelt, in der der spätere Held seinen Ort hat. Er erhält den Ruf des Abenteuers, dem er sich erst einmal verweigert, ehe er dann mit übernatürlicher Hilfe die erste Schwelle überschreitet. Im folgenden Abschnitt, der Initiation, hat der Held zunächst eine Folge von Prüfungen zu bestehen, zum Teil allein, zum Teil mit der Hilfe von Gefährten. Auf dem Höhepunkt dieser Herausforderungen wird der Held mit einer Gefahr konfrontiert, die er oftmals nur mit Hilfs- und Schutzmitteln überleben kann, welche er auf der Reise in eine Anderwelt erworben hat. Wenn er diese größte Gefahr gemeistert hat, bekommt der Held nicht selten ein großes Geschenk (Segen), das die Möglichkeit zur Selbsterkenntnis eröffnen kann. Der Held trifft dann die Entscheidung, ob er in die gewöhnliche Welt zurückkehrt. Wenn dem Heros die Rückkehr gelingt, kann er die neue Gabe zum Wohle der Gemeinschaft nutzen.

Dieses Erzählschema ist universell, wenngleich verschiedene narrative Genres unterschiedlich eng daran gebunden sind. Kaum eine mythische Erzählung enthält alle skizzierten Stationen – manche enthalten viele, manche nur wenige; manche Mythen mögen sich nur mit einer der Stationen beschäftigen, andere die Stationen in einer geänderten Reihenfolge präsentieren.

Wir stellen vor dem Hintergrund dieses Verständnisses vom Helden sechs Erzählungen von mittelalterlichen Helden vor und diskutieren ihre ästhetischen, existenziellen und ethischen Prämissen. Diese Geschichten werden nicht erzählt, „um Probleme zu lösen, sondern um eine Problematik auszufalten und sie in ihrer ganzen Spannung zu Bewußtsein zu bringen. Und in dieser Offenheit vermag das Erzählen selbst zu einer genuinen Form von Erfahrung zu werden“ (Haug 1999: 16).

Die zum Teil von ideologischen Vereinnahmungen geprägte Rezeptionsgeschichte wird in den jeweiligen Kapiteln gegebenenfalls einleitend noch einmal aufgegriffen, die Lektüre im Unterricht aber kann sich auf die Beschäftigung mit einer diachronen Vielfalt von jeweils auf andere Weise schwierigen Helden richten. Deren Fremdheit mag zunächst einen gewissen Reiz ausmachen. Daneben aber ist nicht zu übersehen, dass auch mittelalterliche Heldengeschichten in spezifischer Weise Geschichten von dieser Welt sind. Die Einsamkeit oder gar Verhöhnung des Sterbenden, die ohnmächtige Klage der Opfer, das Mitleid oder die Wut des Helden – all das ist nicht nur eine Sache von Helden, sondern als grundlegendes Themenspektrum von Welt und Gesellschaft präsent.

2.4 Die Heldenauswahl dieses Bandes

In unserem Band stellen wir keine als makellose Vorbilder präsentierbaren Musterhelden vor. Vielmehr hat jeder der ausgewählten Helden seine spezifische Geschichte, die ihn grundsätzlich oder mindestens vorübergehend als wenig vorbildlich erscheinen lässt. Nicht immer nehmen solche Helden Rücksicht auf gesellschaftliche Werte, ganz im Gegenteil: Die Widerständigkeit der Helden kann ihre Integration in die Gesellschaft bisweilen scheitern lassen.

Das Nachdenken über diese schillernden Heldenfiguren bietet Schülerinnen und Schülern die Chance, Erfahrungen mit positiver oder negativer Selbstprofilierung, Erlebnisse mit dem eigenen ‚Stand‘ in der sozialen Gruppe gedanklich zu bearbeiten, ohne sie direkt zu thematisieren. Das gemeinsame Gespräch über Literatur und die in ihr verhandelten Heldenkonzepte begreifen wir als besonders geeignete Möglichkeit für Schüler und Schülerinnen, Erfahrungen von ‚Ich‘ und ‚Wir‘ im geschützten ‚Als-ob-Raum‘ fiktionaler Literatur zu thematisieren und Konzepte von Individualität zu reflektieren, ohne dass bei diesem biografisch sensiblen Thema persönliche Erlebnisse oder eigene Entwürfe preisgegeben werden müssten. Wir erwarten zudem, dass eine besondere Faszination für Jugendliche darin liegt, dass sie eigene Fragen nach dem Verhältnis von Ich und Welt in einer unvertrauten, aber doch zugänglichen Kultur und Sprache erkennen.

Jede der von uns ausgewählten mittelalterlichen Heldengeschichten zeigt in unterschiedlicher Akzentuierung einen ‚schwierigen‘ Helden, dessen Taten und Erfahrungen ihn herausheben, vereinzeln, ihn sowohl in positiver als auch in negativer Hinsicht zu einem Besonderen machen. Der Held wird in seinen verschiedenen Ausprägungen grundsätzlich in der Polarität zwischen Exemplarität einerseits und nicht einholbarer Einzigartigkeit andererseits für didaktische Reflexionen erschlossen und das Themenfeld in seiner Vernetzung mit überzeitlichen sozialen Grundthemen dargestellt, wie z.B. mit Fragen nach der Selbstformung bzw. Identitätsfindung, nach dem Verhältnis von Ich und Gruppe oder nach den Begründungsmöglichkeiten von ethischen Ansprüchen.

Aus der mittelhochdeutschen epischen Literatur haben wir folgende Helden ausgesucht:3 Sîfrit4 (Nibelungenlied, um 1210), Roland (Rolandslied des Pfaffen Konrad, um 1175), Willehalm (Willehalm des Wolfram von Eschenbach, um 1215), Tristan (Tristan des Gottfried von Straßburg, um 1210), Herzog Ernst (gleichnamiger Roman eines unbekannten Autors in der Fassung B, um 1210) und Iwein (Iwein des Hartmann von Aue, um 1205).

Mit Ausnahme des Rolandslieds entstammen alle gewählten Werke der Blütezeit der höfischen Literatur in Deutschland, die sowohl durch hohe sprachliche und erzählerische Qualität als auch durch die Erschließung komplexer Themen auf anspruchsvollem Niveau gekennzeichnet ist. Die Konzentration auf den Protagonisten der jeweiligen Werke (im Falle des Nibelungenliedes: auf eine der zentralen Gestalten) ermöglicht eine genaue Profilierung des jeweiligen Heldentyps vor dem Hintergrund der oben skizzierten Überlegungen zur Semantik des Heldenbegriffs und zu den universalen Strukturen des Heldenschemas. Zugleich bietet die Figur des Protagonisten auch die Möglichkeit des Zugriffs auf das in den Epen bzw. Romanen grundsätzlich verhandelte Thema, nämlich das Verhältnis zwischen dem mit individuierenden Zügen ausgestatteten Einzelnen und der Gesellschaft.

Drei Aspekte sind dabei von zentraler Bedeutung: Die Einsamkeit des Helden, sein Geltungsbedürfnis und sein Hang zur Selbstüberschätzung. Sie sind bei jedem unserer Helden anders akzentuiert und ziehen unterschiedliche Konsequenzen nach sich. Dabei ergeben sich Erkenntnisse aus einem Vergleich der Protagonisten der unterschiedlichen Werke: Sîfrit stellt seine unter anderem am Hortbesitz erkennbare Überlegenheit unbekümmert-übermütig zur Schau und glaubt nicht an eine ihm daraus erwachsende Bedrohung, obwohl er eine verwundbare Stelle hat. Herzog Ernsts außerordentliche, wenn auch im Gegensatz zu Sîfrit nicht übernatürliche Begabung und seine daraus resultierende steile Karriere bei Hofe ziehen Neid und eine Intrige nach sich, der er fast zum Opfer fällt. Im Gegensatz zu Sîfrit gelingt hier aber die Re-Integration in die Gesellschaft. Tristan wiederum zelebriert seine Exzellenz auf allen Gebieten, weil sie das Signum seiner Identität ist. Dafür nimmt er die Einsamkeit in Kauf, für die er im weiteren Verlauf der Geschichte mit Isolde eine kongeniale Gefährtin findet. Die Gefährtin, die Willehalm als Kriegsgefangener im Orient gefunden hat, bedingt seine Einsamkeit: Die auf den Namen Giburg getaufte orientalische Prinzessin, die ihren Ehemann verließ und mit Willehalm nach Frankreich floh, provoziert einen Krieg. Darin befinden sich Giburg und Willehalm in einer schmerzlichen Zwischenposition zwischen den christlichen Verwandten Willehalms und den orientalischen Giburgs, die sich auf beiden Seiten durch militärische Heldentaten auszeichnen und wechselseitig blutig niedermachen. Roland wiederum kann sich im Kampf gegen die Heiden auszeichnen, da sie ihm Glaubensfeinde und keine Verwandten sind. Durch sein fanatisches, rücksichtslos auf den Märtyrertod ausgerichtetes Verhalten verschuldet er allerdings den Tod aller seiner Leute. Der Leichtsinn und die Selbstüberschätzung ihres Anführers kostet auch die meisten der Gefährten von Herzog Ernst das Leben, jedoch erhält er eine zweite Chance, um zu zeigen, dass er verantwortungsbewusst handeln kann. Auch Iwein kann nach ichbezogenem, gedankenlosem Verhalten, das zu Identitätsverlust und der Einsamkeit des Wahnsinns führt, durch Hilfe von außen diese Krise überwinden und seinen verlorenen Status neu gewinnen und ausfüllen. Die Geschichte dieses letzten Helden wurde kürzlich von der Büchner-Preisträgerin Felicitas Hoppe mit dem Titel Iwein Löwenritter neu erzählt. Der Vergleich der mittelhochdeutschen Vorlage mit der aktuellen Adaptation eröffnet Ideen und Möglichkeiten für eine Behandlung des Stoffes in der Sekundarstufe 1.

2.5 Helden auf Mittelhochdeutsch

Im Umgang mit der von uns vorgestellten Literatur aus der Zeit um 1200 empfehlen wir grundsätzlich die Arbeit mit zweisprachigen Ausgaben, da auf diese Weise die Differenz zwischen der heutigen deutschen Sprache und dem Mittelhochdeutschen sofort augenfällig wird. Aller Erfahrung nach haben Schüler und Schülerinnen wenig Berührungsängste mit der älteren Sprachstufe. Regelmäßigkeiten im Sprachwandel wie die neuhochdeutsche Diphthongierung (mhd. î, iu, û > nhd. ei, ü, au; Merksatz mîn niuwez hûs > mein neues Haus) und die neuhochdeutsche Monophthongierung (mhd. ie, uo, üe > nhd. i, u, ü; Merksatz liebe guote brüeder > liebe gute Brüder) erkennen sie anhand von Beispielketten schnell und wenden sie an, um die Fremdheit des mittelhochdeutschen Textes zu reduzieren.5

399
573,60 ₽
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9783846341636
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