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Anna Milow

Von einer, die auszog, einen Büstenhalter zu stehlen

Erinnerungen eines Kindes

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Von einer, die auszog, einen Büstenhalter zu stehlen

Anna Milow

published by: epubli GmbH, Berlin

www.epubli.de

Copyright: © 2014 Anna Milow

All rights reserved

ISBN: 978-3-7375-1262-6

Umschlaggestaltung: Lektoratsservice Erik Kinting

www.buchlektorat.net — Lektorat.Kinting@gmx.de

Am Anfang …

… schien die Sonne durch das Blätterdach des alten Süßkirschbaumes. Der Wind bewegte die Blätter leise. Ich liebte dieses Rauschen und die Sekunden des totalen Glücks; die warme Luft und den Wind, der mir kühl das Gesicht streifte. Die Luft roch nach Frühling. Die Natur trug das Giftgrün des Mais und die Blüten um mich herum platzten auf. Mit geschlossenen Augen saß ich in der Hocke auf den Steinen des Eingangs zum Wintergarten und genoss das Leben. In diesen kostbaren Minuten war es mir egal, dass meine Lederhose mir immer ein wenig zu klein war und mein Hemd unter den Armen scheuerte. Dort, wo das Speckpölsterchen meiner kleinen Hand auf den Speck meines Armes traf, verlief eine Rille. Ich beobachtete eine kleine Spinne, die über meine Hand krabbelte und überlegte, wie groß diese Hand-Arm-Schlucht wohl für sie wirkte. Ich lauschte auf das Gebrumm der Hummeln in der weißen Rispenspiere, auf die leisen Töne eines kleinen Flugzeuges über mir und entfernte Stimmen, die aus den Kuppelfenstern vom Haus nebenan an mein Ohr drangen. Es war friedlich.

Dann hörte ich sie. Erst leise, bald immer lauter. Seine Schlüssel. Ich wusste, er trug sie gewöhnlich in seiner rechten Hand und klimperte mit ihnen. Langsam kamen die Schlüssel näher. Jäh war mein Frühlingsglück zu Ende. Mein Herzschlag wurde lauter – mit jedem Schritt, den die Schlüssel herankamen …

Der Geruch nach Diesel, alten Decken und Hund mischte sich mit dem abgestandenen Geruch in der Jagdhütte. Die Tür der Hütte stand sperrangelweit auf und es dauerte eine Weile, bis die Luft im Inneren nach Wald roch. Verstört und unendlich ohnmächtig hatte ich neben ihm gesessen.

Der Landrover war über die Waldwege geruckelt. Es könnte schön hier sein, war es durch meine Gedanken geblitzt. Ich hatte mich an der Schönheit und dem wunderbar holzigen Geruch des Waldes nicht erfreuen können, ich hatte mich auf meine Flucht konzentriert. Innerlich. Ich musste rasch machen, dass ich wegkam. Meine Seele in Sicherheit bringen. Schnell. Geh! Lauf! Mach, dass du wegkommst! Schau' dich nicht nach mir um, wir treffen uns wieder! Sie wollte mich nicht alleine lassen. Konzentration. Verzweifelt scheuchte ich sie weg.

Bald hätte er die Hütte erreicht. An der Oberfläche musste ich kommunikationsfähig bleiben. Er sprach zu mir. Meinen Körper könnte ich nicht retten. Diesmal wieder nicht, resignierte ich, und die unendliche Traurigkeit und Verzweiflung breitete sich wie dichter Nebel in mir aus. Ich war mit ihm allein. Die Hunde hatte er aus dem Auto gelassen. Jagdhunde. Sie liefen hinter dem Auto her. Die Hunde liebten diesen Dauerlauf. Bald würden sie uns wieder eingeholt haben. Ich hasste den Geruch ihres Fells. Er war überall. In der Hütte, an den Decken, auf dieser riesigen Couch. Diese furchtbare Couch!

Fatal, wie der Geruch die Erinnerung zitiert. So alltagsgrausam! Ich will, dass es vorbei ist! Je mehr ich es ausradieren will aus meiner Erinnerung, desto gnadenloser, deutlicher schiebt sie sich in den Vordergrund. Widerlich von ihr, der erbarmungslosen Erinnerung! Ich habe eine Wut! Auf mich und diese Ohnmacht, dieses Ausgeliefertsein!

Der Büstenhalter

Von der nahegelegenen Hügelkuppe betrachtet, wirkte unser Dorf wie aus dem Bilderbuch. Die Kirche mit dem Friedhof bildete die Mitte, daneben gab es den Dorfplatz, auf dem drei große Linden wuchsen und ein natürliches Dach für die Märkte dienstags und donnerstags bildeten. Um den Markplatz herum waren, wie bei einer Modelleisenbahn, Fachwerkhäuschen aufgereiht. Die Inneren nannten die Menschen im Dorf diese schwarz-weißen, uralten Häuschen. Verwinkelte Gassen und enge Kopfsteinpflasterstraßen wurden nach und nach zu einer Fußgängerzone. Hier befanden sich auch die wichtigen Läden und Institutionen. Es gab eine Apotheke, einen Arzt, eine Grundschule, einen Schuster, der auch Schuhe verkaufte, einen Lebensmittelladen und einen Klimbim-Laden, in dem man alles kaufen konnte, was man brauchte, es aber im Lebensmittelladen nicht bekam.

In einem äußeren Kreis um die Dorfmitte lagen ausgedehnte Wiesen, manchmal mit Bebauung. Auf einer dieser Wiesen, an der Hauptverkehrsstraße, stand auch unser Haus. Klein, schwarz-weiß und schief. Genau gegenüber diesem kleinen Häuschen stand der Friseurladen meines Großvaters und direkt daneben das Haus meiner Tante Sophie. Dort gab es auch einen Bäcker, eine Metzgerei, eine Bank und eine Post. Und dann war da am Ortsausgang noch Gertruds Laden. Sie führte alles für die moderne Frau: Wolle, Nähgarn, Pullover, Unterhemden und Unterhosen.

Selbstverständlich gab es im Dorf auch Kneipen. In der direkt an der Kirche trafen sich die Männer nach dem Sonntagsgottesdienst zum Frühschoppen. Einige gingen auch direkt dorthin und nahmen nicht erst den Umweg über die Kirche. Ab ein Uhr mittags wurden die Kinder des Dorfes geschickt, die Väter und Großväter zum Mittagessen zu holen. Murrend und knurrend und meistens ziemlich schwankend kamen sie nach Hause, um dann den Sonntagnachmittag laut schnarchend auf der Couch zu verbringen. Kurz vor dem Abendessen standen sie wieder auf, um sich zu wundern, wie schnell doch die Sonntage immer vergingen. „Wenn man mal frei hat, dann ist es schon vorbei! Furchtbar!“, bemitleidete sich mein Großvater dann.

Am kleinen Ölbach, der durch das Dörfchen plätscherte, stand die Kneipe, in der sich genau dieselben Männer donnerstags abends zum Kegeln trafen. Die meisten von ihnen mussten sich vor dem Kegeln umziehen, so wollten es ihre Frauen und Töchter. Es war Frauensache, den Männern die Kleidung herauszulegen. Es sah fast so aus, als gäbe es einen kleinen Wettbewerb, wer seinen Mann oder Vater am besten anzog, den feinsten Zwirn kaufte.

Mein Großvater versuchte jeden Donnerstag, sich heimlich, still und leise an meiner Mutter vorbeizuschleichen.

„Saach dinger Motter, ich wör ald fott!“, forderte er mich leise konspirativ auf und öffnete langsam und vorsichtig die Haustür. Das Knarren dieser schweren Tür hörte man durch das ganze Haus.

„Warte, Vati!“, erschütterte dann die Stimme meiner Mutter unser Haus und das der Nachbarn gleich mit. „Warte – was hast du an?!?“

„Hach“, zog mein Großvater die Luft zwischen den Zähnen ein, „verdammich, se hat et widder gemerkt!“

Grimmig schnaufend quälte er sich mit seinem Lungenemphysem wieder die Treppe hoch, um sich dann unter lautem Gemeckere meiner Mutter umziehen zu lassen. Niemals hätte er sich selbst umgezogen. Das war ihm viel zu lästig. Während Sie ihm die Hose über die Schuhe zog, schimpfte sie ihn aus: „Was sollen denn die Leute denken, wie ich dich laufen lasse? Mensch, Vati! Jedes Mal dasselbe mit dir! Wie siehst du aus! Das Hemd musst du auch ausziehen! Gut, dass deine Frau das nicht mehr erlebt! Wie du jetzt immer herumlaufen würdest, wenn ich mich nicht um alles kümmern würde!“

Mein Großvater machte dann jedes Mal ein Gesicht, als wollte er in Tränen ausbrechen. „Nä, wat bin ich für ene ärme Düvel. Wat werde ich hier drangsaliert und terrorisiert!“, bemitleidete er sich und hielt seine Arme weit von sich, als wolle er gleich losfliegen, damit meine Mutter ihm das Oberhemd ausziehen konnte.

Später dann, als die Männer alle frisch gekleidet in der Kneipe versammelt waren, hörte man ab und zu ihr gut Holz, gut Holz, gut Holz durch das Dorf dröhnen, wenn alle neune gefallen waren.

„Wieder 'ne Runde!“, seufzte meine Tante Sophie dann. „Wie viel woren et denn jetz' ald?“

„Der fährt bestimmt noch“, knurrte meine Mutter dann.

„Jo, laufen wird er auch nicht mehr können“, nickte Tante Sophie dann sorgenvoll beipflichtend.

Mein Opa, das wusste ich, sollte nicht rauchen und tat es trotzdem. Er rauchte auch eher unheimlich als heimlich. Den hier und da erhobenen Finger, vor allem den seines Arztes, pflegte er mit dem Spruch zu kontern: „Alkohol und Nikotin, rafft die halbe Menschheit hin. Aber ohne Schnaps und Rauch, stirbt die andere Hälfte auch.“

Das konnte ihm nicht einmal sein Arzt widerlegen und prophezeite ihm drohend sein frühes Ende. Irgendwann war es dann soweit. Er ist an seinem Lungenemphysem gestorben. Allerdings lange nach dem Arzt.

„Siehste!“, pflegte mein Opa zu sagen. „Der hat nicht geraucht und liegt jetzt kerngesund im Sarg. Da rauch' ich doch lieber!“ Dass der Herr Professor auch nicht der Gesundeste war und lange mit einem halben Magen lebte, unterschlug er dabei.

Mein Opa rauchte nicht nur. Ich glaube er hat, egal zu welcher Tageszeit, selten seinen Kaffee ohne Cognac getrunken.

In unserem Dörfchen gab es noch eine Gaststätte mit einem großen Saal für die Feierlichkeiten. Dort traf man sich: die Kolpingfamilie, der VdK, der Mütterverein, die Frauen, die Kinder. Man feierte Hochzeiten, Sterbefälle, Karneval, einfach alles, was so anfiel. Feiern war, egal aus welchem Anlass, immer eine sehr wichtige Angelegenheit. Im Laufe der 60er trauten sich die Menschen langsam, ausgelassener zu werden, dabei half ihnen vor allem der Alkohol, so schien es mir manches Mal. Bald gab es dort auch eine riesige Kinoleinwand. „Wir sind modern, die alten Zeiten sind vorbei“, pflegten sie hier und da einzuflechten. Sie wollten Spaß, statt Schinderei. Was erleben. Spannendes und Großes. Wie zum Beispiel das Schützenfest. Oder Karneval. Und im Kino nicht mehr nur Das Erbe von Björndal sehen, sondern Filme von Oswald Kolle oder mit Hildegard Knef.

Es war Ende der 60er, ich muss so vier, fünf Jahre alt gewesen sein. Die Räume in unserem Fachwerkhaus waren winzig, die Decken niedrig. Ich weiß noch, dass es in diesem kleinen Häuschen, wie es die ganze Familie nannte, immer eher dunkel war – wohl wegen der verhältnismäßig kleinen Fenster. Eine sehr steile Holztreppe direkt neben der Haustür führte auf die erste Etage. Dort oben befanden sich die Schlafzimmer und ein Badezimmer, so auch das Kinderzimmer von meiner Schwester und mir.

Im Wintergarten standen Gummibäume – ihre langen Girlandenzweige waren an den Wänden entlang drapiert, die gezackten Blätter baumelten von der Decke herab. In meiner Fantasie waren es Gefangene, die an den langen Girlanden aufgereiht schlotterten. Traurig und aufgehängt. Wenn die Sonne in die Fenster schien, tanzten die Staubteilchen in der Luft. Auf den Fensterbänken standen Töpfe mit Sansevierias. Einer neben dem anderen. Trotzig reckten sie ihre langweiligen, steifen, grünen Blätter in die Höhe. Da die Pflanzen hoch wuchsen, war das Gewicht nicht gleichmäßig verteilt. Sie wurden kopflastig und fielen schon um, wenn man sie nur leicht streifte. Ich erinnere mich genau an die schallende Ohrfeige, die mir mein Großvater verpasste, als ich im Wintergarten eine dieser Sansevierias umstieß. Offensichtlich schien es keine anderen Zimmerblumen zu geben, als diese hässlichen, lästigen, grünen Liliengewächse.

Die dunkel gepolsterten Möbel aus den 50ern waren irgendwie viereckig. Die Sofalehne war aus poliertem Holz und es tat weh, wenn man mit dem Kopf daran stieß. Es roch immer ein bisschen muffig, stickig und trostlos.

Am Eingang unseres Wohnzimmers war eine große, lose Bodenplatte eingelassen, die ein wenig klapperte, wenn man darüber ging. Ich glaube, darunter war der Öltank. Ich lief tagsüber öfters darüber. Wenn es zu laut klapperte, bekam ich einen Klaps auf den Po, als Merkhilfe, damit ich übte, leise zu gehen. So balancierte ich irgendwann nur noch auf Zehenspitzen über diese Platte, auch wenn niemand in der Nähe war.

Abends, wenn der Fernseher angemacht wurde, durfte ich dreimal die Mainzelmännchen ansehen, dann musste ich ins Bett. Es gab keine Widerrede. Die Werbeblöcke im ZDF wurden von den Mainzelmännchen unterbrochen. Ich war zwar noch sehr jung, aber durchaus in der Lage zu rechnen. So trickste ich ein wenig und fing mit dem nullten Mal an zu zählen. Dann konnte ich insgesamt viermal die Mainzelmännchen sehen. Irgendwann bemerkten meine Eltern den Betrug und es gab – wie so oft – Ärger. Mein Vater sprach eine sehr deutliche Sprache mit mir – mit anderen nicht so, fand ich, aber zu mir war er sehr streng.

Damals hatte niemand, am allerwenigsten meine Eltern, die Idee, Medienkonsum von Kindern fernzuhalten. Im Gegenteil, hier sollte ich etwas lernen. Ich schaute also in unserem Schwarz-Weiß-Fernseher kurz vor acht die Reklame. Mit Ausnahme der Mainzelmännchen ein doofes Fenster, fand ich. Auch langweilig. Bis zu jenem Abend.

Eine sorgfältig toupierte, lächelnde Frau rekelte sich eher hölzern als frivol im Fernsehfenster. Sie war nur bis zur Taille zu sehen und schwärmte in den höchsten Tönen von ihrem Büstenhalter. Dabei hielt sie sich selbst umschlungen und streichelte ihre Oberarme genüsslich.

Aha, dafür interessieren sich die Menschen also! Für Büstenhalter! , dachte ich. Ich weiß noch genau, wie egal mir das war und wie ich kaum fassen konnte, dass es irgendjemanden geben könnte, den das interessiert.

Plötzlich sprach die Dame mit dem Büstenhalter einen Satz, den ich seit dem nie mehr vergessen habe. Sie sah mich auffordernd an, hielt den Kopf ein wenig schief, lächelte, kreuzte die Hände über der Brust und versprach, als wäre sie von ihm berauscht: „In diesem Büstenhalter fühlen Sie sich zehn Jahre jünger!“

Ich war wie elektrisiert, mein ganzer Körper vibrierte. Ich verstehe! Das ist es also!, schloss ich messerscharf. Deshalb bringen sie es in einem so wichtigen Ding wie dem Fernsehen. Man fühlt sich zehn Jahre jünger!

Meine Gedanken überschlugen sich und ich wurde ganz kribbelig. Die Dame mit dem Büstenhalter wiederholte es noch mehrere Male – eindringlich und leidenschaftlich. Wahrscheinlich, damit es auch jeder mitbekam. Zehn Jahre jünger! Ich war noch keine zehn Jahre alt. Wenn ich also nun diesen Büstenhalter anzöge, dann würde ich erfahren, wo ich war, als es mich auf dieser Welt noch gar nicht gab! Ich zitterte vor Aufregung. Was für eine Vorstellung! Kein Mensch hatte mir bis zu diesem Tage eine befriedigende Antwort geben können auf meine Fragen, wo ich vor meiner Geburt war, wo ich gewesen bin und wo die Seelen der Toten hingingen, die auf dem Friedhof lagen, den ich an der Hand meiner Tante Sophie immer besuchte, um die Gräber der Familie zu pflegen. Selbst meine Tante Sophie, die eigentlich meine Großtante war und von der ich glaubte, sie sei mit dem gesamten Wissen der Welt ausgestattet, konnte mir keine Antworten geben. Jetzt schimmerte Hoffnung durch diesen schweren undurchsichtigen Vorhang der Antwortlosigkeit. Wenn ich spüren und erleben dürfte, wo ich herkam, würde das sicher die meisten meiner Fragen beantworten. Was für eine Aussicht! Ich war unendlich gespannt.

Inzwischen waren die Mainzelmännchen bereits einige Male über den Bildschirm geflimmert, aber ich nahm nichts mehr war. Ich dachte nur noch an den Büstenhalter. Den musste ich haben! In jedem Fall! Und meine Gedanken kreisten darum, wie ich einen Erwachsenen dazu bewegen könnte, mir erstens zuzuhören und zweitens diesen Büstenhalter zu besorgen. Über meine physische Entwicklung wusste ich auf jeden Fall so viel, dass es noch einige Zeit dauern konnte, bis man mir den Büstenhalter aus rein praktischen Gründen gekauft hätte. So lange konnte ich nicht warten.

In meiner Euphorie über die mögliche Zeitreise machte ich einen großen Fehler. Ich zog meinen Vater ins Vertrauen. Ich weiß noch genau, wie ich vor ihm stand, um ihm zu erklären, dass und warum ich diesen besonderen Büstenhalter gerne, unbedingt und auf jeden Fall haben musste. Ich war ein wenig besorgt, dass er denken könnte, es könne irgendein Büstenhalter sein, den ich gerne hätte. Ich wusste, meine Mutter hatte genug davon. Aber ich wollte nur diesen einen aus der Fernsehwerbung!

Verständnislos blickte mein Vater auf mich herunter und ich bin mir sicher, er hielt es wohl für eine entwicklungspsychologische Irritation seiner Tochter. Er rang um Erklärungen und wirkte genervt, als ich nicht locker ließ. Das war er von mir nicht gewohnt. In der Regel schüchterte er mich bereits beim ersten strengen Blick ein. Ich spürte: Ihn weiter um den Büstenhalter anzubetteln, war Zeitverschwendung.

Damit hatte ich eine große Chance vertan. Ich hätte es besser vorbereiten müssen, einen geeigneteren Zeitpunkt wählen sollen. So ein Mist! Was sollte ich jetzt nur tun? Hätte ich etwas Geld besessen, wäre ich losgezogen, den Büstenhalter zu kaufen. Ich musste mich jemandem anvertrauen, der Geld hatte, viel Geld, und mich verstand. Wer konnte das sein? Mit einem Herz voller Verzweiflung ließ ich mich ins Bett abkommandieren. Nur schlafen konnte ich nicht.

Für mich waren die Erwachsenen eine Art verschworene Gemeinschaft, die die wichtigen Dinge des Lebens für sich behielten und sich im Beisein von Kindern über Metaphern und Augenzwinkern verständigten. Mit Metaphorik und Gleichnissen kannte ich mich aus. Ich war ein großer Fan der Evangelien, in welchen es hieß: Mit dem Himmelreich ist es wie mit diesem und jenem. Das Evangelium Matthäus 25,14-30 und Lukas 19,12-27 faszinierte mich besonders. Es handelt von dem Mann, der auf Reisen ging und seinen Dienern Talente überließ mit der Aufgabe, diese zu mehren. Damals, so erinnere ich mich, war ich schon fest entschlossen, meine Talente nicht in der Erde zu vergraben.

Ich hatte dieses verschwörerische Verhalten der Erwachsenen mehr als einmal beobachtet. Ich hatte gesehen, wie sie sich vielsagend ansahen, wahrgenommen, wie sie plötzlich aufhörten zu sprechen, oder so taten, als wäre dies und das belanglos, wenn ich den Raum betrat. Es musste ungeheuer bedeutend sein, was sie über die Geheimnisse des Lebens wussten. Wenn ich in diese Geheimnisse irgendwann eingeweiht würde, raubten sie mir den Atem, da war ich mir sicher. Vielleicht würde mein Herz sogar für einen Moment stillstehen. Aber mit einem so kleinen Mädchen wie mir sprach eben niemand. Auch der Geschwätzigste unter ihnen nicht. Man sprach sogar in meiner Gegenwart meistens über mich. Oder eben zu mir. Das waren dann in der Regel Anweisungen. Man würde mir nichts, gar nichts erzählen!, dachte ich resigniert und haderte mit meiner gesellschaftlichen Stellung, meinem Alter und meinem Dasein als Kind. Obwohl ich damals schon ganz sicher wusste: So wie die Großen will ich nicht werden. So nicht! Ich werde ein anderer Erwachsener. Ein lieber Erwachsener, ein zugewandter Erwachsener. Und nicht so elend langweilig. So nervig.

Ich könnte an dieser Stelle noch berichten, was ich alles unternommen habe, um die heiß ersehnten Antworten auf alle meine Fragen zu bekommen. Ich lernte zum Beispiel sehr früh lesen und las alles, was ich in den Regalen meiner Eltern und meiner Großtante an Gedrucktem fand. Irgendwann konnte ich es einfach. Lesen. Die Buchstaben hatte ich mir in dem ein- oder anderen Heimatblättchen erarbeitet, Bilder und Buchstaben kombiniert. Gehört, was meine Großtante sagte oder vorlas. Nachgeschaut, wie es geschrieben war. Ich war fasziniert, dass Nichtlesen ab sofort nicht mehr möglich war. Das meiste, was ich in Büchern, in Zeitungen, auf Beipackzetteln und Gebrauchsanweisungen entzifferte, verstand ich noch nicht oder brachte es in einen völlig falschen Zusammenhang. Im Liboriusblatt, der Zeitung aus der Metzgerei, im Lukkulus und in der Kirchenzeitung las ich die Witze. In derFrau und Mutter gab es keine Witze. Daher hielt ich die Zeitung für ernst und langweilig. Eine Zeitung ohne Witze war keine gut gelaunte Zeitung. Warum lesen Erwachsene diese ernsten Zeitungen?, fragte ich mich. Wieso freuten sie sich eigentlich nicht den ganzen Tag, sie waren doch frei? Nur Kinder hielt man irgendwie in unsichtbaren Mauern gefangen.

An der Bibel, sie stand bei Tante Sophie in mehreren Ausgaben im Regal, faszinierten mich die Ziffern vor den Zeilen. Ich sah die Bibelexemplare ehrfürchtig an und dachte: Ja, wenn sie das Geschriebene nicht abgezählt hätten, würden sich sicher alle in diesem dicken Buch mit den dünnen Seiten und den langen, langen Texten mit den klitzekleinen Buchstaben verlieren oder gar einige Zeilen vergessen. Ob das je schon einmal ein schlauer Mensch ALLES gelesen hat?

Manchmal blieb ich bei den Versen des Alten Testamentes hängen und sah den erhobenen Finger wie ein Wasserzeichen durch die Zeilen schimmern. Unverständlich und sehr beunruhigend empfand ich im Neuen Testament das Evangelium nach Johannes. Mit jemandem darüber zu reden, getraute ich mich nicht. Sie hätten ja dann gemerkt, dass ich lesen konnte und dann wahrscheinlich die interessanteste Lektüre vor mir verschlossen oder versteckt. Das durfte auf keinen Fall geschehen, wurde doch meine Neugier auf das Lebendige und das, was die Welt im Innersten zusammenhält, immer größer, je mehr ich las.

Einmal war es nahe daran, dass mein Geheimnis aufgedeckt worden wäre. Tante Sophie und ich schnitten mit Wonne die Milchpunkte von den Milchtüten aus. Die schickten wir ein und bekamen wunderschöne Bildchen zu den verschiedensten Themen, wie Tieren, Pflanzen oder fremden Ländern. Die dazu gehörenden Sammelalben bestellte Tante Sophie gleich mit. Ich sehe uns beide im kleinen Esszimmer: Sie saß am Tisch, hatte ein Album vor sich liegen und ich stand schräg dahinter und schaute über ihre Schulter. Wir sortierten Bilder ein, blätterten immer wieder die Seiten um und sprachen darüber, was auf den Bildern zu sehen war, manchmal stundenlang. So hatten wir einmal neue Tierbilder einzukleben und ich las ihr wie sonst auch den Text auf den Bildern vor. Das kam ihr nicht seltsam vor, weil sie wohl dachte, ich würde die Tiere erkennen und benennen. Als ich aber nun auch exotische Exemplare, die mir eigentlich nicht bekannt sein konnten benannte, stutzte sie: „Sag' mal, kannst du das lesen?“ Ich hatte sie gefragt, was ein Gürteltier sei. Mir wurde ganz warm. Ich spürte, wie mir das Blut in den Kopf stieg. Gut, dass sie mein Gesicht in diesem Moment nicht gesehen hatte. Ich habe nichts darauf geantwortet und sie hat auch nicht mehr gefragt.

Ich kontrollierte in den darauf folgenden Tagen die Bücher in den Regalen und an den verschiedenen Plätzen. Offensichtlich war nichts weggeräumt worden. Also, falls sie eine Ahnung hatte, sagte sie nichts. Das tat sie oft: nichts sagen.

Wie auch immer – ich lag im Bett, ertrug das Geschnatter meiner kleinen Schwester und konnte keinen klaren Gedanken fassen. Sie war, Gott sei Dank, mit dem Schlafsack am Bett festgebunden. Wie meistens, hatte sie überhaupt keine Lust zu schlafen und war hellwach. Wenn ich ihr keine Antwort gab, wurde sie immer lauter und eindringlicher. So konnte ich mich nicht konzentrieren. Also gab ich ihr Antworten. Irgendwann war sie dann eingeschlafen und ich hatte die nötige Ruhe nachzudenken.

Endlich konnten meine Gedanken einen Faden zum heiß ersehnten Büstenhalter spinnen: Ich müsste zu Gertruds Laden, er lag etwa sechshundert Meter vom kleinen Häuschen entfernt. In diesen Laden wurde ich hin und wieder von den Damen meiner Familie mitgenommen, wenn diese sich dort mit Unterwäsche, neuen Pullovern oder Wolle versorgten. Ich liebte es Susanna, Sophies Tochter, meine Mutter oder Tante Sophie zu Gertrud zu begleiten. Gertrud war eine sehr freundliche Frau mittleren Alters, immer perfekt gekleidet und mit äußerst gepflegten Händen. Wenn sie auf die Leiter stieg und zum Beispiel einen Pullover aus den hohen Regalen holte, breitete sie ihn anschließend auf der Ladentheke aus und ihre Fingernägel klimperten dabei auf dem Glas der Thekenoberfläche. Ich war jedes Mal hingerissen. Dabei sah sie ihre Kunden fragend an. Dann wartete sie ab. Dann strich sie wieder über den Pullover, beschrieb, was man alles mit ihm machen könnte und wie er zu pflegen sei, sagte „Hmhm“ und aus welchem Material er wäre und klimperte dabei. Sie machte das einfach toll. Außerdem roch es in dem kleinen Ladengeschäft immer ganz wunderbar nach frischer Wäsche. Und Gertrud verkaufte auch Büstenhalter! Das wusste ich genau. Sie hatte bestimmt auch die neusten Modelle. Klar hatte sie diesen Büstenhalter aus der Reklame im Fernsehen! Die Frauen mussten doch Schlange danach stehen. 10 Jahre jünger! Ich war wie besessen darauf, diesen Büstenhalter anzuziehen, nur ein einziges Mal. Völlig egal, dass er mir nicht passte. Darüber machte ich mir gar keine Gedanken. Er wirkte bestimmt, auch wenn man ihn nur über die Schulter legte. Und selbst, wenn er mich nur fünf Jahre jünger gemacht hätte – es würde reichen, um zu entdecken, wo ich damals war. Und wer ich war. Und bei wem ich war – bevor meine Mutter mich geboren hatte. Ich spürte ein aufgeregtes Kribbeln im ganzen Körper. Konnte es etwas Interessanteres geben?

Ich musste warten, bis mich wieder jemand mit zu Gertrud nahm. Das wäre eine Strategie. Und dann? Es wäre Tante Sophie sicher unangenehm, wenn ich Gertrud einfach fragen würde, ob ich den Büstenhalter einmal anfassen dürfte. Das hätte ja möglicherweise gereicht. Was würde Tante Sophie dazu sagen? Sie wäre sehr peinlich berührt, würde es herunterspielen und ich wäre zwar bei Gertrud, aber den Büstenhalter würde ich nicht bekommen. Immerhin wusste ich, dass Büstenhalter etwas sehr Privates waren. Und nur etwas für Mädchen und Frauen, die bereits groß waren und einen Busen hatten. Ich war weder groß, noch hatte ich einen Busen. Heimlich, wenn ich mich unbeobachtet fühlte, betrachtete ich mich im Spiegel. Meine sehr helle, fast weiße Haut hatte dort, wo Frauen einen Busen hatten, nicht mehr als zarte, rosa Flecken. Ich erinnere mich, wie enttäuscht ich war: über meinen Körper und das langsame Wachstum.

Ich überlegte was Susanna, Sophies Tochter, wohl sagen würde. Sie würde sicher eher lachen und sich mit dem Zeigefinger an die Stirn tippen. „Du spinnst doch wohl“, sagte sie manchmal, wenn ich Fragen stellte, die ihr komisch vorkamen. Falls sie mich verstand, würde sie mir den Büstenhalter kaufen können? Eher nicht, verwarf ich die Überlegung wieder, sie war eine junge Lehrerin. Sie hatte bestimmt nicht genug Geld. Was meine Mutter sagen oder machen würde, dachte ich vorsichtshalber nicht. Sinnlos, darauf auch nur einen Gedanken zu verschwenden, sie würde mir nicht einmal zuhören.

Was gab es noch für Möglichkeiten? Gab es überhaupt irgendjemand, den ich ins Vertrauen ziehen konnte, der mich verstand und der dann auch noch mit mir zu Gertrud ging, um mir den Büstenhalter zu kaufen? Nein, außer Kopfschütteln der Erwachsenen war auf geradem Wege einfach nichts zu erreichen. Da war ich mir sicher. Leider. Ich durfte jetzt auf keinen Fall noch einen Fehler machen. So einen wie mit Papa. Nur war Geduld damals wie heute nicht meine Stärke. Ich wollte diesen Büstenhalter – sofort!

Offensichtlich hatte ich keine andere Wahl: Ich musste es bis auf die Straße schaffen und dann den Bürgersteig entlanglaufen. Bis dahin war es in jedem Fall machbar, überlegte ich. Aber dann? Wie sollte ich in das Geschäft kommen? Ohne Schlüssel? Ich musste in den Laden einbrechen! Bei dunkler Nacht. So wie es Einbrecher gewöhnlich tun. Sie schleichen nachts zum Einsatzort und schlagen Fenster ein. Das hatte mir mein Opa oft erzählt. Der sprach immer von Spitzbove – Spitzbuben. Dann stehlen sie sich heimlich hinein, klauen Gold und Silber, so beschrieb es mein Großvater, und gingen wieder. Einbrechen war meine einzige Chance. Was für ein Wahnsinn! Der Gedanke daran machte mich ganz elend. Das wäre das Aus für mich als gutes Christenkind. Jesus würde mich sicher fallen lassen. Oder? Nein, der würde mir wahrscheinlich wenigstens zuhören.

Jesus, das wusste ich, war nicht zuständig für Büstenhalter – aber er ist zu den Menschen gekommen, so hatte es der Pastor doziert. Dazu zählte ich doch auch, oder sind Kinder für Gott nicht oder noch nicht richtige Menschen? Sicher war ich mir da keineswegs. Ich wusste aber, er hatte gesagt: „Lasset die Kindlein zu mir kommen.“ Also würde ich zu ihm kommen dürfen. Und er würde verstehen, warum ich unbedingt und ganz dringend wissen musste, woher ich komme und wie es vor meiner Geburt war. Wer ich war. Wer ich jetzt bin und wer ich noch werden würde. Er würde mich nicht wegschicken. Da war ich mir absolut sicher. ER würde mich verstehen und mir zuhören. Wenn ich mit ihm reden könnte, bräuchte ich vielleicht den Büstenhalter gar nicht. Und? Wo blieb er jetzt? „Jetzt liege ich hier im Bett und bräuchte dringend Antworten!“ Ich lauschte in die Stille, hörte meine Schwester atmen, unten den Fernseher meiner Eltern, aber Jesus hörte ich nicht. Ich erinnere mich genau, dass mir damals klar war: Würde ich nur Geduld haben, könnte ich ihn bestimmt irgendwann hören. Aber irgendwann war mir einfach zu spät! Außerdem war mein Ansinnen, einen Büstenhalter zu nutzen, wahrscheinlich höchst unverschämt und viel zu fordernd. Du hast nichts zu wollen! Das war ein Standardsatz, wenn ich mit den Worten begann: „Ich will …“ In diesem Fall würde sich die Antwort wahrscheinlich ungefähr so anhören: „Die armen Negerlein in Afrika haben nicht einmal etwas zu essen und du, böses Mädchen, möchtest einen Büstenhalter!“ Wahrscheinlich würde Jesus sich eher um die armen Kinder in Afrika kümmern. Wenn ich nicht aufessen wollte, fragte mein Vater jedes Mal vorwurfsvoll: „Was sollen die armen Negerlein in Afrika sagen? Die haben nur ein Baströckchen an und müssen Bananen essen, sonst haben sie nichts.“ Ich hörte ihm jedes Mal grimmig zu, hielt schön meinen Mund und beneidete die kleinen Negerlein im Stillen. Nicht um die Baströckchen, aber darum, dass sie den ganzen Tag Bananen essen durften, statt des von mir so ungeliebten Fleisches. Und irgendwie auch, weil sie so herrlich weit weg waren. Irgendwo, frei von Erwachsenen und Zwängen sah ich sie am blauen Meer unter Palmen auf weißem Sand sitzen und Bananen essen. Aber: Wenn ich die Wahl gehabt hätte zwischen den leckersten Bananen und dem Büstenhalter, ich hätte mich immer für den Büstenhalter entschieden. Was war schon eine Banane gegen eine Zeitreise?