Читать книгу: «Mütter», страница 4

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„Die Abende waren wirklich schön“, sagte er.

„Ich fand’s echt super. Einfach so alle drei Herr der Ringe hintereinander oder Star Wars. Das kann ich mit niemandem sonst machen, weil die ganze Welt denkt, DVD-Abend bedeutet ficken.“

„Ja, das verstehe ich auch nicht.“

„Im besten Fall denken sie noch, es ist ein Date. Meine Güte! Ich bin eine Frau und ich will schön ausgeführt werden, Essen oder Kino, und dann bis zur Haustür gebracht werden und nichts passiert außer, dass der Typ sagt, er ruft mich die nächsten Tage an und dann warte ich und frage meine beste Freundin, wann er sich wohl melden wird. Das ist echt. Ich meine, eine Beziehung, die auf der Couch beginnt, kann ja wohl nichts sein. Da sitzt man hinterher noch häufig genug!“


Thor versuchte noch später im Kopf ihre Worte wie kleine, lästige Insekten abzuwehren, um die Gedanken an die schmerzvolle Vergangenheit loszuwerden. Als er schließlich am Abend nach Hause kam, fand er eine Nachricht von seiner Mutter vor, in der stand, dass sie gegen zehn Uhr wieder zuhause sei. Er ließ sich müde auf sein Bett fallen und war insgesamt zufrieden mit seinem Tag. Der Bilderrahmen zeigte wieder das eigentümliche Bild des Ritters, der ihm so ähnlich sah. Plötzlich fiel es ihm auf. Heute hatte er die Dinge selbst in die Hand genommen, alle hatten auf ihn gehört und alles hatte funktioniert. Er war tatsächlich wie der Feldherr auf dem Foto gewesen.

Da sprang er vom Bett auf, zog die Speicherkarte aus dem Rahmen, um zu überprüfen, ob sich das Bild wirklich auf der Karte befand. Er konnte es nicht finden. So schob er die Karte wieder in den Rahmen und wartete. Wie groß war sein Erstaunen, als zwar nicht das Bild des Kriegers auf dem Pferd erschien, stattdessen aber ein anderes, auf dem derselbe Mann von einem König zum Ritter geschlagen wurde. Es musste eine ehrenvolle Zeremonie gewesen sein. Der Ausdruck im Gesicht des Königs zeigte Stolz und Hochachtung; der des Mannes Respekt und Demut – so, wie man nur aussehen kann, wenn man weiß, dass man eine Auszeichnung wirklich verdient hat.

Und wieder war jenes Gesicht zweifellos sein eigenes. Thor entfernte den Stick aus dem Rahmen und durchsuchte ihn wiederum von vorne bis hinten, von oben bis unten. Dann versuchte er, im Internet Bilder von sich aufbäumenden Pferden oder Ritterzeremonien zu finden. Vielleicht hatte irgendjemand sein Gesicht in so ein Bild montiert und es dann auf seinen Stick geladen, um ihm einen Streich zu spielen. Er fand nichts. Immer wieder lud er die Bilder auf den Rahmen und immer wieder erschien das Bild der Zeremonie. Schließlich stellte er den Rahmen auf seinen Nachttisch, um das Bild zu betrachten, und schlief irgendwann spät nachts endlich ein.


Am nächsten Tag wurde er zu seinem Abteilungsleiter ins Büro gerufen. Thor verließ nervös seinen Arbeitsplatz, befürchtete er doch, für den gestrigen Tag eine Rüge zu bekommen, weil er sich mit den Studenten angelegt hatte. Ja, sie sollten immer höflich sein, dachte er, egal was sie sich von den Leuten auch anhören mussten; sollten immer sachlich bleiben und sich möglichst alles gefallen lassen, denn sonst würde sich am Ende noch jemand beschweren. Was für eine Katastrophe! Man kann nie vorsichtig genug sein; darüber schien sich die gesamte Führungsebene der Bibliothek stets einig.

Doch sein Abteilungsleiter war überraschenderweise allerbester Laune. Er gratulierte ihm zu seinem Einsatz und eröffnete, dass er ihn zum Leiter des Beratungsteams machen wolle, da er offenbar in Krisensituationen einen kühlen Kopf behalte und der Sache mit den Internetproblemen ohne zu zögern auf den Grund gegangen sei. Tatsächlich bekäme er dafür sogar mehr Geld und einen eigenen Schreibtisch. Er wäre zudem nicht mehr verpflichtet, die ganz späten Schichten zu übernehmen und könne jeden Tag pünktlich Feierabend machen. Mit den Worten, er sei froh, einen solchen Mitarbeiter in seinem Team zu haben, entließ der Abteilungsleiter ihn wieder.

Als Thor zu seinem Tisch zurückkam, berichtete er Vanessa sofort von seiner Beförderung. Sie freute sich und erzählte ihrerseits, dass der gestrige Tag ihr die Augen über ihren Ex geöffnet habe und sie sich nun nicht mehr länger Vorwürfe mache, die Beziehung beendet zu haben. Thors Aufmerksamkeit verflog schnell, denn am Kopierer stand Fiona Gratmüller. Sie hob den Kopf und lächelte ihm zu. Plötzlich bewegte sie sich vom Kopierer weg und kam geradewegs zu seinem Tisch. Dies nahm Thor wie in Zeitlupe wahr, und als er schon dachte, sie würde ihn ansprechen, tippte ihr jemand von hinten auf die Schulter. Sie wandte sich ab.

„Hallo, bist du noch da?“, fragte Vanessa.

„Ja, entschuldige, ich war gerade in Gedanken.“

„Also, wie sieht es mit morgen aus? DVD-Abend bei mir?“

„Ja, ich weiß nicht recht. Aber klar, machen wir.“

„Was hat dich denn gerade so irritiert? Die Blonde?“

„Nein, ich muss mich nur an den Gedanken mit dem neuen Job gewöhnen.“


Sobald er an diesem Tag nach Hause kam, setzte er sich vor den Bilderrahmen und grübelte etliche Stunden lang. Nach dem Bild, auf dem er zum Ritter geschlagen wurde, hatte man ihn befördert. Wie schon das Bild am Vortag hatte es wie eine Prophezeiung gewirkt. Wenn also das Kriegerbild und das, auf dem er zum Ritter geschlagen wurde, tatsächlich die Dinge vorausgesagt hatten, so war es gut möglich, dass auch heute wieder ein neues Bild erschien. Und plötzlich sah er es. Das neue Bild zeigte wiederum den Mann, der ihm so ähnlich sah, dieses Mal mit einer wunderschönen Frau an seiner Seite – offenbar bei ihrer Hochzeit. Und Thor erkannte auch sie. Es war Fiona.

Sein Herz machte einen Luftsprung. Fiona war die Antwort auf alle seine Fragen, alle Entbehrungen der letzten Jahre, die er hatte ertragen müssen. Schon als er sie zum ersten Mal gesehen hatte, war ihm klar geworden, dass diese Frau zu seinem Leben gehörte. Vielleicht hatte sie ja mitbekommen, dass er sich nun durchsetzte und dass er befördert worden war. Inzwischen lächelte sie jedes Mal, wenn sie ihn sah. Thor nahm den Bilderrahmen hoch wie einen Pokal und nannte ihn ein „wunderbares Zauberding“, denn endlich würde sein Leben so sein, wie er es sich immer vorgestellt hatte.


Der nächste Tag war ein Samstag und Thor hatte zusammen mit Vanessa seine letzte Vormittagsschicht am Wochenende. Ständig schaute er zum Eingang in freudiger Erwartung, dass Fiona kommen würde. Den Bilderahmen hielt er bei sich, und wenn er nicht zur Tür sah, musste er auf das Foto starren. Endlich erschien sie am Kopierer. Thor ahnte, dass nun der Moment gekommen war. Er stellte sich den Ritter auf dem Foto vor, bekam Schwung in seine Bewegungen und schritt ehrerbietig auf den Kopierer zu. Es wunderte ihn nicht, dass er diesmal keinen großen Mut aufbringen musste, zu ihr hinzugehen und sie anzusprechen, und so sagte er mit feierlich tiefer Stimme:

„Hallo.“

„Hallo, kann ich dir helfen?“

„Nein, also, ich dachte, ich könnte dir helfen. Hast du Probleme mit dem Rechner?“

„Nein.“

„Aber mit dem Kopierer?“

„Nein, gar nicht. Sehe ich so aus?“

„Ja, also ich dachte, wahrscheinlich hast du sie. Aber vielleicht ist das mit dem Rechner auch gar nicht wichtig. Aber falls du Hilfe brauchst, bin ich für dich da.“

„Danke, aber ich brauche wirklich keine Hilfe. Ich muss nur hiermit heute fertig werden.“

„Ach so, ja, wenn du fertig bist, gehen wir einen Kaffee trinken?“

„Warum sollten wir das?“

„Naja, ich dachte, wenn es vielleicht doch irgendwelche Probleme gibt, dann kann man die ja am besten bei einem Kaffee besprechen.“

„Hör zu, ich weiß jetzt nicht, was das soll. Aber wenn ich Probleme mit dem Computer habe, frage ich meinen Freund. Und jetzt entschuldige mich, ich muss das hier fertig machen.“

In seiner Brust spürte Thor ein höllisches Ziehen und sein Magen krampfte sich zusammen. Die Wirklichkeit, nein, die Menschheit kannte wirklich keinen Zauber mehr, dachte er. Wie ein Aussätziger stand er noch ein paar Sekunden neben dem Kopierer, dann ging er verschämt zurück zu seinem Arbeitsplatz.

Vanessa hielt gerade den Bilderrahmen in der Hand und fragte ihn, was das für einer sei. Doch Thor antwortete nicht, nahm seinen Rahmen und verschwand aus der Bibliothek.


Den Rahmen wie das Foto einer vermissten Person vor sich haltend, rannte Thor ziellos durch die Straßen. Die Braut sah Fiona ähnlich, aber vielleicht hatte er sich auch getäuscht. Der Bilderrahmen hatte ihn bisher nicht im Stich gelassen, deshalb konnte es einfach nur so sein, dass eine andere Frau gemeint war. Am Trödelladen von Herrn Koreander sah er wieder das Mädchen, das von der Polizei abgeführt worden war, als er den Rahmen gekauft hatte. Und da Thor in den letzten Tagen gelernt hatte, auf das Schicksal zu vertrauen, fiel ihm sofort auf, dass auch sie der Frau auf dem Foto ähnlich sah, dachte man sich die Ringe aus ihrem Gesicht weg und stellte sie sich mit ihren blonden Haaren ohne Mütze vor. Natürlich, dachte er. Ihr Schmuck, ihre Kleidung, sie waren wie eine Maske, in Wahrheit steckte eine ganz andere Frau in ihr, die darauf wartete, dass man anklopfte und sie hinaus bat. Es konnte kein Zufall sein, dass sie da war, gerade als der Rahmen in sein Leben getreten war. Er sah Herrn Koreander durch das Schaufenster mit dem Rücken zu ihm stehen, als er sich vor die Frau stellte.

„Hallo, möchtest du vielleicht mit mir mitkommen?“

„Mitkommen? Was bist du denn für einer?“

„Ich möchte dir helfen. Möchtest du etwas zu essen?“

„Ich habe schon gegessen.“

„Dann vielleicht etwas trinken oder sonst etwas?“

„Nein, lass mich in Ruhe!“

„Aber dir geht es doch nicht gut. Das sieht man. Wenn du …“

„Was willst du von mir? Du hast sie doch nicht alle!“

„Ich habe dich vor ein paar Tagen gesehen, als du von der Polizei abgeführt wurdest.“

„Ach so einer bist du. Jetzt mach bloß, dass du verschwindest. Als ob ich mit jedem Arsch mitgehen würde. Das habe ich nicht nötig. Also, verpiss dich!“

Zutiefst beschämt schritt er weiter und sah sich nicht um, bis er sich hinter der nächsten Ecke befand. Doch war sein Glaube noch nicht gebrochen. Es zog ihn weiter durch die Stadt. Eigentlich musste er sich einfach nur treiben lassen, dachte er, musste es dem Zufall überlassen, dass er heute – und wann sonst, wenn der Rahmen es ihm prophezeite – seiner Traumfrau begegnen würde; einer Frau, die wie eine Königin aussah. Vielleicht traf er sie in einem Brautgeschäft, oder auf der Königsstraße in der Innenstadt, vielleicht war es die Verkäuferin mit der schwarzen Brille und der Tätowierung auf dem Oberarm im Games Workshop oder eine, die sich zufällig neben ihn stellen würde, wenn er an der Ampel stand.

Thor lief lange durch die Straßen, ohne dass irgendetwas geschah. An diesem Nachmittag stieß er einige Flüche aus. Zunächst verfluchte er Fiona, die ihm mit ihrem Lächeln falsche Träume eingeflößt und so in sein Schicksal eingegriffen hatte, dann die Frau von der Straße, die lieber in der Gosse lag, als mit ihm zu gehen. Er verfluchte die Verkäuferin und schließlich alle Frauen, die jemals nett zu ihm gewesen waren und ihn so auf eine falsche Fährte gelockt hatten. Aber irgendwann verfluchte er nur eins: Den Bilderrahmen, der ihm all diese falschen Illusionen gezeigt und ihn dazu gebracht hatte, dass er nun mit nichts dastand. Er wollte ihn zerstören, wegschmeißen, einschmelzen, in Beton eingießen und am tiefsten Grunde des Ozeans versenken.

Doch als er schließlich zuhause angekommen war, ließ er ihn ganz. Er schrieb Vanessa und sagte den DVD-Abend ab, dann stellte er den Bilderrahmen an seinen Platz. Er hatte endlich verstanden, was er ihm sagen wollte.


„Hallo Thor“, sagte Vanessa, als er am folgenden Vormittag neben ihr Platz nahm, „Hast du heute nicht frei? Hast du gestern noch Deine Beförderung gefeiert?“

„Nein, das nicht gerade.“

Vanessa sah ihn an, als erwarte sie, dass er noch etwas sage. Dann ließ sie von der Tastatur ab und wandte sich ihm zu.

„Nachdem du gegangen warst, habe ich mir schon gedacht, dass du nicht mehr zu mir kommst. Ich dachte, irgendwas wäre passiert. Du siehst heute ja schon wieder viel besser aus, nur ein wenig übermüdet.“

„Ja, das stimmt, es tut mir leid, dass ich so kurzfristig abgesagt habe. Aber gefeiert habe ich nicht. Ich habe mich gestern bescheuert aufgeführt. Keine Ahnung, was los war. Doch, eigentlich weiß ich es.“

„Hatte es vielleicht etwas mit dem Bilderrahmen zu tun, den du bei dir hattest?“

„Was? Wie kommst du darauf?“

„Das ist ein komisches Ding. Ich bin mir ziemlich sicher, dass es einmal meinem Bruder gehört hat.“

„Deinem Bruder?“

„Ja, aber wir haben ihn zum Trödler gegeben, also den Rahmen, nicht meinen Bruder.“

Vanessa lächelte und das gefiel Thor.

„Dann ward ihr die Familie, die ihn zu Herrn Koreander gebracht hat?“

„Das waren wohl wir.“

„Und warum? Der Trödler hat gesagt, an dem Rahmen wäre etwas Sonderbares.“

„Nun, ich weiß nicht, aber es ist schon etwas sonderbar damit. Wir haben den Rahmen gekauft und mein Bruder hat ihn sich ins Zimmer gestellt. Er ist stundenlang, manchmal ganze Tage nicht aus seinem Zimmer gekommen und muss wohl nur diesen Bilderrahmen angestarrt haben.“

„Und warum?“

„Das weiß ich nicht. Er wollte es nicht sagen. Damals war er in der Pubertät und ich bin sicher, er hat sich Bilder von nackten Frauen draufgeladen oder so. Denn keiner durfte mehr zu ihm ins Zimmer. Aber zugeben wollte er es nicht. Kein Wunder … Wieso fragst du?“

„Ach, nichts. Ich glaube, ich werde den Rahmen auch wieder zurückgeben.“

„Du willst ihn zurückgeben? Warum?“

„Ich brauche ihn nicht. Bei mir steht eh schon so viel rum. Ich brauche mehr Platz. In meinem Leben muss sich langsam einmal etwas ändern. Das gilt übrigens auch für unseren DVD-Abend.“

„Das willst Du auch ändern? Schade, aber ok, wenn du keine Lust hast.“

„Nein, ich möchte dich lieber einladen. Zum Essen, oder so.“ „Du meinst, wir kochen zusammen?“

„Nein. Also, Vanessa, willst du mit mir … also … dass wir beide zusammen etwas Essen gehen und vielleicht hinterher ins Kino oder spazieren?“

Vanessa lächelte.

„Also kein DVD-Abend?“

„Nein, nicht zuhause. Draußen. Und dann bringe ich dich nach Hause bis vor deine Tür und komme nicht mehr mit rein, sondern bleibe auf der Schwelle stehen, und am nächsten Tag rufe ich dich an und frage dich, wie es war und wenn es dir gefallen hat, dann gehen wir noch einmal Essen …“

„ … und am nächsten Tag erzähle ich dann meiner besten Freundin, dass ich darauf warte, dass du dich meldest, und du lässt mich noch warten, aber dann meldest du dich doch oder stehst mit einem Strauß Rosen vor meiner Tür. So etwa?“

„Vanessa, seitdem wir uns kennen, möchte ich …“

„Nein, sag nichts, wir machen das so. Wohin gehen wir?“


Thor blieb nicht mehr lange sitzen. Kurz hatte er sich gefragt, ob er Vanessa alles erzählen sollte, aber vielleicht würden sich dafür noch andere Gelegenheiten ergeben. Als er in die Wohnung trat, saß seine Mutter auf dem Sofa im Wohnzimmer und sah fern.

„Hallo Thor, so früh schon unterwegs? Du hattest doch noch gar nicht gefrühstückt.“

„Ja, ich habe Vanessa bei der Arbeit besucht. Und eins wollte ich Dir noch sagen, Mama; inzwischen schmecken mir die Wurstbrote nicht mehr so gut.“

„Gut, dann mache ich sie nicht mehr. Früher hast du sie aber sehr gemocht.“

„Ja, früher, aber inzwischen, also, manchmal ändern sich halt gewisse Dinge.“

„Ich verstehe schon. Irgendwie habe ich mir das auch gedacht.“

Thor kam näher an das Sofa und fragte sich einen Moment, ob eine Spur von Verletztheit in ihrer Stimme gelegen hatte. Doch sie schien ganz ruhig, weder beleidigt noch geknickt. Erst jetzt fiel ihm auf, dass sie in den letzten Tagen viel unterwegs gewesen war. Hatte sie nicht von ihrem neuen Nachbarn erzählt? Thors Finger umspielten das harte Plastik des Bilderrahmens, den er in der Hand hielt, seitdem er sich von Vanessa in der Bibliothek verabschiedet hatte. Die Bilder wechselten weiter von einem zum nächsten. Wieso hatte er die ganze Zeit erwartet, dass seine Mutter traurig sein würde, nur weil er die Brote nicht mehr essen wollte? Vielleicht, dachte er sich, sind Erwartungen so ähnlich wie die Bilder des Rahmens. Sie verstellen den Blick für das Wahrhaftige, das Wirkliche, für den Zauber, den die Welt eben nicht verloren hat, sondern der eben nur so gänzlich anders ist, als er ihn sich vorstellte.

„Warum trägst du eigentlich seit Tagen diesen Bilderrahmen mit dir herum?“, fragte seine Mutter.

„Das ist … ich wollte ihn zur Reparatur bringen, er ist wohl etwas kaputt.“

„Heute, am Sonntag? Komisch, vorgestern hat er noch einwandfrei funktioniert.“

„Woher weißt du das?“

„Ach, ich habe mir einen kleinen Scherz erlaubt. Weil du ja so viele Fotos von dir drauf gemacht hast, habe ich eines unserer alten Hochzeitsfotos hinzugefügt. Ich wollte wissen, ob du es erkennst. Ah, da ist es ja.“

Thor erkannte es sofort und starrte fassungslos auf das Hochzeitsbild und auf die Frau, die er zuerst für Fiona, dann für die blonde Obdachlose gehalten hatte.

„Das bist du? Und du hast das Bild eingefügt? Woher weißt du denn, wie man damit umgeht?“

„Ja, Deiner Mutter kannst du so einiges zutrauen. Dein Vater und ich hatten das Motto ‚Mittelalter‘ auf unserer Hochzeit. Gott, Du siehst ihm so ähnlich. Witzig, oder? Ich meine, weil du ja diese ganzen Mittelalter-Sachen auch so magst.“

Sie erzählte dies mit einem Lächeln; keine Träne war in ihrem Auge zu sehen.

„Nein, mal im Ernst. Wie hast du gelernt, mit sowas umzugehen?“

„So schwer ist das ja nicht. Unser neuer Nachbar hat es mir gezeigt. Er ist spontan auf einen Kaffee vorbeigekommen.“

„Schon wieder?“

„Ja, und morgen gehen wir essen.“

„Nun gut. Aber, hast du auch noch andere Bilder in den Rahmen eingefügt? Zum Beispiel eins mit einem Ritter auf einem Pferd oder wie er zum Ritter geschlagen wird?“

„Nein, nur das eine. Wieso fragst Du?“

„Ach nichts, schon gut.“

Seine Mutter lachte und schaute wieder zum Fernseher. Thor ging in sein Zimmer. Wenn das Bild mit der Hochzeit von seiner Mutter war, so musste er das richtige, prophezeiende Bild gestern übersehen haben. Voll gespannter Erwartung setzte er sich vor den Rahmen und wollte die ganze Serie noch einmal durchsehen. Doch schlief er dabei immer wieder ein. Ein neues Bild tauchte nicht mehr auf.

Stattdessen erwachte er mitten in der Nacht noch einmal und sah in dem Rahmen das Bild von Vanessa und ihm auf dem Dies Academicus. Da hoffte er nur noch eins – dass sie zu ihrer Verabredung dasselbe schwarze Kleid anziehen würde, das sie auf dem Foto trug.

Ende

HEIKE SCHRAPPER aus Hemer im Sauerland schreibt Kurzgeschichten von Trash bis Tiefsinn, übersetzt, korrigiert und lektoriert und ist gern auf Veranstaltungen der deutschen Fantastik-Szene unterwegs. Ihre Geschichte „Gotteskrieger“ erlangte 2014 den dritten Platz beim „Deutschen Phantastik Preis“.



Der göttliche Keksteig

Als die Göttin 200 000 Jahre nach der vereinbarten Zeit immer noch nicht beim Kaffeekränzchen erschienen war, beschloss die Nachbarin, mal anzurufen und zu fragen, wo sie bleibe.

„Ach, Schatz, das tut mir wirklich total leid“, antwortete die Göttin (die Nachbarin fand, dass sie etwas gehetzt klang), „aber ich wollte dir so gerne ein paar selbst gebackene Kekse mitbringen. Und sie werden und werden einfach nicht perfekt.“

Die Nachbarin seufzte. Sie kannte die hohen Ansprüche, die die Göttin immer an ihre Kreationen stellte.

„Was ist denn das Problem?“, fragte sie.

„Tja, ich habe mir zuerst ein Rezept überlegt. Das Beste aller möglichen Rezepte natürlich. Dann habe ich alle Zutaten im Bioladen besorgt, sie gemischt, zu einem göttlichen Keksteig verknetet und angefangen, daraus die Kekse zu formen. Aber sie sind alle so verschieden! Nicht zwei von ihnen enthalten genau die gleiche Menge an Elementarteilchen von auch nur einer einzigen Zutat. Geschweige denn, dass sie alle von jeder Zutat genau den ihnen zustehenden Anteil enthielten … Jetzt habe ich schon zigtausend Mal den Teig zu Keksen geformt, und nie waren sie bereit zum Backen. Immer musste ich sie wieder neu verkneten. Hätte ich doch bloß direkt einen Kuchen gemacht …“

„Und wenn du sie einfach so backst, wie sie …“, begann die Nachbarin, aber natürlich wurde sie sofort unterbrochen.

„Ich habe doch diesen ganzen Aufwand nicht für unperfekte Kekse veranstaltet!“, rief die Göttin entrüstet. „Ich bin die Göttin! Ich trage Verantwortung. Mir bedeutet das Wort Berufsethos noch etwas. Ich …“

„Sicher, Liebes, sicher“, beeilte sich die Nachbarin zu beschwichtigen. „Aber gerade weil du so gewissenhaft bist, sind es bestimmt jetzt schon ganz hervorragende Kekse. Frag sie doch einfach mal; vielleicht sind sie ja völlig zufrieden damit, wie sie sind. Vielleicht warten sie seit Jahrtausenden darauf, endlich gebacken zu werden.“

„Was weiß ein unperfekter, roher Keks denn schon von der Kunst des Backens?!“, schnaubte die Göttin. „Die meinen doch, wenn sie einigermaßen gleichmäßig geformt sind und nicht sofort auseinanderfallen, dann können sie sich direkt aufs Blech legen. Glaubst du vielleicht, die denken auch nur ansatzweise an das Gelingen des Gesamtrezeptes? Wie auch? Die kennen das Rezept ja nicht einmal. Aber solange sie dermaßen unvollkommen sind, kann man auch nicht erwarten, dass sie Verantwortung für ihre Mitkekse übernehmen. Ich muss einfach noch ein bisschen länger kneten und formen. Irgendwann wird es schon werden, das hab ich im Gefühl. Ein paar waren schon fast richtig.“ Die Göttin klang jetzt verhalten optimistisch.

„Na, dann wollen wir mal hoffen, dass der ganze Teig nicht vorher explodiert“, sagte die Nachbarin munter. „Was schätzt du denn, wie lange es wohl noch dauert, bis du rüberkommst?“

„Vielleicht bin ich in zehn-, zwanzigtausend Jahren schon bei dir. Sobald die Kekse im Ofen sind, ziehe ich mich um. Huch – ich glaube, einer von ihnen hat mir gerade zugezwinkert.“

„Wie schön. Aber falls sie nichts werden, mach dir bloß keinen Stress. Ich habe Teilchen vom Bäcker geholt.“ Die Göttin und die Nachbarin beendeten ihr Telefongespräch.

Zu dieser Zeit fühlten ungefähr zwanzig Prozent der Kekse eine seltsame Mischung aus Unzufriedenheit, Hoffnung und dem Verdacht, etwas Entscheidendes nicht zu durchschauen. Etwa dreißig Prozent glaubten, sie wären bereits gebacken. Alle anderen wussten nicht, dass sie Kekse waren.

Ende

399
429,61 ₽
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0+
Дата выхода на Литрес:
23 декабря 2023
Объем:
350 стр. 35 иллюстраций
ISBN:
9783944180786
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