Читать книгу: «Von Flusshexen und Meerjungfrauen», страница 3

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Komm!, höre ich die Stimme der Herrin in meinem Kopf. Komm zu mir, mein Kind!

Sie winkt mir mit goldschimmernden Händen. Mein Herz zerspringt fast vor Kummer und Schmerz, weil ich nicht bei ihr sein kann! Doch die Bestie, auf deren Rücken ich sitze, kennt keine Gnade. Unbarmherzig trägt sie mich davon und tritt meine Sehnsucht mit stampfenden Hufen. Hätte ich nur meinen Brautschleier, um sie zu unterwerfen, doch so kann ich nichts tun, außer meinen Tränen freien Lauf zu lassen. Das Bild vor meinen Augen verschwimmt. Ich sehe den Berg am anderen Ufer nicht mehr, die aufgewühlten Wassermassen, über die wir schneller als der Wind hinwegfliegen. Selbst das goldene Leuchten hinter uns verblasst und mit dem Strudel verschwindet schließlich auch mein unbändiges Verlangen, der Herrin des Sees untertan zu sein. Ungläubig reibe ich mir die Augen und blicke zurück, während das Pferd unter mir von schnellem Galopp in einen langsamen Trab fällt. Nichts deutet mehr darauf hin, dass noch vor wenigen Augenblicken die begehrenswerteste aller Verführerinnen dort auf der Lauer lag, um ihre Beute anzulocken. Hätte der Kelpie mich nicht abgehalten, so wäre ich ihr direkt in die goldenen Fangarme geschwommen. Langsam lösen sich die Schlingen seiner Mähne um meinen Bauch, während er die letzten Meter bis zum Ufer zurücklegt. Mit einem Satz springt er an Land und ich lasse mich von seinem Rücken gleiten.

Der Hengst senkt den Kopf, beide Ohren aufmerksam auf mich gerichtet. Ich lege eine Hand auf seine Nüstern. Sie sind kalt wie der See und feurig wie der Mann, der er einmal gewesen ist. Wie gern würde ich ihm all die Fragen stellen, die er nun nicht mehr beantworten kann.

»Danke«, sage ich daher nur. »Ich werde den Menschen in meinem Dorf erzählen, dass du kein Ungeheuer bist. Sie sollen von deinem Schicksal erfahren, auf dass deine Braut und du niemals vergessen werdet.«

Er zeigt ein majestätisches Nicken, dann wendet er sich ab und galoppiert über den See davon. Schon nach wenigen Augenblicken ist er in dem Nebel verschwunden, der vom gegenüberliegenden Ufer herüberweht. Lediglich seine Hufschläge bleiben als kräuselnde Wellen auf dem Wasserspiegel zurück.

Ob ich all das nur geträumt habe? Ein Griff an meinen Hinterkopf bestätigt mir, dass der Brautschleier wirklich verloren ist – entrissen von einem Wesen, das mich direkt in den Untergang getragen hätte, wenn ich es geschafft hätte, es zu zähmen und zu beherrschen. So aber hat es mir ein neues Leben geschenkt. In Gedenken an die Liebe, die in seinem Herzen niemals erloschen ist.

Ich wringe das Wasser aus meinem Kleid, dann wende ich mich ab und blicke nach vorn. Nach oben, auf den Gipfel des Berges, dorthin, wo meine eigene Geschichte nun weitergeht. Schon morgen gehöre ich meinem Liebsten allein, und er gehört mir. Ich muss mich sputen.

Denn er wartet auf mich.


Die Jägerin
Lisa Rosenbecker

Lisa Rosenbecker

Lisa Rosenbecker wurde 1991 in Hanau geboren, lebt aber inzwischen in Stuttgart. Sie bezeichnet sich als passionierte Teetrinkerin und Leseratte. Ich gehe davon aus, sie liebt auch Fabeltiere, denn auf der Drachennacht in Leipzig ist sie in einem Drachenkostüm aufgetaucht!

Mit dem Schreiben – und Bloggen – hat sie während ihres Biologiestudiums angefangen. Ihren ersten Fantasyroman veröffentlichte sie 2015: Arya & Finn – Im Sonnenlicht. Seither kann sie sich ein Leben ohne Schreiben nicht mehr vorstellen.

Derzeit arbeitet sie sowohl an einem New-Adult-Projekt als auch an den Plänen für einen dritten Litersum-Roman.

Ihre nachfolgende Geschichte spielt im gleichen Universum wie ihre Bücher Magie aus Gift und Silber und Magie aus Tod und Kupfer, allerdings viele Jahrhunderte zuvor. Sie kann auch ohne Vorkenntnisse gelesen werden. Lisa hat sich nicht von einem Märchen, sondern von einer Figur aus dem griechischen Sagenkreis inspirieren lassen. Die Geschichte selbst verortete sie allerdings am Strand der niederländischen Stadt Harlingen, an dem sie bereits im Urlaub spazieren gegangen ist.

www.lisarosenbecker.de


Die Jägerin

Sie riefen nach ihr, wenn sie ein Monster fanden.

Schwarzes Blut glänzte am Strand in der untergehenden Abendsonne, ehe es in Gischt aufging. Die Brandung des Meeres spülte die Erinnerung an die leblosen Körper hinfort, die bis vor Kurzem im flachen Wasser gelegen hatten.

Sobald der Mond am Himmel stand, würden sich die letzten Überreste in den Weiten des Ozeans verlieren.

Und weitere Monster anlocken.

Ceto wischte sich die klebrigen Hände an ihrer ledernen Weste ab. Der metallische Gestank des Blutes drang ihr in die Nase und in jede Faser ihres Körpers. Er trieb sie an, stärkte sie.

Ihr Schwert lag verwaist zu ihrer Rechten im Sand, sie hatte es im Kampf verloren und trotzdem gewonnen. Mit schweren Schritten ging sie darauf zu, ohne den Blick vom Horizont zu nehmen. Das Wasser reflektierte das Sonnenlicht und blendete sie. Sie kniff die Augen zusammen und suchte die sanften Wellen nach Lebenszeichen ab. Flossen, Finnen, geschuppte Haut – die Monster kamen in allen Formen und Farben, Größen und Stärken vor.

Das Schwert schien bleierner als zuvor, es kostete sie eine Menge Kraft, es aufzuheben. Getrocknetes Blut und Sandkörner verklebten die Klinge, bis zum nächsten Kampf musste sie gesäubert werden. Und verzaubert.

Mit geschulterter Waffe und rasselndem Atem stieg sie den künstlich aufgeschütteten Deich hinauf. Dahinter lag ein Dorf, geschützt vor dem Meer und dessen Launen. Von der Spitze der Erhebung aus überblickte Ceto beides – den Ozean und die Siedlung. Das eine war eine mächtige Naturgewalt, endlos und schön. Das Dorf hingegen, mit seinen windschiefen roten Ziegelhäuschen, die sich dicht an dicht um leere Kanäle drängten, schien sich vor der Welt verstecken zu wollen. Die Gebäude waren niedrig und schlicht errichtet worden, die Menschen eilten nahezu geduckt durch die gepflasterten Gassen. Sie sehnten sich danach, beschützt zu werden. Vor dem, was auf der anderen Seite lauerte. Was hinter dem Deich lebte, sollte dort bleiben.

Deswegen hatte man die Kanäle vor Jahren trockengelegt und die einst so prächtigen Boote und kleineren Schiffe verrotteten ihres Zweckes beraubt auf dem Grund. Vom salzigen Duft der See, der früher die Lunge der Siedlung beseelt hatte, war nicht viel übrig geblieben. Stattdessen roch es modrig und faul.

Ceto rümpfte die Nase, als sie auf der anderen Seite des Deiches hinabstieg und sich auf den Heimweg machte. Sie liebte die Meerluft, den Wind in ihren Haaren und den knirschenden Sand unter ihren Füßen. In der Siedlung fühlte sie sich wie eine Gefangene, aber sie musste ruhen und Kräfte sammeln.

»Hast du es getötet?« Ein Mädchen, vielleicht acht Sommer alt, sprang Ceto in den Weg. Sein Gesicht und die Kleidung waren dreckverschmiert, so wie bei den meisten der hier lebenden Kinder. Ceto trat missmutig einen Schritt zurück.

»Natürlich. Siehst du das Blut nicht?«, fragte sie.

Die Blicke des Mädchens huschten zu dem Schwert. Es streckte eine Hand aus, als wollte es die Waffe berühren. Ceto wandte sich ab und knurrte: »Finger weg.«

»Warum hast du es umgebracht?«, wollte das Kind wissen. Ceto seufzte und lief wortlos weiter. Das Tapsen kleiner nackter Füße auf Pflastersteinen folgte ihr. »Lauf doch nicht weg«, beschwerte sich das Mädchen und holte zu ihr auf. Alle Einwohner hielten respektvollen Abstand zu Ceto, wenn sie ihr begegneten, besonders nach einem Kampf, wenn sie verschmutzt, stinkend und ausgebrannt war. Wieso störte sich das Kind nicht daran?

Das Mädchen zupfte an ihrem Hemd. Ceto zischte und wirbelte herum. »Lass mich in Ruhe!« Ihre Stimme hallte durch die Gasse, das Kind zuckte zusammen und machte endlich kehrt. Schluchzend lief es in die Richtung, aus der es gekommen war.

Zufrieden grunzend setzte Ceto ihren Weg fort.

Sie unterdrückte einen Schrei, als sie an ihrem Haus ankam und das Mädchen dort auf sie wartete. Sein Gesicht war zornesrot und voll stolzer Sturheit.

»Sag es mir«, verlangte es. »Wieso tötest du sie? Warum müssen sie hinter dem Deich bleiben?«

Es war nicht Ceto, die dem Mädchen antwortete, sondern die Monster selbst. Als hätten sie die Frage vernommen, erklang vom Meer aus ein titanisches Brüllen, das die Häuser zum Erzittern brachte. Plötzlich stob der Geschmack von Salz, Blut und unendlicher Trauer durch die Kanäle. Ceto schluckte schwer und die Härchen in ihrem Nacken stellten sich auf. Das Mädchen stolperte nach hinten und ließ sich Halt suchend gegen die Hauswand fallen. Es sah in den Himmel, als würden die Monster von dort oben herunterstoßen und sie verschlingen.

»Sie stammen aus den dunkelsten Ecken des Meeres, Gnade ist ihnen fremd und sie würden dieses Dorf unter sich begraben, sollten sie es jemals über die Deiche schaffen. Willst du das?«, fragte Ceto. Endlich kamen keine Worte mehr aus dem Mund des Mädchens, es schüttelte nur den Kopf. »Dann verschwinde endlich, damit ich mich ausruhen und sie auch in Zukunft davon abhalten kann.«

So schnell es konnte, rappelte sich das Kind auf, nahm die Beine in die Hand und flüchtete.

Ceto genoss die Ruhe, die sie hinter ihrer Haustür erwartete. Sie lebte in einem alten Bau mit löchrigem Dach, schimmelnden Deckenbalken und knarzenden Türen.

Das Schwert legte sie auf einen Tisch, dessen Holz dunkel verfärbt war. Blut von unzähligen Gefechten und toten Monstern war in die Holzfasern gesickert und erinnerte Ceto daran, was für ein Leben sie führte.

Sie schälte sich die triefende Kleidung vom Körper und warf sie neben die Waffe auf den Tisch. Später würde sie nachsehen, was davon noch zu gebrauchen war und gewaschen werden konnte, und welche Teile sie entsorgen musste. Doch zunächst stieg sie selbst in den Waschzuber, der mit glasklarem Wasser gefüllt war. Sie spürte die Kälte nicht, als sie hineinglitt.

Da war nichts. Nur ein Element an ihrer Haut, das sich langsam schwarz färbte wie das Meer nach einem Tod. Sand rieselte aus ihren Haaren und sammelte sich am Boden des hölzernen Zubers. Sie strich mit nackten Fußsohlen darüber und ein kleiner Seufzer entfuhr ihr. Kaum war er ihren Lippen entschlüpft, erhob sie sich und stieg aus dem Bottich.

Das Wasser perlte langsam ihren Körper herab, als wollte es sie nicht ziehen lassen. Sie ließ die Tropfen, wo sie waren, und griff nach ihrem Schwert, das ihre Stelle in dem Waschzuber einnahm. Sie schob es hinein, bis auch der Griff vom Nass bedeckt war. Es dauerte einen Moment, bis das Wasser sich beruhigt hatte.

Mit gespreizten Fingern fuhr sie über die stille Oberfläche.

»Anagénnisi.« Regeneration.

Der Schaft des Schwertes leuchtete silbern auf und das Blut im Wasser zog sich zu langsam kreisenden Wirbeln zusammen, der Sand am Boden tat es ihm gleich. Ceto wiederholte die magischen Worte wieder und wieder. Das Metall sog das Schwarz und den Sand gierig auf, bis nichts zurückblieb als eine klare Flüssigkeit.

Die Waffe enthielt das Blut unzähliger getöteter Monster. Jedes von ihnen verlieh ihr mehr Macht. Jedes von ihnen half dabei, ein weiteres Monster zu töten.

Der Sand schenkte der Klinge die Gabe, die zarte Haut des Meeres zu zerschneiden. Ceto hörte die Schreie der Monster und der See, wenn das Silber sie zerfetzte. Sie selbst sog diese Hilferufe auf wie das Schwert das Blut.

Sie spürte nicht, ob sie das stärker oder schwächer machte.

Sie hatte vor langer, langer Zeit aufgehört, sich das zu fragen.

Weil sie nicht wusste, ob sie die Antwort ertragen konnte.


Am nächsten Morgen weckte der Regen die Siedlung mit seinem Gesang. Feine Tropfen fielen aus dem Himmel und strichen federleicht über die Dächer, um ihnen eine Melodie zu entlocken.

Ceto hörte es. Das Lied des Wassers trieb sie zum Aufbruch an.

Auf dem unebenen Boden vor ihrer Haustür hatte sich eine große Pfütze gebildet, in der sich ihr Gesicht spiegelte.

Rauchgraue Haare, dunkle Augen und eine durchscheinende blasse Haut auf einem Antlitz, das alterslos, aber schön war. Ohne hinzusehen, zerstörte sie das Bild mit ihrem Fuß, zog sich die Kapuze über den Kopf und eilte mit dem Schwert in der Hand los.

Alles an diesem Tag war grau. Der Himmel, das Meer, der Strand. Am Horizont gab es kaum einen Unterschied zwischen dem Ende der Welt und dem Anfang des Firmaments. Die Sphären gingen ineinander über, küssten sich.

In jenen Augenblicken wurde ein besonderes Schicksal geboren. Eines, das so farbenprächtig, so alles überstrahlend war, dass der Rest des Universums für einen Moment zu verblassen schien.

Der Wind peitschte Regen in Cetos Gesicht wie tausend feine Nadelstiche, die in ihre Haut eindrangen. Ihre Nase war eisig und sie blinzelte mehrmals, um die Tropfen von ihren Wimpern zu vertreiben. Ihre Füße gruben sich in den Sand, als sie Schritt für Schritt auf das Meer zuging.

Heute waren die Wellen höher, die Strömung gieriger.

Und die Monster waren nach wie vor Monster.

Knietief stand Ceto im Wasser, als ein paar Schritte vor ihr ein dunkler Schatten durch die Fluten glitt. Selbst durch die düstergraue Färbung und den aufgewirbelten Sand waren die leuchtend blauen Schuppen zu sehen.

Als hätte das Biest auf sie gewartet.

Sie folgte ihm, langsam. Nicht dass es etwas nützte, es hatte sie ohnehin schon gewittert. Aber alle Monster, die ihr begegneten, begangen denselben Fehler.

Sie zögerten. Und sobald Ceto mit dem Schwert die Wellen teilte, war es für sie zu spät.

So würde es auch heute wieder sein.

Ceto näherte sich dem Wesen mit bedächtigen Schritten, immer darauf besonnen, die Waffe nicht zu früh in das Meer zu stoßen.

Plötzlich machte das Tier einen Satz. Ceto riss die Augen auf und schlug zu – und traf nur Wasser. Es schäumte und kräuselte sich an den Rändern seiner Wunde, zischte seiner Angreiferin eine Warnung zu, die im Nichts verhallte.

Das Monster war verschwunden.

Vom Strand ertönte ein hoher Schrei. Ceto wirbelte herum und sah zum Ufer.

Mit schreckgeweiteten Augen erblickte sie eine junge Frau, die wadentief im Wasser stand. Nein. Gestanden hatte. Jetzt lief sie strauchelnd rückwärts und ruderte mit den Armen. Vor ihr im Wasser schimmerte es.

Ceto rannte in dem Moment los, als ein blau schillernder Körper aus der Brandung schoss und nach dem Bein der jungen Frau schnappte. Auf den ersten Blick sah es aus wie ein Tentakel, doch dann erkannte Ceto zwei angelegte Flossen an der Spitze.

Es war der Schweif eines Hippokampen, der sich in diesem Moment aus dem Wasser erhob. Diese außergewöhnlichen Wesen, halb Pferd, halb Fisch, waren genauso anmutig wie grauenhaft und sie gehörten nicht zu jenen Monstern, die Ceto normalerweise jagte.

Heute würde sie eine Ausnahme machen.

Sie rannte auf das Wesen zu. Es hatte sein Opfer an der Wade gepackt und es umgerissen. Die junge Frau schrie und zappelte, trat mit dem freien Fuß nach dem Monster. Doch es half nichts. Das Kleid rutschte ihren Körper hinauf, als der Hippokamp sie zu sich in die Wellen zog.

Ceto hob das Schwert und hieb nach dem Schweif mit der Flosse. Das Biest war schnell und geschickt. Es ließ von der Frau ab, ehe es von der Waffe getroffen werden konnte. Die Klinge zerteilte nur das Wasser und die Gischt. Das Tier verschwand.

Still und wachsam verharrte Ceto für einige Augenblicke an Ort und Stelle, doch das Wesen kam nicht wieder.

Die junge Frau war ans Ufer gehumpelt und saß am Strand, wenige Meter von den lockenden Ausläufern der Brandung entfernt. Ihre dichten Haare waren ein strahlend türkiser Farbklecks an diesem aschfahlen Tag, sie hingen ihr wirr vom Kopf. Ein schlichtes Wollkleid klebte an ihrem Körper, betonte jede Kurve. Sie war hübsch, trotz der rot unterlaufenen Augen. Ihre Iriden waren so farblos und grau wie die Welt und das Meer an jenem Morgen. Und wie der Regen diesen Tag, trübten Tränen ihre Sicht. Doch sie sah Ceto direkt an, voller Ehrfurcht oder Furcht – dazwischen verlief nur ein schmaler Grat.

Ceto schritt aus dem Wasser und zog die Klinge durch die Wellen, die zeterten und schrien. Diese Warnung war nötig. Der Hippokamp sollte fernbleiben.

Das rechte Bein der jungen Frau blutete, wo die Schuppen des Hippokampen die Haut aufgeritzt hatten.

»Du musst es auswaschen und verbinden«, riet Ceto ihr und lief an ihr vorbei Richtung Deich. Heute würde sie kein Monster mehr töten. Solange der Hippokamp in der Nähe war, trauten die anderen sich nicht an den Strand heran.

»Danke«, flüsterte die junge Frau mit zittriger Stimme.

Ceto hielt inne. Noch nie hatte jemand diese Worte an sie gerichtet. Es rief ein eigenartiges Gefühl in ihrer Brust hervor, die sie leer geglaubt hatte. Sie drehte sich nicht um, als sie sagte: »Halte dich vom Ozean fern.«

»Das kann ich nicht«, erwiderte die Fremde. Nun wandte sich Ceto ihr doch zu. Die aquamarinfarbenen Haare wehten im Wind, während sie in die Ferne blickte. Ceto verstand ihre Sehnsucht, ihre Qual.

»Komm mit mir«, bot sie der Verletzten an.

»Ich heiße Tessa.«

»Komm mit mir, Tessa, und ich werde dir helfen.«

Schwankend kam Tessa auf die Beine und folgte Ceto. Sie humpelte ihr hinterher, während Regen und Wind ihr ins Gesicht schlugen und an ihrem Kleid zerrten. Doch sie verzog keine Miene, klagte nicht über die Schmerzen, die sie haben musste.

Oben auf dem Deich verlor Ceto die Geduld und stützte Tessa den Rest des Weges bis zu ihrem Haus. Sie setzte die junge Frau auf ihr Bett, das Schwert fand seinen Platz auf dem Tisch.

Mit den Fingern fuhr Ceto über die blutigen Fasern des Holzes und sammelte ihre Kräfte. Sie benötigte keine Verbände, keine Salben oder Tinkturen wie die Menschen. Ihr reichte zum Heilen Magie.

»Roí.« Fließen.

Blut quoll aus dem Holz an die Oberfläche und bündelte sich in großen Tropfen. Cetos Hände glitten durch das Schwarz, bis sie vollkommen benetzt waren. Sie ging zu Tessa und legte ihre Finger vorsichtig auf die Beinwunde. Die junge Frau zuckte kurz zurück, dann ließ sie es geschehen.

»TherapeíaHeilung. Ceto murmelte die Beschwörung mehrmals, um sicherzugehen, dass sie auch Wirkung zeigte. Die Blutmagie gehorchte ihr und machte sich ans Werk, flickte das Fleisch.

Es dauerte nur einige Augenblicke, bis nichts mehr an die Verletzung erinnerte.

Als Ceto aufsah, bemerkte sie Tessas Blick. Die junge Frau musterte sie mit undurchdringlicher Miene. Das Grau ihrer Augen wirbelte umher wie ein feiner Nebel, der Geheimnisse verschluckte. Ceto fühlte sich beobachtet, wie unter einem Vergrößerungsglas. Sie wandte sich dem Waschzuber zu, um ihre Hände zu reinigen.

»Wieso tötet Ihr sie?«, fragte Tessa.

Ceto stockte. Sie hob die noch nicht reinen Hände aus dem Wasser und fuhr herum. »Wieso? Ich habe dir damit das Leben gerettet!«

»Ich meine nicht heute. Sondern alle anderen Tage. Wieso tötet Ihr die Monster?«

Ceto schüttelte den Kopf. »Das verstehst du nicht.«

»Das bedeutet, Ihr wollt es mir nicht sagen«, erwiderte Tessa leise.

Mit einem Stöhnen senkte Ceto die Hände wieder in das Wasser. »Seit wann seid ihr Menschen so neugierig?«

Tessa lachte auf. So einen angenehmen Laut hatte Ceto lange nicht mehr gehört. Nur das Meer und seine unendlichen Weiten klangen schmeichelnder.

»Ihr gebt also zu, dass Ihr kein Mensch seid?«, fragte Tessa. Sie hatte sich erhoben, ging mit bedachten Schritten in dem kleinen, kargen Raum umher und sah sich um.

»Ich habe nie behauptet, einer zu sein«, antwortete Ceto und beobachtete sie. Das war eine ungewöhnliche Frage. Oder war lediglich die Wortwahl ungewöhnlich?

Wer war diese Frau nur?

Sie schien nicht älter als zwanzig Sommer zu sein. Im Vergleich zu Ceto, die schon so lange lebte, dass sie die Jahre nicht mehr zählen konnte, war Tessa nichts weiter als eine kleine, aber feine Laune der Natur. Das türkisblaue Haar, welches das Meer in Cetos bescheidenes Heim zu holen vermochte, fiel in weichen Wellen über Schultern und Rücken. Das Rauschen der wilden See drang in Cetos Ohren. Sie schloss die Augen und verdrängte die Bilder, die sich in ihre Gedanken schoben. Es schmerzte zu sehr.

Tessa legte den Kopf schief und beobachtete Ceto, wie sie sich die Hände wusch. »Darf ich Euch morgen dabei zusehen, wie Ihr eines der Monster jagt? Vielleicht verstehe ich Euch dann.«

»Warum willst du das?«

Tessa lächelte verschmitzt. »Weil ich ein neugieriger Mensch bin.«

Ceto zögerte und ertappte sich selbst dabei. Zögern war ein Fehler. »Im Morgengrauen ziehen wir los.«


Sturmböen fegten Ceto fast von den Füßen, als sie an Tessas Seite auf dem Deich stand und auf den anthrazitfarbenen Ozean hinausblickte. Weiße Schaumfelder krönten die Wellen, die sich in der Melodie des Wassers wiegten. Cetos Herz zog sich zusammen, zog sich hinein in die Leere in ihr.

Tessa blieb zurück, als Ceto den Deich hinunter- und in die Fluten lief, das Schwert kampfbereit erhoben. Ihre Lunge füllte sich mit dem salzigen Duft der ewigen Weite um sie herum.

Es dauerte nicht lange, bis sie das Monster entdeckte. Pechschwarz und träge schwamm das riesige Biest nur wenige Schritte von Ceto entfernt durch das Wasser. Ein Kopf erhob sich aus der Gischt und reckte sich empor. Jadefarbene Augen starrten auf Ceto herab, ein langer Hals ging in einen noch längeren Körper über, der geschützt von scharfkantigen Schuppen unter der Oberfläche ruhte. Cetos Blick huschte wie von selbst zu der Schwachstelle des Monsters – die Brust, in der sein schwaches Herz schlug. Das Wesen rührte sich nicht, es zögerte.

Ceto griff an. Das Biest schrie und tobte, wehrte sich und schnappte mit seinem Maul nach ihr. Doch es unterlag und Ceto sah ihm nicht in die Augen, als alle Kraft aus ihm sickerte. Wellen griffen nach der leblosen Hülle, zogen sie in ihre Umarmung und schenkten dem Wesen die letzte Ruhe.

Ceto watete ans Ufer und blickte den Deich hinauf. Tessa war verschwunden.

Sie suchte den Hügelkamm ab und den Strand. War sie ins Dorf gegangen? Hatte sie der Anblick des Kampfes so verstört?

Doch auch in den Straßen und ihrem Haus wartete Tessa nicht auf sie. Ceto war wieder allein.


Mit dem nächsten Sonnenaufgang stand Ceto erneut am Strand. Dunkle Wolken hingen am Himmel, doch es regnete und stürmte nicht. Der Ozean war ein quecksilbriger Spiegel und lag still da. Zu still. Als würde er auf etwas warten.

Ceto ließ das Schwert sinken und die Spitze tauchte in den Sand ein. Da waren keine Geräusche, die Welt hielt den Atem an. Sie sah nach oben, in Richtung des Olymps und fragte sich, ob Götter auf dem Weg zur Erde waren.

Doch es waren nicht Götter, die sich ihr im nächsten Augenblick offenbarten.

Wellen rauschten, Schaumkronen erblühten und vergingen, dann brach der erste geschuppte Leib durch die Oberfläche. Dann noch einer und noch einer. Seeschlangen, Kraken, Strudelwürmer und Sturmfische. Glitschige Haut, scharfkantige Schuppen und messerscharfe Zähne blitzten ihr entgegen. Alle Augen waren auf sie gerichtet, das spürte sie, auch wenn sie den Bestien nicht ins Gesicht sah. Es waren Dutzende, wenn nicht an die hundert Monster, die sich hier versammelt hatten.

Ceto hielt wie die Welt den Atem an, als das Meer sich aufbäumte und ein weiteres Wesen ausspuckte. Es war der blaue Hippokamp, den sie vertrieben hatte. Anmutig und stolz erhob sich das Tier vor ihr. Dann senkte es den Kopf und Ceto sah die Reiterin auf dem Rücken. Vor Schreck glitt ihr das Schwert aus der Hand und landete klirrend im Sand.

Tessa hatte sich das Aquamarinhaar zu einem Zopf geflochten, darin glitzerten Perlen, kleine Muscheln und Nadeln aus Perlmutt. Eine enge Weste schmiegte sich an ihren Oberkörper, ihre Beine steckten in dunklen Hosen, die Füße waren nackt. Sie ließ sich vom Rücken des Hippokampen gleiten und kam zum Ufer gelaufen, verließ das sichere Wasser jedoch nicht.

Cetos Körper war wie versteinert, sie rührte sich nicht, als die junge Frau auf sie zukam. Ihre grauen Augen schienen zu glühen, als hätte der Mond ihr etwas von seinem Glanz geschenkt.

»Ceto«, begrüßte Tessa sie mit ruhiger Stimme. Dann verneigte sie sich vor ihr. »Es ist mir eine Ehre, der Göttin der Meere und der Mutter aller Seemonster persönlich gegenüberstehen zu dürfen.« Sie richtete sich auf und ihre Miene verfinsterte sich. »Allerdings bin ich nicht hier, um Euch zu huldigen.«

Ceto schwieg. Ihr unsterbliches, göttliches Herz schlug nur noch schwach in ihrer Brust. Lange, lange hatte sie niemand mehr so genannt, geschweige denn sich vor ihr verneigt. Jetzt verstand sie, dass sie das nicht vermisst hatte. Weil sie es nicht verdiente. Sie rührte sich nicht und wartete.

Die junge Frau vor ihr nickte und fuhr fort. »Mein Name ist, wie Ihr schon wisst, Tessa. Ich bin eine Nereïde, eine Nymphe des Meeres.« Sie breitete die Arme aus, fasste all die Monster mit ein, die hinter ihrem Rücken im Quecksilberwasser standen. »Diese Wesen riefen mich, weil sie ein Monster fanden. Ich bin die Jägerin und hier, um Euch zu richten, Ceto.«

Wie dumm Ceto gewesen war, Tessa nicht zu erkennen. Oder die Scharade, die sie und ihr Reittier aufgeführt hatten. Sie hätte fühlen müssen, wen und was sie vor sich hatte und woher sie kam. Doch das hatte sie nicht. Cetos Mund fühlte sich trocken an und sie bekam kein Wort heraus.

Tessa neigte den Kopf. »Ihr seid das Monster, Ceto. Nicht Eure Kinder. Ihr tötet sie, weil Ihr ihren Anblick nicht ertragt. Ihr denkt, sie seien böse, und Ihr habt Angst davor, was das für Euch selbst bedeutet. Was es über Euch aussagt.«

Zum ersten Mal seit Jahrhunderten sah Ceto zu den Gesichtern ihrer Kinder auf. Zu den schillernden, aber grausigen Wesen, die sie dem Meer und ihrem Mann, dem Gott Phorkys, geboren hatte. Der Anblick war unerträglich für sie, tat ihr körperlich weh. Aber keines der Geschöpfe vor ihr blickte voller Hass zu ihr zurück. In den Augen lagen Zuneigung, Enttäuschung, Wut und das bittere Verständnis für das eigene Fleisch und Blut.

Tessa machte einen Schritt auf sie zu. »Ihr seid nicht vollkommen verloren, Ceto. In Euch steckt mehr als dieses Monster. Ihr habt mich gerettet und mich geheilt. Es gibt noch Hoffnung. Für Euch und das Dorf, das Ihr mit Euren Lügen verpestet habt. Solange jemand die Dinge hinterfragt und andere Wege sieht, gibt es Hoffnung«, sagte Tessa und Ceto rann eine Träne über die Wange, als sie an das kleine Mädchen dachte.

Sie schüttelte den Kopf. Mit krächzender Stimme gestand sie: »Ich lebe schon viel zu lange so. Ich kann es nicht ändern.«

Die Jägerin ging in die Knie und tauchte beide Hände unter Wasser. Als sie sich aufrichtete, hielt sie in der linken Hand einen Bogen, gefertigt aus einem Walkiefer und dem Haar einer Seehexe, in der rechten einen Pfeil aus einem spitzen Haifischzahn und einer zurechtgeschnitzten Fischrippe.

Das Meer selbst war gekommen, um Ceto zu richten. Diese unzügelbare Schöpfung, über die sie herrschen sollte. Sie hatte es nicht kommen sehen, hatte sie nicht kommen sehen. Und das, obwohl Wasser ihr Blut und das Salz der See ihr Atem war. Sie hatte ihre Verbindung zu diesem Wunder verloren, und wie es schien, auch jene zu sich selbst. Wer war sie, sich einem solchen Urteil zu widersetzen?

Ceto ging in die Knie, während Tessa den Pfeil anlegte. Die Kinder der Göttin schlossen die Augen und sangen ein leises Lied.

»Lebt wohl.« Tessas Finger gaben den Pfeil frei. Er zischte auf Ceto zu, die mit keiner Wimper zuckte. Sie sah ihrem Schicksal hocherhobenen Hauptes und mit offenen Augen entgegen.

Das Geschoss durchbohrte ihr Herz, beides löste sich in Meeresschaum auf. Von innen heraus wurde die Göttin zu dem Element, aus dem sie einst geboren worden war, zu dem sie vergehen und aus dem sie auferstehen würde.

Sie riefen nach ihr, als sie den Weg nach Hause fand.

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