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PositionenSozialforschung weiter denken
In der Reihe Positionen erscheinen klassische und neue Texte, die sich damit auseinandersetzen, was wegweisende Sozialforschung methodisch und theoretisch ausmacht, und die aufzeigen, was sie leisten kann.
Sozialforschung weiter denken heißt, mit Positionen zu experimentieren, die inspirieren und irritieren, weil sie die theoretischen und methodischen Konventionen sozialwissenschaftlichen Forschens hinterfragen, überwinden oder neu arrangieren. Die ausgewählten Werke fordern allesamt heraus; sie geben Orientierung und enthalten überraschende Einsichten; sie machen Deutungsangebote und ermuntern zu Kritik.
Ziel der Reihe des Hamburger Instituts für Sozialforschung ist es, methodisch und theoretisch kreativen Impulsen mehr Gewicht in wissenschaftlichen und öffentlichen Diskursen zu verleihen. Dazu versammelt Positionen sowohl Originaltexte als auch Übersetzungen.
ANDREW
ABBOTT
ZEIT ZÄHLT
Grundzüge einer
prozessualen Soziologie
Aus dem Englischen von Michael Adrian
Mit einer Einführung von Thomas Hoebel,
Wolfgang Knöbl und Aaron Sahr
Hamburger Edition HIS Verlagsges. mbH
Verlag des Hamburger Instituts für Sozialforschung
Mittelweg 36
20148 Hamburg
© der E-Book-Ausgabe 2020 by Hamburger Edition
eISBN 978-3-86854-981-2
© der deutschen Ausgabe 2020 by Hamburger Edition
ISBN 978-3-86854-348-3
Abdrucknachweise Seite 327
We thank Andrew Abbott for his kind cooperation in the publication of this book.
Umschlaggestaltung: Wilfried Gandras
INHALT
THOMAS HOEBEL | WOLFGANG KNÖBL | AARON SAHR
Reputation und Randständigkeit
Andrew Abbott und die Suche nach der prozessualen Soziologie
ANDREW ABBOTT
1Die Historizität von Individuen
2Über die allgemeine lineare Realität hinausgehen
Drei alternative Ontologien
3Was machen Fälle eigentlich?
4Zum Begriff des Wendepunkts
5Lyrische Soziologie
Für ein emotionales Erfassen sozialer Momente
6Soziale Ordnung und sozialer Prozess
EpilogFür eine humanistische Soziologie
Bibliografie
Zum Autor
THOMAS HOEBEL | WOLFGANG KNÖBL | AARON SAHR
Reputation und Randständigkeit
Andrew Abbott und die Suche nach der prozessualen Soziologie
»Man kann […] eine grundlegende Veränderung nicht als gelegentliches Resultat einer kontinuierlichen Stabilität erklären. Somit kann es keine wahren ›Perioden‹ geben, und wir müssen davon ausgehen, dass die soziale Welt in erster Linie eine gegenwärtige Welt und der Wandel ihr natürlicher Zustand ist. Die Kontinuität der sozialen Dinge von der Vergangenheit in die Gegenwart und in die Zukunft kann nicht vorausgesetzt werden. Sie ist eine Leistung, keine Tatsache – die Erschaffung einer bestimmten Art der Entwicklungslinie von Ereignissen.«1
Die Soziologie hat ein problematisches Verhältnis zur Prozessualität ihrer Gegenstände. Denn erstens fällt es ihr nicht gerade leicht, volatile Verhältnisse und Phasen analytisch zu durchdringen. Ihre Stärke liegt eher darin, stabile Zustände und Entitäten zu untersuchen und auf Begriffe zu bringen. Sprechen Sozialwissenschaftlerinnen2 von »Staat«, von »Kapitalismus«, von »Organisationen«, »Klassen« oder von »Familie«, so meinen sie damit zwar in der Regel historisch gewordene und sich wandelnde Gebilde – aber doch eben Gebilde, mehr oder weniger »feste« Phänomene, die sich als solche erfassen und in ihrem Verhältnis zueinander definieren lassen.3 Zweitens ist offensichtlich, dass noch stets eine gewisse Spannung bestand zwischen den Theoretisierungen sozialer Gebilde sowie ihrer Relationen zueinander einerseits und diversen prominenten Begriffen andererseits, die sich auf langfristige Transformationen von Sozialität beziehen, darunter »Modernisierung«, »Rationalisierung«, »Differenzierung« oder »Individualisierung«. Es handelt sich hier insofern um »gefährliche Prozessbegriffe«4, als sie von Beginn an mit einem Bündel empirischer und konzeptioneller Fragen konfrontiert waren, etwa ob und inwiefern die betreffenden Transformationen das Gebilde, in dem sie ihren Ausgang nehmen, nicht letztlich auflösen und dadurch ihre Konturen verlieren, ob und inwiefern es sich nur um gedankliche Abstraktionen oder um reale Vorgänge gesellschaftlicher Makrodetermination handelt und ob und inwiefern die Begriffe eher deskriptiv oder eher normativ angelegt sind. Paradoxerweise sind diese Begriffe bis heute deshalb so gegenwärtig, weil sich praktisch jede neue Generation von Forschenden kritisch mit ihnen auseinandersetzt.
Die üblichen Prozessbegriffe zählen also vornehmlich aufgrund ihrer Problematisierung zum soziologischen Kanon, nicht aufgrund ihrer Affirmation. Das ist keineswegs unproduktiv. Die stete Unzufriedenheit mit Bewegungsbegriffen mündet regelmäßig in Diskussionen, die mal enger, mal weiter die Frage der Prozessualität des Sozialen adressieren – zumindest in der deutschsprachigen Forschung, auf die wir uns hier zunächst beschränken.5
Die immer wieder aufflammenden Diskussionen dürfen jedoch nicht darüber hinwegtäuschen, dass die Soziologie erfolgreicher darin ist, den Prozessbegriff zu problematisieren, als positiv zu bestimmen, was er bezeichnen soll und leisten kann.6 Kein Wunder, dass »Prozess« trotz seiner Allgegenwart nicht einmal ansatzweise das Maß an Aufmerksamkeit in einschlägigen Selbstverständigungsschriften findet, wie es bei anderen Fundamentalkonzepten wie »Institution«, »Struktur« oder »Handlung« der Fall ist.7 So findet sich im Lexikon Soziologie und Sozialtheorie,8 das im Untertitel immerhin Hundert Grundbegriffe verspricht, erst gar kein Eintrag zu »Prozessen«, wohl aber zu »Differenzierung«, »Globalisierung« oder »Individualisierung«, die dann allesamt – Überraschung! – als Prozesse gelten.9 Auch im Wörterbuch der Soziologie, in den Soziologischen Stichworten und dem Kompendium der Soziologie finden sich keine nennenswerten Ausführungen.10
Um es abzukürzen: Die Liste der Fehlanzeigen ließe sich problemlos verlängern. Der Punkt sollte jedoch deutlich geworden sein. Obwohl der Prozessbegriff in der Regel als so bedeutsam anerkannt wird, dass auf ihn kaum verzichtet werden kann, ist die Bereitschaft in der Soziologie, sich mit diesem Begriff näher auseinanderzusetzen oder gar die grundlegende Frage nach der prinzipiellen Prozesshaftigkeit des Sozialen zu stellen, eher gering. Sie war hier sozialtheoretisch schon einmal weiter, war doch die Prozesshaftigkeit menschlicher Vergesellschaftung eine zentrale Prämisse der sogenannten Chicagoer Schule der Soziologie.11
Es gibt gegenwärtig nur einige wenige Ausnahmen von dieser weitgehenden soziologischen »Prozessignoranz«, aber es gibt sie. Eine der prominentesten Ausnahmen ist der Chicagoer Soziologe Andrew Abbott, den wir in diesem Band mit einer Auswahl zentraler Aufsätze einem deutschsprachigen Publikum vorstellen möchten.
Abbott, Jahrgang 1948 und seit 1991 Professor für Soziologie an der University of Chicago, ist zeit seines Forscherlebens auf der Suche nach einer prozessualen Soziologie. Das hat ihm in Nordamerika, seit einigen Jahren verstärkt auch in Frankreich erhebliche Reputation eingebracht, während die Rezeption seiner Arbeiten in den deutschsprachigen Sozialwissenschaften noch recht verhalten ist. Dabei ist er mit seiner unentwegten Suche ohne Zweifel eine der prägenden Figuren der aktuellen US-amerikanischen Soziologie, was sich auch daran zeigt, dass er eine enorm lange Zeit, nämlich zwischen 2000 und 2016, als Herausgeber des prestigeträchtigen American Journal of Sociology wirkte. Gleichzeitig ist er – eigentümlicherweise – bis heute in disziplinärer Hinsicht randständig geblieben, ist er weder schulbildend noch debattenprägend geworden, auch wenn er keiner Kontroverse ausgewichen ist. Reputation und Randständigkeit, eine auf den ersten Blick widersprüchliche Charakterisierung seiner Stellung in der internationalen Soziologie, ist dabei – wie zu zeigen sein wird – die Konsequenz seiner Suche nach einer genuin temporal angelegten Sozialtheorie.
Wer sich mit den Arbeiten Abbotts befasst, kommt nicht umhin, sich gleichzeitig damit auseinanderzusetzen, wie sich die Soziologie als Disziplin entwickelt hat. Das liegt zum einen daran, dass Abbott die Soziologie selbst als einen empirischen Untersuchungsgegenstand behandelt, dem er sich regelmäßig widmet, um nicht nur wissenschaftssoziologische, sondern auch sozialtheoretische Argumente voranzutreiben. Zum anderen ist Abbott über seine gesamte Forscherbiografie hinweg ein Suchender, wobei er immer wieder die Soziologie als Ausgangs- und Bezugspunkt nimmt. Dabei lassen sich mindestens drei Dimensionen dieser Vorgehensweise unterscheiden. Erstens, so ließe sich in lockerer Anlehnung an Marcel Proust formulieren (ohne dass Abbott diesen Bezug allerdings selbst herstellt), ist er auf der Suche nach der verlorenen Zeit. Es geht ihm darum, die Temporalität des Sozialen als zentralen Aspekt sozialwissenschaftlicher Methodologie und soziologischer Theoriebildung zu verankern. Die Soziologie hat diesen Aspekt in den vergangenen Jahren – wie einleitend skizziert – zwar nicht komplett verloren. Sie hat ihn, mit einigen wenigen Ausnahmen, über die wir später noch sprechen werden, allerdings weitgehend vernachlässigt.
Zweitens zielt Abbott auf sozialtheoretische Anschlussfähigkeit ab. Er findet eine Disziplin vor, in der seine Argumente zunächst kaum Gehör finden, da sie für gewöhnlich auf Basis grundlegend divergierender Prämissen verfährt. Das macht die Aufgabe, ihn und einen Band mit Aufsätzen von ihm vorzustellen, nicht gerade leicht, hat man doch einen Autor zu präsentieren, der einerseits eine einflussreiche und auch mächtige Figur in der internationalen Soziologie ist, dessen Werk aber andererseits aufgrund seiner idiosynkratischen Positionen, seiner Begriffsbildung und seines Argumentationsstils durchaus immer wieder auf Rezeptionsschwierigkeiten und Irritationen gestoßen ist. Das gilt insbesondere für den deutschen Sprachraum, in dem Abbott – auch wenn es vereinzelte Übersetzungen gibt12 – im Unterschied zur wesentlich breiteren Rezeption in Frankreich oder Spanien eher eine unbekannte Figur geblieben ist.
Drittens schließlich ist, was zunächst überraschen mag, Abbott ständig damit beschäftigt, eigene Positionen zu revidieren. Er arbeitet fortlaufend daran, seine bisherigen Prämissen, Konzepte und Standpunkte zu überdenken, zu modifizieren oder auch fallen zu lassen, wie er selbst immer wieder sehr eindrücklich einräumt, vor allem in den Einleitungen zu seinen beiden Aufsatzbänden, Time Matters aus dem Jahr 2001 und Processual Sociology von 2016. Aus beiden Bänden stammen auch die hier vorgelegten Übersetzungen. Es handelt sich um Schlüsseltexte, die treffend abbilden, wie die Suchbewegungen nach der verlorenen Zeit (Abschnitte II und IV), nach sozialtheoretischer Anschlussfähigkeit (III) und nach der nächsten Revision eigener Standpunkte (V) letztlich zu einer Position führten, die Abbott in ein interessantes Verhältnis zu gegenwärtigen Debatten in der Soziologie (VI) setzt.
IIAuf der Suche nach der verlorenen Zeit
Das Œuvre Abbotts hat eine enorme Bandbreite. Er hat sich in zahlreichen Forschungsfeldern engagiert, von der Soziologie der Professionen über die Geschichte der Soziologie bis hin zur Wissenssoziologie und Sozialtheorie. Seine Argumente sind dabei oft auf Widerstände, nicht selten aber auch auf verständnisloses Achselzucken gestoßen – das ist zum Teil bis heute noch so.13 Eine Erklärung liefert der Blick auf die Frühphase seines Schaffens, die 1980er Jahre, auch wenn man sich dadurch – hiervon wird noch die Rede sein – nicht zur Annahme verleiten lassen sollte, durch Abbotts Werkbiografie ließe sich problemlos ein roter Faden ziehen.
Einigen Spezialistinnen dürfte Abbott, der in den späten 1960ern und frühen 1970ern in Harvard Geschichte und Literaturwissenschaft studiert hatte und daraufhin Graduate Student im Department of Sociology der University of Chicago geworden war, zunächst durch zwei fulminante Aufsätze bekannt geworden sein, die in den frühen 1980er Jahren in einem Methodenjournal der US-amerikanischen Historikerzunft erschienen waren: Sequences of Social Events: Concepts and Methods for the Analysis of Order in Social Processes (1983) und Event Sequence and Event Duration: Colligation and Measurement (1984).14 Schon die sehr technisch klingenden Titel der beiden Aufsätze machen auf eine Problemstellung aufmerksam, die Abbott seither beschäftigt, nämlich die Analyse sozialer Prozesse und die Theoretisierung der damit einhergehenden Grundsatzfragen der Sozialwissenschaften.
Insbesondere dem 1983er-Aufsatz ist Abbotts literaturwissenschaftliche Ausbildung anzumerken, beschäftigt sich Sequences of Social Events doch schwerpunktmäßig – und mithilfe strukturalistischer Erzähltheorien – mit der Frage einer narrativen Ordnung des Sozialen, also wie erzählerische Mittel soziale und historische Ereignisse in eine bestimmte Reihung bringen und welche sozialtheoretischen Prämissen dabei mehr oder weniger stillschweigend einfließen. Das hier analysierte Thema ist natürlich nicht nur für die Literatur- oder die Geschichtswissenschaft von zentraler Bedeutung, sondern ebenso für die Soziologie – obwohl bis dato wenig diskutiert. Auch sie thematisiert ja den ständigen Wechsel zwischen stabilen Zuständen einerseits und sozialen Wandlungsformen andererseits, wobei freilich nur selten explizit geklärt wird, wie genau die unter die bekannten Prozessrubriken gefassten Ereignisse miteinander zusammenhängen oder verkettet sind.
Abbott macht sich im genannten Aufsatz dagegen in systematischer Absicht auf die Suche nach den divergierenden theoretischen Vorstellungen von Ereignisordnungen, die in der Soziologie unzweifelhaft vorhanden sind. Er diskutiert dann gleichermaßen kontinuierliche Modelle, die einen schleichenden Wandlungsprozess unterstellen (darunter historistische Erklärungen oder Evolutionssequenzen), wie diskontinuierliche Ansätze, die Sozialität in prozessualer Hinsicht mit Verweis auf ein wiederkehrendes Auftreten massiver Brüche des Gewohnten charakterisieren.15 Solche Sequenzmodelle, zu denen die vielfach verwendeten »Lebenszyklen« oder auch »Karrieren« zählen, sind jedoch, wie Abbott feststellt, aufgrund ihrer Simplizität zumeist mit erheblichen Problemen konfrontiert, insofern sie kaum je die tatsächliche Volatilität der identifizierten Prozesse und/oder das Zusammenstoßen je unterschiedlicher Prozesse und deren differierende Zeitlichkeit und Länge in Rechnung stellen.16 Die Konsequenz ist, dass es dann nicht zufällig, sondern theorieimmanent kaum je gelingt, in all diesen Prozessen Kontingenzen einzufangen. Das zentrale Problem sind dabei oftmals höchst simplifizierende Annahmen über die Variablen, welche die Prozesse jeweils vorantreiben sollen.17 Wie Abbott ausführt, liegt Variablenvorstellungen oft selbst wieder ein höchst vereinfachtes und damit problematisches Modell von Kausalität zugrunde, wonach der Wert einer Variable gewissermaßen ohne jeglichen Kontext, also auch ohne die Vorgeschichte des Wertes dieser Variable zu kennen, richtig eingeschätzt werden könne. Dagegen behauptet Abbott zu Recht, dass die Kausalwirkung von Variablen immer lokal sei, dass sie sich also nicht einfach auf andere Situationen übertragen lasse, eine Operation, die aber nichtsdestotrotz in den meisten statistischen Verfahren unreflektiert vorgenommen wird.
Abbott bezweifelt, dass Modelle interdependenter Variablen generalisierende Kausalaussagen erlauben. Er fragt deshalb provokant, ob man Generalisierungen nicht auch über Geschichten im Sinn von Narrativen anstreben sollte, weil solche »Storys« oft genügend Einheit und Kohärenz aufweisen, sich mithin auch formalisieren lassen. Könnte man nicht auch fragen, ob bestimmte Storys und Sequenzabfolgen immer wieder auftauchen? Abbott wird bei seinen späteren Versuchen der Entwicklung einer Prozesssoziologie, die hohen theoretischen wie methodischen Ansprüchen genügt, auf diese Frage erneut zurückkommen und dabei auf eine Position zusteuern, die dann nur noch wenige Gemeinsamkeiten mit konventionellen Annahmen soziologischen Forschens aufweist.
Zunächst möchten wir jedoch noch darauf aufmerksam machen, dass in diesem frühen Aufsatz bereits ein theoretischer Sachverhalt auftaucht,18 den Abbott zukünftig ins Zentrum all seiner Überlegungen stellen wird: Ihm zufolge sind nämlich viele, wenn nicht die meisten statistischen Modelle, aber auch zahlreiche nicht formalisierte Prozessbehauptungen, wie sie in der Soziologie gang und gäbe sind, auf fragwürdige Kausalannahmen gebaut. Der theoretische Sachverhalt, um den es Abbott hier geht, ist die irrige Unterstellung einer allgemeinen Linearität kausaler Verhältnisse, die es ihm zufolge zu verwerfen gilt. Er problematisiert insbesondere sechs Annahmen innerhalb dieses Weltbildes einer »allgemeinen Linearität kausaler Verhältnisse« (General Linear Reality),19 das sich auch deshalb so lange und hartnäckig hält, weil die Soziologie aus seiner Sicht kein angemessenes Zeitverständnis besitzt. Es handelt sich um die Annahmen,
1)dass die soziale Welt immer schon aus festen, abgrenzbaren und insofern leicht zu identifizierenden Einheiten bestehe, denen lediglich ein sich zeitlich ändernder Wert zugeschrieben werden müsse – beispielsweise die Durchgriffsfähigkeit eines vorhandenen Staatsapparates, die je nach Beamtenzahlen zu- und abnimmt, die Stärke einer klar zu beschreibenden Arbeiterklasse, die sich – gemessen an den Zahlen zur Parteizugehörigkeit – verändert etc.;
2)dass Kausalität vom Großen zum Kleinen verlaufe, also große und massive soziale Veränderungsprozesse auch durch ebenso bedeutende Kausalstränge (und nicht durch kleine Zufälle) herbeigeführt würden;
3)dass das Attribut, also der Wert einer Einheit, eine und nur eine kausale Wirkung habe;
4)dass die Ordnung und Reihung der Ereignisse für ein Kausalgeschehen keinen großen Unterschied ausmachten (mit Ausnahme der banalen Einsicht, dass das Explanans zeitlich vor dem Explanandum zu verorten sei);
5)dass die Einheiten und die von ihnen ausgehenden Kausalwirkungen als unabhängige Fälle zu behandeln seien, dass man also eine strukturelle Determiniertheit vernachlässigen könne;
6)dass Ereignisse im Sinne von Variablen unabhängig vom Kontext immer die gleiche Wirkung entfalteten.20
Ein solches Weltbild, so Abbott, sei zwar im Hinblick auf die meisten statistischen Verfahren, auch im Hinblick auf die meisten sozialwissenschaftlich-theoretischen Argumente insofern sehr praktisch, als sich damit Zusammenhänge vergleichsweise einfach darstellen und modellieren lassen. Vergessen wird dabei aber, dass all dieses Rechnen und Modellieren auf den eben genannten Annahmen beruht, die mehr oder minder zweifelhaft sind. Abbott zieht daraus den – in den frühen Aufsätzen eher tentativen, später dann sehr viel systematischer herausgearbeiteten – Schluss, dass Ereignisse und Prozesse stets lokalen Charakter haben. Sie sind, um es ethnomethodologisch zu formulieren, unvermeidlich indexikal, sodass ihre Analyse eine Art holistischen Zugriff erfordert. Dafür greift er auf den Terminus »Ökologie« zurück, der in der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts bereits ein Schlüsselbegriff der Chicagoer Schule der Soziologie war, dann aber etwas in Vergessenheit geraten ist.21 Abbott wird das Konzept insbesondere in seiner Studie The System of Professions stark machen, um »fields of contextuality« zu begreifen.22 Darauf kommen wir zurück.
Abbott startet also schon als junger Nachwuchswissenschaftler eine massive Attacke auf zentrale Annahmen sozialwissenschaftlicher Methodik und Theoriebildung. Mit dem zweiten schon genannten Aufsatz »Event Sequence and Event Duration« wirft er die vor allem die Soziologie irritierende, aber in der Geschichtswissenschaft und erst recht in der phänomenologisch orientierten Philosophie längst verhandelte Frage auf, ob nicht der Erzählung in den Sozial- und Humanwissenschaften wieder eine sehr viel stärkere Bedeutung gegeben werden müsse. Nur sie – also letztendlich: die Praktik der Erzählung – sei in der Lage, Ereignissen wirklich gerecht zu werden.23 Das zieht die weitere Frage nach sich, was denn überhaupt als ein (historisches oder soziales) Ereignis zu gelten und wie man es zu definieren habe.24 Abbott unterzieht sich auch hier der Anstrengung einer Grundlagenreflexion und befasst sich – wie Historikerinnen und Philosophen auch – damit, ob Ereignisse nur durch das Mittel der Erzählung (Storys!) einzufangen und darstellbar seien.25 Er geht jedoch noch einen Schritt weiter als die meisten von ihnen, indem er die Unterscheidung zwischen »events« und »occurrences«, also zwischen Ereignissen und Vorkommnissen, einfordert, da sie aus seiner Sicht entscheidend ist, wenn man als Soziologe nicht nur erzählen, sondern auch generalisieren will.
»Events« sind im Prinzip abstrahierte Konzepte, »occurrences« dagegen »the actual happenings we use to indicate that an ›event‹ has taken place«.26 Um ein Beispiel aus der Psychiatrie und der Professionssoziologie zu geben, mit der sich Abbott seit den späten 1970er Jahren beschäftigte: Der Sachverhalt der Existenz eines systematisch-medizinischen Unterrichts wäre als ein Ereignis (Konzept) zu bezeichnen, während die Einrichtung von medizinischen Schulen an verschiedenen Orten und zu verschiedenen Zeiten eine mögliche Okkurrenz wäre, ein Vorkommnis, das auf die Existenz eines solchen Ereignisses hinweist.27 Umgekehrt kann ein Vorkommnis Teil vieler denkbarer anderer Ereignisse sein, insofern sich etwa die Einrichtung medizinischer Schulen auch als eine Okkurrenz im Hinblick auf das als Ereignis zu wertende Aufkommen eines staatlichen Konjunkturprogramms verstehen lässt.
Die Unterscheidung hat zentralen Stellenwert für Abbott, weil es mit ihr zum einen möglich ist, genauer darzulegen, was im Hinblick auf ein theoretisch interessantes Phänomen genau erklärt werden soll – und was gewissermaßen »nur« aufschlussreiche Daten zur Analyse dieses Ereignisses sind. Abbott bemüht sich somit, ein Ereignis nicht über die vermeintlich auf der Hand liegende Bedeutung eines historischen Phänomens zu definieren, nach dem Motto: Jeder sieht doch, dass die deutsche Wiedervereinigung, die klimapolitische Entscheidung der Kanzlerin, ein antisemitisches Pogrom, eine Leitzinserhöhung einer Zentralbank etc. jeweils ein wichtiges Ereignis ist.28 Vielmehr theoretisiert er ein Ereignis von vornherein als Konzept. Er möchte damit die willkürliche Zuschreibung von »ereignishafter« Bedeutsamkeit an alle möglichen historisch-sozialen Phänomene verhindern, vor allem geht es ihm aber darum, überhaupt bestimmte Gegenstände als (problematische) Entitäten begreifen zu können. Damit adressiert er zum anderen ein für alle Sozialwissenschaftlerinnen zentrales Problem, wie es auch im Aufsatztitel mit dem dortigen Verweis auf jenes schwer ins Deutsche übersetzbare Wort »colligation« aufscheint: Hier wird die Frage angeschnitten, wie Vorkommnisse verknüpft sind. Gemeint ist damit das begründungsbedürftige Zusammenziehen von bestimmten empirischen Vorkommnissen zu einem ereignisförmigen Gesamtphänomen. Ein Beispiel ist die von Historikerinnen wie von Soziologen zu lösende Frage, ob und wie Bismarcks außenpolitische Schachzüge aus der Zeit vor 1870/71 konstitutiver Teil eines Gesamtplans zur Schaffung des Deutschen Reiches waren oder eben nicht, was genau also als indikative Einheit der Analyse zu gelten habe und was nicht. Forschende stehen somit vor der Aufgabe, nach den empirischen Elementen der Kolligation zu fragen, wobei es sich nicht zwingend nur um konkrete Subjekte handeln muss. Abbott sieht nämlich jede Form des methodologischen Individualismus kritisch, da er geltend macht, dass Individuen nicht per se oder von vornherein die maßgeblichen Einheiten sind, die soziale Prozesse antreiben.29
Das Problem der Kolligation ist alles andere als trivial, wie Abbott selbst bei seiner 1988 erschienenen, sehr viel Aufmerksamkeit hervorrufenden und in der Tat bahnbrechenden30 Studie The System of Professions mit dem stark zum Understatement tendierenden Untertitel An Essay on the Division of Expert Labor zu spüren bekam. Mit diesem Grundlagenwerk, das sicherlich kein bloßer Essay ist, wendet er sich gegen die herrschende Professionssoziologie der damaligen Zeit, die grob formuliert in zwei konkurrierende Lager zerfallen war: ein auf die Arbeiten von Talcott Parsons rekurrierendes Lager einerseits, das Professionen in erster Linie wertfunktionalistisch über ihre akademischen Ausbildungsgänge und dann vor allem ethischen Standesregeln definierte, was diese Professionen vom sonstigen utilitaristischen Geschehen auf dem kapitalistischen (Berufs-)Markt deutlich abhob, obwohl sie in der Tat dessen integraler Teil waren;31 und ein etwa von Magali Sarfati Larson geprägtes konflikttheoretisches Lager andererseits, das Professionen zuallererst unter dem Aspekt der Eroberung von Marktnischen und der Gewinnung von Ressourcen analysierte, wenn es ihnen gelang, Expertenwissen als exkludierende Machtquelle zu nutzen.32 Abbott verschließt sich zwar keinem der beiden Lager, dennoch ist seine Herangehensweise eine grundsätzlich andere.33
Abbotts Zugriff auf Professionen zeichnet sich zunächst einmal dadurch aus, dass er sein Hauptaugenmerk auf die konkrete Tätigkeit von Professionen richtet, auf Okkurrenzen professionellen Arbeitens, wobei ihm unmittelbar auffiel, ja auffallen musste, dass Professionen gewissermaßen immer schon mit anderen Berufen zusammenarbeiten, Ärzte und Ärztinnen also mit Pflegern, OP-Schwestern etc., was insgesamt eine bestimmte Form der Arbeitsteilung konstituiert, die historisch gewachsen ist und sich zugleich stets transformiert. Wie sich dann, als »event«, die Profession des Arztes herauskristallisiert und verändert, ist dabei nicht abgelöst zu sehen von konkurrierenden Berufen, die ärztliche Tätigkeiten gewissermaßen begleiten. Hier spricht Abbott wie angedeutet von Ökologie: Die Ausdifferenzierung eines Berufs ist gleichbedeutend mit einer solchen, die historisch gewachsen ist bzw. wächst – und an die sich weitere Ökologien von zum Teil ganz anderen Professionen anschließen.34 Das bedeutet zugleich, dass die Analyse von Professionen immer schon die Analyse eines dynamischen Prozesses in einem raumzeitlich begrenzten Kontext ist.35 Dieses unmittelbar interaktive Geschehen war von den bisherigen Professionsforscherinnen zumeist eher vernachlässigt worden. Damit verbunden kritisiert Abbott, dass die herkömmliche Professionssoziologie, die sich in der Vergangenheit sehr stark auf Anwälte oder Mediziner konzentriert hatte, überwiegend teleologisch argumentiert, weil sie zwar mit Blick auf die Organisationsweise dieser Professionen in und mittels Berufsverbänden und Kammern ganz gut zeigen kann, wie diese die Anwendung von Wissen kontrollieren und monopolisieren, aber nicht, wie diese organisatorischen Formen selbst entstehen und manchmal Erfolg haben, manchmal aber eben auch nicht.36 Abbott schließt daraus, dass eine jede Professionssoziologie zu beginnen hat »with case studies of jurisdictions and jurisdiction disputes«37, was ihn gleichsam zu einer zentralen prozesstheoretischen Einsicht führt:
»Since jurisdiction is the defining relation in professional life, the sequences that I generalize are sequences of jurisdictional control, describing who had control of what, when, and how. Professions develop when jurisdictions become vacant, which may happen because they are newly created or because an earlier tenant has left them altogether or lost its firm grip on them.«38
Das bedeutet Abbott zufolge dann aber auch, dass man mit Blick auf Professionen nicht von einer einmal gegebenen Identität zu sprechen hat, sondern von einem ständigen, die Profession insgesamt erst konstituierenden Aushandlungsprozess, der eben nur über Ereignissequenzen zu analysieren ist.
The System of Professions weist dabei über die Professionssoziologie hinaus. Schon in der Einleitung erklärt Abbott ohne große Zurückhaltung, dass er die ganze Unternehmung auch als eine Auseinandersetzung darüber verstehe, wie Historische Soziologie angemessen betrieben werden solle.39 Er richtet sich damit in kritischer Absicht an die damals aufblühende, vor allem US-amerikanische Historische Soziologie mit den Protagonist(inn)en Theda Skocpol und Charles Tilly. Mit seiner Studie zeigt er, wie schwierig eine historisch-soziologische Analyse von sozialen Einheiten ist, die vermeintlich klar identifizierbar und voneinander abgrenzbar scheinen – und wie man sie dennoch vorantreiben kann. Anstatt Staaten, Klassen oder soziale Bewegungen als fixierte Einheiten und Entitäten zu behandeln, deren Variablenwert sich allenfalls mit der Zeit änderte und deren Zusammenwirken man deshalb problemlos über das numerische Spiel der Aufzählung von notwendigen oder hinreichenden Bedingungen modellieren kann, um das (Nicht-)Zustandekommen von Revolutionen oder kollektiver Gewalt zu erklären, bewegt sich Abbott in eine ganz andere Richtung. Mit Argumenten, die nahe an die Geschichtswissenschaft heranrücken, macht er darauf aufmerksam, dass sich solche Einheiten (wie eben Professionen) in ständigen Konstitutions- und Transformationsprozessen befinden, in denen es nicht bloß um nominale Werte geht. All dies erlaubt es deshalb nicht, den Kontext von irgendwelchen makrosozialen Variablen (seien es der Staat, die Klasse oder eben die Profession) zu vernachlässigen, weil Variablen nur in einem ebensolchen sozialen und historischen Kontext ihren kausalen Wert erhalten, somit die Stärke eines Staatsapparates und einer nationalen Arbeiterklasse gemessen an der Zahl der Steuereinnahmen und der organisierten Gewerkschaftsmitglieder für sich genommen wenig aussagt.