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Kapitel 7

Hilko Boyen bewohnte ein prächtiges Haus mit Kontor in der Nähe des Norder Hafens. Sonntags hielt er sich meist bei den Eltern seiner Frau auf, die in dem Dorf Wilsum in der Nähe von Norden lebten.

Rimberti hatte dort durch einen Boten ihren Besuch für die Zeit nach dem Gottesdienst ankündigen lassen. Nun aber waren er und Fockena so gut auf der halbwegs passierbaren Straße vorangekommen, dass der Gottesdienst noch längst nicht zu Ende war, als sie an der Kirche vorbeikamen.

Sie gingen leise hinein. Der Pfarrer stand vor dem Altar und sprach mit der Gemeinde das Glaubensbekenntnis in deutscher Sprache. Er trug nicht das bunte Messgewand des Priesters, sondern einen schwarzen Talar mit einem weißen Kragen. Bevor der Pfarrer vom Altar wegtrat und die Gemeinde das nächste Lied sang, nickte er einem anderen Mann zu, der ebenfalls in Schwarz gekleidet war und nun gemessenen Schrittes auf die Kanzel zuging.

Lübbert Rimberti und Ulfert Fockena blieben im halbdunklen hinteren Teil der Kirche. Sie versuchten, den Kaufmann Hilko Boyen auszumachen, und sahen, dass in der Nähe der Kanzel zwei Priechen aufgebaut waren: Sitzplätze, die mit einer Art Holzgehäuse verkleidet waren, um sie von der übrigen stehenden Gemeinde ein wenig abzuschirmen. Rimberti sah wohlhabend gekleidete Familien dort sitzen. Da er Boyen nicht kannte, konnte er nur vermuten, dass der mit seiner Frau und den zwei Söhnen in der Prieche gegenüber der Kanzel saß.

Als der Prediger die Kanzel bestieg und sich der Gemeinde zuwandte, war Rimberti überrascht: Es war Andreas Karlstadt. Rimberti hatte ihn seit etlichen Jahren nicht mehr gesehen. Er kannte Karlstadt aus seiner Wittenberger Studienzeit, und es waren nicht nur gute Erinnerungen, die ihm in den Sinn kamen.

Karlstadt war Professor in Wittenberg gewesen. Er war mit Luther ein wichtiger Streiter für den evangelischen Glauben gewesen. Eigentlich war sein Name Andreas Bodenstein, aber meist ließ er sich nach seinem Geburtsort Karlstadt nennen.

Zu den bewegendsten Erinnerungen Rimbertis an seine Wittenberger Studienzeit gehörte der Weihnachtsgottesdienst 1521 in der Stadtkirche. Luther hatte sich in seinem Versteck auf der Wartburg aufgehalten, und Karlstadt hatte damals die Erneuerung der Kirche weiter vorangetrieben. Die Stadtkirche war voller Menschen gewesen. Nahezu alle Einwohner Wittenbergs mussten gekommen sein, um den ersten Gottesdienst nach evangelischer Ordnung mitzufeiern. Zum ersten Mal hatte Rimberti die Predigt in deutscher Sprache gehört. Und zum ersten Mal hatte er bei der Messe nicht nur die Hostie erhalten, sondern auch den Kelch in die Hand genommen und daraus getrunken. Seine Hände hatten gezittert. Karlstadt selbst hatte als leitender Geistlicher und Prediger in diesem Gottesdienst kein buntes Messgewand getragen, sondern seinen schwarzen Gelehrtentalar.

Rimberti erinnerte sich an Karlstadts Abreise aus Wittenberg. Während Luther sich auf der Wartburg verborgen halten musste, war es in Wittenberg zu Ausschreitungen gekommen. Selbst ernannte Propheten traten auf und nahmen in Anspruch, Offenbarungen Gottes empfangen zu haben. Kirchen wurden geplündert, Bilder und Figuren zerstört.

Man hatte Karlstadt für die Unruhen verantwortlich gemacht und ihm verboten, öffentlich zu predigen. Karlstadt war der Arbeit an der Universität überdrüssig geworden. Damals hatte er sich auf sein Landgut bei Wörlitz zurückgezogen. Rimberti hatte in den Jahren danach immer wieder einige von Karlstadts Schriften gelesen und von dessen unruhigem Wanderleben gehört, bis Karlstadt zuletzt wieder in Gnaden in Wittenberg aufgenommen worden war und mit seiner Familie unter bedrückenden Verhältnissen leben musste.

Warum war Karlstadt hier? Wollte Graf Enno ihm eine Pfarrstelle geben? Oder sollte Karlstadt der leitende Theologe für die anstehende Kirchenreform in der Grafschaft werden?

Die Gemeinde stimmte die letzte Strophe an, und Karlstadt ließ seinen Blick über die Menschen schweifen.

Rimberti betrachtete ihn genau. Gealtert sah Karlstadt aus. Und müde. Rimberti bemerkte, dass einige Männer einander Handzeichen machten. Was hatten sie vor?

»So spricht Christus: Mein Haus ist ein Bethaus und ihr macht eine Mördergrube daraus!« Karlstadt begann seine Predigt. Eine Energie schien ihn zu durchströmen, die seine Worte kraftvoll und lebendig machte.

Mit beiden Händen wies er auf die beiden Nebenaltäre, die dem heiligen Nikolaus und dem heiligen Georg geweiht waren, und fuhr fort: »Diese Bilder sind Lügner und Mörder. Sie trügen euch und töten alle, die sie anbeten. Dass wir sie mit bunten Farben bemalen und mit Gold bekleiden, zeigt, dass wir sie lieben und nicht Gott. Gott hasst Bilder und betrachtet sie als Gräuel. In Gottes Augen werden Menschen das, was sie lieben. Die Bilder der Ölgötzen aber sind widerwärtig, folglich werden auch wir widerwärtig werden, wenn wir sie lieben und anbeten. Es wäre tausendmal besser, die Bilder ständen in der Hölle und im feurigen Ofen als in Gottes Häusern. Sie machen den Tempel Gottes zu einer Mördergrube, denn sie töten unseren Geist und unseren Glauben.«

Karlstadt wurde immer heftiger, und Rimberti musste an den Bildersturm in Wittenberg denken, den er als Zuschauer miterlebt hatte: Grölende Männer zogen durch die Kirchen und warfen mit Steinen und Unrat nach den Priestern, die an den Altären Messen lasen. Mit Äxten wurden Heiligenfiguren zerschlagen und vor der Kirche zusammen mit Büchern und Priestergewändern verbrannt.

»Gott wird dich fragen!« Karlstadt erhob seine Stimme. Eindringlich sah er einzelne Personen in der Gemeinde an. Es war so still in der Kirche, dass Rimberti das schwere Schnaufen von Fockena hinter sich hören konnte.

»Gott wird dich fragen«, wiederholte Karlstadt eindringlich. »Warum kannst du nicht genug bekommen, dass du Bilder und Ölgötzen in meinem Hause stehen lässt? Wie kannst du so dreist sein, dass du dich in meinem Hause vor Bildern verneigst und vor ihnen kniest, obwohl Menschen sie mit ihren Händen gemacht haben? Diese Ehre steht allein mir zu! Ihnen bringst du Opfer und dankst ihnen für Leib und Leben und Gut. Aber sie haben dir nichts gegeben. Alles hast du von mir. Und nun betest du fremde Götter an.«

Atemlos nahm die Gemeinde jedes einzelne Wort auf.

Karlstadt holte einmal tief Luft und sprach dann eindringlich und konzentriert weiter: »So spricht der Prophet Hosea im Namen Gottes zu seinem Volk: ›Ich habe sie ernährt und hochgebracht, aber sie verachten mich.‹ So rennen wir, Schwestern und Brüder, zu den toten Ölgötzen, wie Krähen und Raben sich auf Aas und einen Leichnam stürzen. Wir schmähen Gott in seinem eigenen Haus. Dabei ist es uns geboten, diese Bilder und Götzen aus dem Hause Gottes fortzuschleppen.«

»Die da vorn führen doch etwas im Schilde«, brummelte Fockena. Er knuffte Rimberti in die Seite und nickte zu den Männern hin, die vorn bei den Nebenaltären standen und zwischendurch Blicke austauschten.

Erst jetzt erkannte Rimberti den Mann, der halb verdeckt hinter einer Säule stand. Es war der Bärtige mit der Narbe auf der Wange, der vorgestern Abend mit Berend Sanders in der Schänke gesprochen hatte.

Rimberti hörte nicht mehr auf die Predigt. All diese Argumente hatte er zu oft gelesen und gehört. Dass mit dem Geld für Heiligenbilder vielen Armen geholfen werden konnte, war ihm natürlich klar. In seiner jetzigen Heimatstadt war auch vor einigen Jahren eine reformierte Kirchenordnung erlassen worden. Man hatte auf Anordnung der Regierung die Nebenaltäre und Heiligenfiguren aus der Kirche entfernt. Das war ohne Aufruhr und Bildersturm geschehen. Die Altarbilder, Skulpturen und Reliquien hatte sein Landesherr gewinnbringend an die römischen Bischöfe der Region verkauft und mit dem Erlös den Grundstock einer Armenkasse gelegt. In den letzten Jahren hatte sich jedoch herausgestellt, dass die Spenden für die Armenkasse bei Weitem geringer ausfielen als die Stiftungen für Heiligenfiguren, Altarbilder und Messen in den Jahren zuvor.

Rimberti beobachtete, dass der Narbige ganz am Rand der Gemeinde stand und sich unbeteiligt gab. Aber er war es, zu dem andere aus der Gemeinde immer wieder blickten. Der Narbige fasste seinen Sitznachbarn am Arm, einen kräftigen Mann mit roter Gesichtsfarbe und buttergelbem Haar. Er flüsterte ihm etwas zu.

»So spricht der Herr!« Karlstadts Stimme wurde auf einmal wieder heftig und überschlug sich: »Ihre Altäre sollt ihr einreißen, ihre Steinbilder zerbrechen, ihre heiligen Holzbilder umhauen und ihre Götzenbilder mit Feuer verbrennen.«

Für einen Moment wurde es ganz still in der Kirche. Rimberti sah, wie der Mann mit der Narbe den anderen zunickte und dem rotgesichtigen Mann neben sich kurz die Hand auf die Schulter legte. Sofort stand dieser auf. Er stiefelte ein paar Schritte in den Altarraum und griff sich eine kleine Skulptur des Heiligen Georg mit dem Drachen, die dort in einer Wandnische stand.

»So haben wir’s gehört. So müssen wir’s tun. Des Herrn Wort selbst hat es gesagt«, sprach er mit heller und zittriger Stimme. Dann schlug er Georg mitsamt dem Drachen krachend gegen eine Säule. Arme, Beine, Kopf und Rumpf des Heiligen kullerten über den Boden. Nur der Drache blieb heil.

Beherzt erhoben sich einige Männer und begannen, die Mondsichelmadonna aus ihrer Aufhängung zu lösen. Der Mann mit dem roten Gesicht holte eine Axt unter seinem Gewand hervor.

»Siebo Heiken!« Eine Frauenstimme, die das Befehlen gewohnt war, ertönte in der Kirche. Eine Tür klappte, und eine kleine alte Frau kam aufrecht aus ihrem Herrensitz neben dem Lettner. »Siebo Heiken, wage es nicht, die heilige Mutter Gottes mit deinen ungewaschenen Pfoten anzufassen.«

Der Mann mit dem roten Gesicht drehte sich um. »Frau Hiske, Ihr habt gehört, was der Herr sagt.«

»Was der Herr da oben auf der Kanzel gesagt hat, habe ich sehr wohl gehört. Aber höre nun auch, was ich sage: Wenn du es wagst, der Mutter Gottes, die mein seliger Mann unserer Kirche gestiftet hat, etwas zuleide zu tun, dann wirst du in unserer Familie nie wieder auch nur für einen Tag Lohn und Brot erhalten.«

Siebo Heiken ließ die Axt sinken. Mit einem Mal begannen die Leute zu reden. Einige riefen, die Männer sollten weitermachen. Neben Rimberti sprachen zwei Frauen laut ein Ave Maria.

Der Pfarrer stellte sich vor den Altar. Sofort wurde es leiser. »Frau Hiske. Das Wort Gottes gebietet uns, die Götzenbilder aus unserer Kirche zu entfernen. Dieses Wort ist uns lieb und teuer. Darum müssen wir gehorchen, ob wir wollen oder nicht.«

Die kleine alte Frau stellte sich aufrecht vor ihren Herrenstuhl und wirkte auf einmal groß, als sie ihre Stimme erhob. »Magister Cornelis, lieb und teuer ist auch das gute Stück Land, das mein seliger Mann damals mit der Madonna für die Pfarre gestiftet hat und dessen Pachtzins Eurer Pfarre zugutekommt, damit Ihr die Messe für ihn lest. Gebt meiner Familie das Land zurück, und Ihr könnt die Mutter Gottes haben und meinetwegen Brennholz aus ihr machen.«

Pfarrer Cornelis stand mit offenem Mund und fand keine Antwort. Die Leute begannen zu reden. Frau Hiske wandte sich an Heiken: »Siebo, du bringst mit deinen Leuten die Madonna zu mir nach Hause. Und danach könnt ihr mit Pfarrer Cornelis das Haus Gottes zu Kleinholz schlagen, wenn euch danach ist.«

Siebos riesige Arme umklammerten die Madonna und hoben sie vorsichtig aus der Verankerung. Mit zwei anderen trug er sie aus der Kirche. Frau Hiske folgte der Madonna, und etliche schlossen sich ihr an und verließen die Kirche. Als die Tür hinter ihnen geschlossen wurde, begannen andere aus der Gemeinde damit, die Altarbilder und Heiligenfiguren abzunehmen. Das alles hatte wenig von einem Bildersturm aufgebrachter Gemeindeglieder. Wie bestellte Handwerker bauten die Männer alles ab und trugen die Skulpturen und Bilder aus der Kirche.

Auf dem Kirchplatz brannte schon ein Feuer. Die Heiligenfiguren und Bilder wurden hineingelegt. Pfarrer Cornelis breitete die Arme aus und sagt: »Ihre Götzenbilder sollst du mit Feuer verbrennen, spricht der Herr.«

Den Mann mit der Narbe im Gesicht konnte Rimberti nicht mehr entdecken. Vermutlich hatte er sich davongemacht.

»Frau Hiske hat mir imponiert«, brummte Fockena, der das ganze Treiben fast regungslos verfolgt hatte. »Schade, dass sie nicht dreißig Jahre jünger ist.«

Kapitel 8

»Seid froh, dass sie nicht dreißig Jahre jünger ist, Junker Fockena, sonst hättet Ihr sie vielleicht geheiratet und sie hätte Euch das Leben zur Hölle gemacht«, sagte Hilko Boyen mit einer so tiefen Stimme, dass auch im leisen Ton des Kaufmanns jedes Wort zu verstehen war. »Aber als Schwiegersohn bin ich ganz gut mit ihr gefahren, und sie auch wohl mit mir.«

Er sah in die Diele, wo Frau Hiske gerade Siebo Heiken und seine beiden Begleiter anwies, die Madonna mit Säcken zu umwickeln und in Stroh einzupacken. Zwei Mägde waren dabei, in der Upkamer den Tisch für Hilko Boyens Familie und die beiden Gäste zu decken.

»Wenn Frau Hiske in Wittenberg gelebt hätte, dann hätte sich die evangelische Bewegung vermutlich gar nicht erst ausgebreitet«, bemerkte Ulfert Fockena grinsend.

»Da täuscht Ihr Euch«, antwortete der Kaufmann. »Sie hat sogar Luthers Übersetzung des Neuen Testamentes gekauft. Es ist eine Ausgabe der neuen Auflage vom Dezember 1522, gebunden und mit Initialen geschmückt. Sie hat ein Vermögen gekostet: anderthalb Gulden.«

»Nur ein Teil dessen, was Euer Schwiegervater für Eure Dorfkirche gestiftet hat«, stellte Fockena fest.

»Groß im Nehmen, groß im Geben – das war sein Wahlspruch. Im Herbst vor drei Jahren ist er gestorben. Und Pfarrer Cornelis muss jede Woche eine Messe für ihn lesen, genauso wie sein Vorgänger, Pater Klemens.« Boyen lächelte. »Römisch oder evangelisch: bezahlt ist bezahlt.«

Er lehnte sich zurück. Hilko Boyen war ein untersetzter, kräftiger Mann. Nur wenige graue Fäden durchzogen sein schwarzes Haar, seine Gesichtsfarbe war frisch und gerötet, seine Augen blickten lebendig und wach. Sein Gesicht war glattrasiert, und trotz seiner humorvollen Bemerkungen zogen sich seine Mundwinkel nach unten. Für einen Moment schien er in seinen Gedanken versunken.

Frau Hiske gab den drei Männern ein paar Anweisungen, dann reichte sie ihnen eine Münze. »So habt ihr an diesem Tag doch noch ein gutes Werk getan, während eure Genossen in der Kirche randalieren, als wäre es eine Kneipe.«

Siebo Heiken nahm das Geld und verneigte sich. Dann trottete er mit seinen beiden Begleitern davon.

»Ich werde die Madonna zu meinem Neffen schicken. Er ist Kirchvogt in Bagband. Dort wird man wissen, wie man ein Bild der Mutter Gottes respektvoll behandelt. Ist Ubbius schon da?«, fragte Frau Hiske ihren Schwiegersohn. Der schüttelte den Kopf.

Rimberti und Fockena erhoben sich, um Frau Hiske zu begrüßen. Sie musterte die beiden Männer von oben bis unten und bemerkte: »So, Ihr seid nun die Berater unseres neuen Grafen. Dann werden uns ja glanzvolle Zeiten bevorstehen. Und wenn dazu noch solche tüchtigen Prediger im Land sind wie Karlstadt und Melchior Hofmann, dann ist der Lauf des reinen Wortes Gottes wohl nicht mehr aufzuhalten.«

»Ihr meint doch nicht etwa …«, wollte Rimberti erwidern, doch Frau Hiske unterbrach ihn und wies mit ausgebreiteten Händen auf den reich gedeckten Tisch, auf dem Schüsseln mit Fleisch und Gemüse dampften. »Lasst uns erst danken und essen. Alles andere hat Zeit. Sprecht Ihr das Tischgebet, Junker Ulfert?«

»Salz?«, fragte Hilko Boyen erstaunt, als der Tisch abgeräumt worden und seine Schwiegermutter in die Mittagsruhe gegangen war. Seine beiden Gäste hatten ihn über Einzelheiten am Mord von Jakob Sanders informiert.

»Wir haben mit Salz gehandelt«, erklärte Boyen. »Wobei ich zugeben muss, dass ich fast keine Ahnung habe, wie das Salz an der Küste produziert wird. Das hat alles Jakob von Norden aus gemacht, und ich war als Partner beteiligt. Dafür habe ich mich um den Ankauf und Weiterverkauf von Rindern und Schweinen gekümmert. Da war Jakob als Partner dabei. So haben wir es auch mit Nord- und Ostseehandel gemacht, mit Wein, mit Honig, mit Flachs und Wolle. Lief es einmal in einem Bereich schlecht, so machten wir in einer anderen Sparte Gewinne.«

Hilko Boyens Gesicht wirkte bekümmert. Er trank klares Wasser aus seinem Becher und atmete schwer durch. Dann sprach er weiter: »Jakob und ich kannten uns viele Jahre. Wir haben als Jungs unsere Ausbildung in Rostock gemacht. Wir hatten verschiedene Lehrherren, aber da die beiden viele Geschäfte gemeinsam durchführten, haben wir nicht nur einander, sondern auch die Vorzüge einer verlässlichen Zusammenarbeit kennengelernt. Nicht nur gegenseitige Hilfe in Notfällen, das versteht sich ja von selbst.«

Rimberti nickte.

»Es gibt Geschäfte, die sind für einen Kaufmann allein zu groß«, erklärte Boyen. »Zu zweit verfügten wir über mehr Kapital, wir waren auch in Engpässen beweglich, und vor allem konnte jeder von uns seine besonderen Fähigkeiten einbringen, und so haben wir einander ergänzt. Jakob hatte ein Gespür für gute Gelegenheiten, den Kaufmannsinstinkt. Und ich hatte die nötige Menschenkenntnis. Und Kaltblütigkeit.«

»Kaltblütigkeit?«, fragte Lübbert Rimberti zurück.

»Jedenfalls bis vor Kurzem.« Der Kaufmann sah aus dem Fenster. Sein Blick konzentrierte sich auf einen Punkt draußen.

»Ich glaube, ich mache einen kleinen Spaziergang«, seufzte Ulfert Fockena. »Nach dem guten und vielen Essen wird mir etwas Bewegung guttun.«

»Ich spüre Euren Schmerz um Jakob Sanders«, sagte Rimberti.

Boyen nickte. »Vor einem Vierteljahr sind meine Frau und meine Tochter ums Leben gekommen. Sie wollten den Bruder meiner Frau in Amsterdam besuchen. Ein Dorf, in dem sie übernachteten, wurde von Wiedertäufern besetzt. Die Aufrührer stürmten gemeinsam mit den Dorfbewohnern das Kloster. Einigen Mönchen gelang die Flucht, und sie holten spanische Soldaten aus der nächsten Garnison. Die stürmten am nächsten Tag das Dorf und ließen fast niemanden am Leben.«

Hilko Boyen schwieg einen langen Moment. Dann sprach er weiter: »Ich weiß nicht einmal, wo und wie sie beigesetzt worden sind.«

Von draußen war zu hören, wie jemand an die Außentür klopfte und von einer Magd in Empfang genommen wurde.

»Hinrich!« Hilko Boyen erhob sich und begrüßte einen großen und schlanken Mann, den Rimberti auf Mitte dreißig schätzte, also in seinem eigenen Alter. »Was für eine Freude, dich zu sehen. Selten genug, dass die Kölner dich einmal freigeben für die alte Heimat.«

Verhalten erwiderte Hinrich Ubben die Umarmung seines Freundes. »Meine Freude ist nicht weniger groß. Aber getrübt ist sie durch die traurigen Ereignisse.« Er sah zu Rimberti hin und entschied wohl, zunächst nicht mehr zu sagen.

Boyen trat einen Schritt zurück. »Doktor Rimberti hat ebenfalls Rechtswissenschaften studiert. Er ist Syndikus in … Ich habe noch nicht einmal genau zugehört vorhin. Auf jeden Fall soll er Graf Enno in einer rechtlichen Angelegenheit beraten und einen Todesfall untersuchen, der mich sehr traurig macht.«

»Jakob Sanders. Ich habe davon gehört«, antwortete Ubben und erklärte Rimberti: »Wir sind in Norden aufgewachsen. Unsere Wege führten dann in unterschiedliche Richtungen, aber Hilko und ich sind immer in Verbindung geblieben.«

»Ich habe schon viel von Euch gehört«, antwortete Rimberti, »und auch davon, dass Ihr in Köln zurzeit mit niemand Geringerem zusammenarbeitet als mit Professor Johannes Frissemius, eine Zierde unserer Juristenzunft und ein Meister glanzvoller Sprache. Man erzählt, dass Ihr an einem Werk über Friesland schreibt.«

Ubben nickte ihm zu, und Rimberti spürte, dass diesem Mann jede eitle Selbstdarstellung fremd war. »Frisia descriptio soll es heißen. Das ist auch ein Grund für meine Reise in die Heimat. Es gibt eine Reihe von Fragen, die ich für meine Beschreibung Ostfrieslands klären möchte. Außerdem werden die Eltern alt, und ich möchte jede seltene Gelegenheit nutzen, sie zu besuchen. Aber erzählt von Euren Geschäften, Doktor Rimberti.«

Nur kurz berichtete Rimberti von seinem Gutachten, dass er zum Verkauf der Herrlichkeit Hillersum schreiben sollte. Ausführlicher erzählte er vom Mord an Kaufmann Sanders.

»Salz?«, fragte Hinrich Ubben erstaunt, als Rimberti seine Erzählung unter Auslassung einiger Details beendet hatte. »Das wird an der Küste gewonnen. In meiner Heimat Ostermarsch, aber vor allem in der Westermarsch und auf Bant werden im Vorland große Mengen Salz gewonnen. Aber auch im Watt vor der Küste bei Esens wird Salztorf ausgegraben.«

Rimberti sah ihn staunend an. Obwohl er in Ostfriesland aufgewachsen war und ihm bekannt war, dass im Bereich der Küste Salz gewonnen wurde, so wusste er nichts darüber, wie diese Salzgewinnung vor sich ging.

»Hier ganz in der Nähe, an der Westermarscher Küste, solltet Ihr Euch das einmal ansehen«, sagte Hinrich Ubben. »Die Torferde unter dem Kleiboden und unter dem Schlick ist sehr salzhaltig. Sie wird ausgegraben und getrocknet. Später wird sie dann verbrannt, und die Asche wird mit Wasser ausgelaugt. Und das wird dann eingekocht. Es wird so viel Salz gewonnen, dass unsere Heimat gut versorgt wird und sogar damit gehandelt werden kann. Wie man bei meinem lieben Freund Hilko Boyen sieht.«

Boyen nickte. »Ich lasse hauptsächlich Fisch damit einpökeln. Und wenn das Salz sehr weiß und rein ist, salze ich auch Butter und Fleisch damit ein. Aber das wisst Ihr bereits. Wenn es Euch interessiert, werde ich mich darum kümmern, dass Ihr die Salzsiederei in Westermarsch besichtigen könnt. Alle paar Tage fährt auch jemand zur Insel Bant, um Vorräte zu bringen.«

»Berend Sanders erzählte, dass die Aufsicht über die Salzbuden seine Aufgabe ist«, erklärte Rimberti.

»Berend ist ein Großmaul. Eigentlich hätte er als Ältester die Geschäfte übernehmen müssen, aber er hat schon das Erbe seines früh verstorbenen Onkels in ein paar Jahren verbraucht. Glücksspiele, falsche Freunde, Liebschaften, und die wenigen Investitionen in den Handel waren schlecht gewählt. Dann war das Geld weg. Der alte Sanders hat seinem jüngeren Sohn Jakob das Geschäft übergeben, und er hat für Berend alle Schulden bezahlt und ihm eine Leibrente festgesetzt. Berend musste alle Ansprüche auf die Firma aufgeben. Das ist vertraglich geregelt.«

»Und dann ist da noch ein dritter Bruder«, stellte Rimberti fest.

»Konrad. Er hat die freien Künste studiert und ist Bibliothekar im Kloster geworden, in der Schola Dei in Ihlow. Der alte Sanders hat ihn dort eingekauft.«

»Und was wird aus ihm, wenn das Kloster aufgelöst wird?«, erkundigte sich Rimberti.

»Ihlow?«, fragte Heinrich Ubben erstaunt. »Die Schola Dei? Graf Enno wird es nicht wagen, die Schule Gottes aufzulösen. Die edelsten Familien des Landes haben ihre Söhne diesem heiligen Ort anvertraut. Seine große Bibliothek und die Gelehrsamkeit und Frömmigkeit seiner Mönche sind weit über Ostfriesland bekannt.«

»Die Axt ist schon an die Wurzel gelegt«, sagte Rimberti. »Graf Enno hat bereits gewisse Pläne. Und Bruder Konrad in der Schule Gottes ist nun alleiniger Erbe des Sanders’schen Handelshauses.«

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Возрастное ограничение:
18+
Дата выхода на Литрес:
25 мая 2021
Объем:
292 стр. 5 иллюстраций
ISBN:
9783839264768
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