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Diese Frage nach dem möglichen Lebensstandard – stets verbunden mit der Frage nach der Gerechtigkeit, wenn auch oft unausgesprochen – wird sich von nun ab durch dieses Buch ziehen.

Kapitel 2: Wirtschaft

Ausmaß und Geschwindigkeit des wirtschaftlichen Wandels während des Anthropozän finden im Archiv von Globo keine angemessenen Vergleiche. Es wäre daher vorrangige Aufgabe des Dorfchronisten (das war fast sicher immer ein Mann, was wohl nicht ohne Einfluss darauf war, was aufgezeichnet wurde), auf diese Niveauverschiebung immer und immer wieder hinzuweisen. Bislang scheint die Botschaft aber bei zu wenigen Bewohnerinnen und Bewohnern angekommen zu sein, geschweige denn, dass daraus Konsequenzen gezogen würden. Der kritische Sozialwissenschaftler und Begründer der evolutionären Ökonomik, Kenneth E. Boulding, ist diesbezüglich hingegen eindeutig: „Wer glaubt, exponentielles Wachstum kann auf einem begrenzten Planeten für immer fortschreiten, ist entweder ein Schwachkopf oder ein Ökonom.“, soll er einmal gesagt haben.40

Erdbewegungen

Der erste Blick auf die „Wirtschaft“ soll darauf gerichtet sein, wie die Menschen in Globo durch ihre ökonomischen Tätigkeiten den Ort physisch verändert haben. Dabei handelte es sich vor allem um landwirtschaftliche Aktivitäten, denn historisch lebten die Menschen im Dorf nahezu ausschließlich auf dem und vom Land – was letztlich sogar noch für das 20. Jahrhundert gilt.


Die auffälligste Veränderung in Globo während des Anthropozän war die Umwandlung von Wald, Waldland und Grasland in Weideund Ackerland. Noch um das Jahr 1700 bestanden rund 94 Prozent der gesamten Grünfläche aus Wald und Grasland, lediglich 6 Prozent (rund 9 Hektar) wurden schon gezielt für Weide- bzw. Ackerzwecke genutzt. Heute hingegen sind kaum noch 60 Prozent der Grünfläche von Wald und Grasland bedeckt und auch dieses Land ist kaum mehr unberührt. Vor allem war es der Wald, auf den die Menschen quasi als natürliche Rückversicherung im Laufe der Geschichte immer und immer wieder zurückgreifen konnten. Sie tun das weiterhin – und nicht nur in den ärmeren Teilen von Globo, wo Holz eine der wichtigsten Energiequellen ist. Die Folge: Mehr als ein Drittel, vielleicht sogar knapp die Hälfte der ursprünglichen Waldfläche im Dorf ging in den letzten Jahrtausenden, vor allem aber im letzten Jahrhundert verloren, in manchen Regionen noch mehr. Übrig geblieben sind rund 65 Hektar, wobei auch davon vieles „verwandelt“ worden ist: Der „unberührte“, höchstens besuchte „Urwald“, vor 10.000 Jahren noch etwa 100 Hektar groß, ist heute auf einen Rest von 15 Hektar zusammengeschrumpft. Das bleibt nicht ohne Einfluss – weder auf das Klima, noch auf die lokalen Lebensbedingungen. Daher spielt es auch nicht die entscheidende Rolle, dass dieser Raubbau heute vor allem in den ärmeren Regionen des Dorfes stattfindet,41 was ja zudem nicht zuletzt deshalb geschieht, um die Ressourcennachfrage der Reichen zu befriedigen. „Was wir den Wäldern auf der Welt antun, ist nur ein Spiegelbild dessen, was wir uns selbst und einander antun.“, soll dazu Mahatma Gandhi einmal gesagt haben.42

In etwa die Hälfte der gesamten Landfläche ist bereits durch direkten menschlichen Einfluss verändert worden, mit negativen Folgen für Artenvielfalt, Bodenstruktur, Nährstoffkreislauf, Biologie und Klima und damit für das Weiterleben in Globo. Dazu ein kaum bekanntes, aber sehr wichtiges Beispiel: Bevor sich der Mensch Ackerbau und Viehzucht zuwandte, konnte sich in Globo ungestört von menschlichen Eingriffen eine große Menge an Mutterboden (Humus) bilden. Dieser fruchtbare Boden wurde quasi als Einstandsgeschenk seitens der Natur – der „Mutter Erde“, wie sie in vielen Traditionen heißt – den Menschen zur Verfügung gestellt. Dieses „Geschenk“ ist heute vielfach vergessen worden, daher wird sein Verbrauch auch nicht wirklich bemerkt. Es ist allerdings trotzdem die absolute Basis für das Überleben aller Menschen in Globo, auch jener in den reichen Teilen des Dorfes. Insgesamt beträgt der Verlust an Humus dort bereits rund 400 Tonnen pro Jahr, mit den zu erwartenden Auswirkungen auf die landwirtschaftlichen Erträge.43 Es soll dabei Regionen im Dorf geben, wo allein in den letzten 50 Jahren der Humusanteil an der ja alles andere als dicken Erdschicht von acht auf ein Prozent gesunken ist, und es sollen bereits etwa zwei Drittel der Ackerflächen und ein Drittel der gesamten Grünflächen betroffen sein.

Generell ist festzuhalten, dass möglicherweise bereits die Hälfte aller Kulturböden in Globo „degradiert“ sind, also verarmt.44 Es gibt dafür eine ganze Reihe von Auslösern wie Entwaldung, Erosion, Überweidung, Übernutzung, unsachgemäße Bewirtschaftung, Verschmutzung und anderes mehr.45 Die schlimmste Form der „Degradation“ stellt dabei die „Desertifikation“ dar, also die Wüstenbildung. Bereits etwa 20 Bewohnerinnen und Bewohner von Globo leben in Regionen, die davon bedroht sind.46


Dass solch gravierende Veränderungen auch Auswirkungen auf die „Biodiversität“ haben, also die Vielfalt an Tieren und Pflanzen, ist unvermeidlich (wobei eine Abnahme der Biodiversität wiederum die Verarmung der Böden tendenziell begünstigt). Dabei ist diese Artenvielfalt auch noch nach Einführung der Landwirtschaft weiter gestiegen, bis sich dieser Trend vor einiger Zeit umzukehren begann und es gerade im Zeitalter des Anthropozän zu einem sich ständig beschleunigenden Abbau an Vielfalt gekommen ist.47 Man spricht in diesem Zusammenhang auch von „Generosion“ und meint damit nicht zuletzt den Verlust an Selbstheilungskraft der Natur: Man denke nur an die verheerenden Auswirkungen, die eine aggressive Pflanzenseuche trotz aller Vorsichts- und Gegenmaßnahmen in den Monokulturen haben könnte, die die inzwischen für viele Menschen in Globo lebensnotwendige Agrarindustrie prägen.

Nun folgen aber Inhalte, die im Kapitel „Wirtschaft“ vielleicht eher erwartet werden, nämlich Angaben zu Einkommen (bzw. Produktion), Lebensstandard, Verteilung, Rohstoffen und Handel (andere Aspekte, z.B. Arbeit und Konsum, kommen in späteren Kapiteln). Sie werden hier bewusst nachrangig behandelt, denn letztlich – auch das wird oft vergessen – basiert das Überleben der Menschen nicht auf einer abstrakten „Wirtschaft“, sondern auf ausreichend Nahrung.

Auskommen mit dem Einkommen

Die Ökonomik ist die Wissenschaft von der Knappheit. Interessanterweise ist ihre Begrifflichkeit trotzdem eher am „Einkommen“ ausgerichtet, als an der Frage, wie Menschen damit „auskommen“. Zudem neigen viele Ökonominnen und Ökonomen dazu, in monetären Größen zu denken, also in Geld, überlegen aber nur selten, wie angemessen das jeweils ist. Gemessen wird das Einkommen (bzw. die Produktionsleistung) dann z.B. in inflationsbereinigter „Kaufkraft“, also „real“, wie das in der Ökonomik heißt, woran sich auch dieses Buch orientiert, wenn „$“ angegeben werden („US$“ oder „Euro“ sind hingegen nominell zu lesen).48 Rückschätzungen der Produktionsleistung ergeben dann z.B., dass das „Dorfsozialprodukt“ pro Kopf und Jahr vor 2.000 Jahren rund 470 $ betragen hat, wobei dieser Wert direkt mit heute vergleichbar ist. Das entspricht einer gesamten Produktionsleistung der damals in Globo lebenden 5 Menschen von rund 2.300 $. Ausgedrückt in Pro-Kopf-Größen veränderte es sich in der Folge kaum und war um 1500 auf rund 570 $ gestiegen (bzw. rund 4.500 $ insgesamt). Pro Kopf und Tag standen den Menschen jener Zeit also im Durchschnitt nur 1,30 bis 1,60 $ zur Verfügung, wobei sie in einer ökonomisch nahezu stagnierenden Welt lebten.49

Es kann kaum genug betont werden, wie fremd dieses Lebensgefühl allen Bewohnerinnen und Bewohnern der reichen Teile von Globo bereits seit Jahrzehnten ist. Das mag vielleicht ein Grund für die große Aufmerksamkeit sein, die der aktuellen Krise in der Dorfwirtschaft gewidmet wird (auf sie wird im Epilog noch zurückzukommen sein). Sie spielt sich auf völlig unvergleichlichem Niveau ab, denn schon im Jahr 2000 betrug das Einkommen in Globo bereits durchschnittlich mehr als 6.000 $ pro Kopf (insgesamt also 600.000 $), in den reicheren Weilern sogar mehr als 20.000 $. Zudem wächst es (zumindest bis 2007) fast ständig um mehrere Prozent jährlich – und das nicht nur absolut, sondern auch im Hinblick auf die Ungleichheit der Einkommen, die ebenfalls ständig zunimmt.

Diese Entwicklung vollzog sich natürlich nicht ohne Brüche. Im 20. Jahrhundert kam es zu zwei großen Kriegen und einer schweren Wirtschaftskrise. Dabei starb im Gefolge des ersten großen Krieges einer der damals 29 Menschen im Dorf an einer Grippe-Epidemie, und im zweiten Krieg einer von 40 durch die Kämpfe, zudem kam es zu furchtbaren Zerstörungen in Teilen des Dorfes. Erst nach diesen großen Krisen beschleunigte sich der Anstieg des Einkommens wieder, wenn auch ungleichgewichtig. Alles in allem verzehnfachte sich das Pro-Kopf-Einkommen während des Anthropozän, in Summe kam es sogar zu einer Versechsundfünfzigfachung des gesamten Dorfprodukts zwischen 1820 und 2000 auf insgesamt 601.235 $, grob verteilt auf eine Versiebenfachung vor und eine weitere nach 1950.50

Bislang war nur von der durchschnittlichen Entwicklung in ganz Globo die Rede, die aber bekanntermaßen nichts über Details aussagt. Was aber die Verteilung des „Dorfkuchens“ auf einzelne Weiler betrifft, ist zu betonen, dass sie ausgesprochen ungleich und daher möglicherweise ungerecht ausfällt, wobei auch dieses Phänomen erst während des Anthropozän in relevantem Ausmaß aufgetreten ist. Die größte Differenz zeigt sich in Globo heute zwischen den Weilern Nordamerika und Afrika: Im reichen Weiler Nordamerika steht jedem Menschen das Zwanzigfache dessen zur Verfügung, was die Menschen im armen Weiler Afrika im Durchschnitt haben. Dabei ist auch innerhalb der Weiler die Verteilung ungleich: Unter den 5 Menschen in Nordamerika ist 1 Mann, dessen Einkommen das Zwei- bis Dreifache des nordamerikanischen Durchschnitts beträgt, während unter den 13 Menschen in Afrika 5 sind (4 davon wahrscheinlich Frauen), deren Einkommen nur ein Drittel des afrikanischen Durchschnitts ausmacht. Ein ähnliches Bild würde sich bei einem Vergleich zwischen den Weilern Europa und Afrika bieten.


Der Weiler Afrika ist dabei während des Anthropozän im Hinblick auf die Wohlstandsentwicklung am weitesten „abgehängt“ worden, doch auch der Weiler Asien hat zeitweise schwere Rückschläge erlitten: Betrug der Anteil Asiens am gesamten Dorfprodukt um 1820 noch rund drei Fünftel, sank er bis 1950 auf nur noch rund ein Fünftel und ist seither immerhin wieder auf rund zwei Fünftel gestiegen. Für die Erkenntnis, dass die Gründe für diese Entwicklungen auch (natürlich nicht nur) mit Charakter und Nachhaltigkeit des europäischen Kolonialismus zu tun haben, braucht es angesichts dieser Zahlen keine komplizierten quantitativen Untersuchungen.

Eine selten erhobene und kaum je berechnete Kennzahl, die solche Unterschiede verdeutlichen könnte, ist der Lebensstandard. Hier soll – aus derselben Quelle wie die zuvor dargestellten Einkommensdaten – eine grobe Abschätzung gegeben werden, wo die einzelnen Weiler von Globo im Hinblick auf die Möglichkeit der Verbesserung desselben stehen. Dieser Information kann man sich annähern, indem man von der jährlichen Produktionsleistung einen Betrag abzieht, der für die Befriedigung der Grundbedürfnisse unbedingt erforderlich ist, und das Ergebnis über die Jahre summiert. Das Resultat gibt ein Lebensstandardpotential an, also einen Betrag, der zumindest zu Lebensstandard hätte werden können.51 Soweit es realisiert worden ist, verfügen die Menschen in den jeweiligen Weilern über dieses im Laufe der Zeit angesammelte Potential auch heute noch in Form von Geld,52 weit mehr noch aber in Form von Infrastruktur oder Bildungs- und Gesundheitssystemen von unterschiedlicher Qualität. Es stand und steht aber natürlich auch für den Luxuskonsum zur Verfügung oder, um damit Kriege zu führen, oder auch, um es einfach zu verschwenden. Die errechneten Zahlen sprechen wohl für sich.


Das Auf und Ab wirtschaftlicher Entwicklung

Das Zusammenspiel von Produktionsleistung und Technologie, wie es etwa in der Idee der Produktionszyklen zum Ausdruck kommt, ist eine zentrale Frage für die langfristige wirtschaftliche Entwicklung. Grundlegend dazu sind die mittlerweile 80 Jahre alten Überlegungen von Nikolai Kondratieff.53 Vor allem zwei Dinge waren es, die seiner Meinung nach für einen massiven Strukturbruch um etwa 1800 entscheidend waren: die Erfindung der Dampfmaschine und der Umstieg auf Baumwolle als Rohmaterial im Bekleidungswesen. Deren Kombination setzte eine bis heute nachwirkende „Textilrevolution“ in Gang: Verglichen mit früheren Zeiten wurden Kleider enorm billig und leicht verfügbar.54 Ermöglicht wurde diese Entwicklung allerdings nicht nur durch hehren Erfindergeist, sondern auch durch die Ausnutzung von billiger Arbeitskraft in den Fabriken, wo um Hungerlöhne gearbeitet wurde, und auf den Baumwollfeldern, wo Sklavinnen und Sklaven Zwangsarbeit leisteten.55

Kondratieff schrieb in der Folge das Muster aus Produktionszyklen und „Schlüsselinnovationen“ fort und wurde so zum Namensgeber des gesamten Konzepts. Der daher „Zweite Kondratieff“ basierte auf der Eisenbahn, die das Reisen, vor allem aber den Transport von Gütern vereinfachte und verbilligte, und auf dem Stahl, der neue Möglichkeiten im Ingenieurswesen erschloss. Diesem folgten Zyklen auf der Basis von Elektrotechnik und Chemie, Petrochemie und Mobilisierung und schließlich Informationstechnik, die alle auf verschiedene Weise zur Hebung des Lebensstandards beitrugen – wenn auch nur für einen Teil der Menschen in Globo und nicht ohne auch negative Folgewirkungen. Inzwischen wird – wenn auch mit offensichtlich großer Unsicherheit – über den nächsten Zyklus spekuliert,56 der mit Biotechnologie und Gesundheit in Verbindung gebracht wird, aber auch schon mit Atomenergie oder Nanotechnologie in Verbindung gebracht worden ist.


Auch wenn nicht alle davon profitierten, veränderten diese Wellen Globo doch für alle seine Bewohnerinnen und Bewohner. Die mit den jeweiligen Erfindungen verbundenen „Segnungen“ beschränkten sich vor allem auf jene reicheren Regionen, in denen sie zuerst aufgetreten und erprobt worden sind. Dort fielen die eigentlichen Gewinne an, während die Menschen in den ärmeren Regionen oft vielmehr gezwungen waren, die Entwicklungen unter großen Kosten nachzuvollziehen, um den Anschluss nicht zu verlieren.

Auf den Grund gehen: Rohstoffe und Handel

So sehr heute gerade angesichts der Bedeutung von „Innovationen“ für die Wirtschaft versucht wird, „Entwicklung“ mit dem Faktor Humankapital zu begründen, also Wissen, Fähigkeiten und Fertigkeiten der beteiligten Menschen, so sehr ist man doch in der Produktion unverändert auch auf andere „Rohstoffe“ angewiesen. Gerade bei deren Beschaffung kam es zu enormen Veränderungen in Globo, die „erzeugte“ Menge wurde nicht selten, pro Kopf gerechnet, während der letzten 150 Jahre verhundertfacht.





Das freilich bedeutet nicht, dass sich auch die verfügbare Menge für jeden und jede in Globo derartig vergrößert hat. Vielmehr bestehen gerade in diesem Bereich große Ungleichheiten und nicht zuletzt daher kam dem Tausch von Gütern immer größere Bedeutung zu. Erst Handel ermöglicht schließlich den Zugang zu Ressourcen, die im eigenen Weiler nicht verfügbar sind. Der „Ausgleich“ auf diesem Wege ist dabei während des Anthropozän fast durchgehend stärker gewachsen als die Produktion selbst, nominell betrachtet z.B. um das 88-fache zwischen 1953 und 2003. Doch auch dieser Austausch erfasst bei weitem nicht alle Menschen und ist eher ein „Ausgleich“ zwischen Besitzenden. Nur etwa 35 Menschen in Globo nehmen derzeit überhaupt daran teil (darunter aber – zumindest indirekt über den Konsum – alle in den Weilern Europa und Nordamerika).57 Die anderen haben keinen Zugang zu den großen Märkten des Dorfes – einerseits, weil sie nicht ausreichend über Einkommen verfügen, andererseits aber auch, weil ihnen oft die nötigen Zugangsrechte fehlen.

Das freilich gilt ganz allgemein: Obwohl man in Globo kaum leben kann ohne einzukaufen, fehlt gerade den ärmsten Menschen dort oft die Möglichkeit dazu. Sie müssen teils ganz ohne Geld leben, können sich aber auch mit Geld nicht alles kaufen, weil es für sie schlicht nicht angeboten wird. Das gilt auch für jenes „Lebensmittel“, das im Mittelpunkt des folgenden Kapitels steht: die Nahrung.

Kapitel 3: Landwirtschaft und Ernährung

Lebensmittel

In der langen Dorfgeschichte von Globo war die Landwirtschaft der insgesamt mit Abstand wichtigste Wirtschaftszweig. Das gilt auch im Hinblick auf den Lebensunterhalt: Bis ins späte 20. Jahrhundert lebte der größte Teil der Dorfbevölkerung von der Landwirtschaft und in vielen Regionen des Dorfes (z.B. im Weiler Afrika oder im Süden des Weilers Asien) ist dies bis zum heutigen Tag so. So oder so müssen aber alle Menschen essen, was Ernährung eigentlich zum wichtigsten Thema überhaupt macht. Außerdem ist – nomen est omen – der Mangel an Lebensmitteln über die Jahrtausende auch eine der häufigsten Todesursachen im Dorf bzw. die Hauptursache dafür, warum Menschen früher sterben, als es sein müsste.

Aber können in Globo überhaupt genug Nahrungsmittel für alle produziert werden? Der schon erwähnte Thomas Malthus war hier pessimistisch: Er erwartete eine eher stabile Bevölkerungszahl, deren eigentlich exponentielles Wachstum durch Hunger, Kriege, Seuchen usw. „reguliert“ würde. Zu solchen Krisen ist es auch in den letzten 200 Jahren durchaus gekommen, die Bevölkerung von Globo hat sich aber trotzdem versechsfacht. Andere, z.B. Franz Oppenheimer, der dem Dorf eine Kapazität von bis zu 4.000 Menschen58 zubilligte, meinten daher, dass die Sorge um die Ernährung mit der Sorge um die Erkaltung der Sonne vergleichbar wäre. Seine Vorstellung war ebenso von der Technikeuphorie um 1900 getragen, wie Malthus von den technischen Möglichkeiten späterer Zeiten verständlicherweise nichts wissen konnte. Beide Theorien sind aber in den jeweils eigenen Erfahrungen wohl fundiert und schrieben sie eben in die Zukunft fort. Das aber gilt auch für viele heutige Prognosen und Spannweite wie Fehlerhaftigkeit der beiden erwähnten Ansätze zeigt, wie vorsichtig man mit solchen Schätzungen stets sein sollte.

Wo immer die Wahrheit zwischen diesen beiden Polen auch liegen mag, die in Globo unverändert virulente Nahrungsmittelknappheit ist heute jedenfalls kein eigentliches Produktionsproblem, sondern ein Verteilungsproblem. Allerdings hat das Bevölkerungswachstum in Globo die zwischen 1950 und 1980 auch pro Kopf ständig steigende Getreideproduktion inzwischen überholt. Es ist daher zu hoffen, dass es nicht zu einer Produktivitätskrise kommt, denn die Getreideanbaufläche lässt sich letztlich nur schwer vergrößern und nimmt daher pro Kopf betrachtet ab (auf inzwischen nur noch 0,11 Hektar pro Kopf). Was ebenfalls sinkt, sind die Reserven: Während die Speicher 1961 noch für 90 Tage ausgereicht haben, genügten sie im Jahr 2000 nur noch für 62 Tage, Tendenz fallend.59 Dafür braucht es in Globo nicht einmal ein eigenes Vorratslager, denn umgerechnet wäre das kaum mehr als ein 50-Kilo-Sack pro Kopf, der im Katastrophenfall nach nur zwei Monaten aufgegessen wäre, wenn der Verbrauch nicht eingeschränkt würde (was nur begrenzt möglich ist). Auch wenn dieser Extremfall nicht sehr realistisch ist, verweist dieser Rückgang doch darauf, dass Kriege, Missernten oder Umweltkatastrophen gerade den Getreidepreis enorm beeinflussen würden.



Getreide ist dabei natürlich nicht gleich Getreide: Während die Pro-Kopf-Produktion von Weizen, Reis und vor allem Mais sich im letzten Jahrhundert teils mehr als verdoppelt hat, ist die von Roggen und Hafer deutlich zurückgegangen. In ähnlicher Weise stieg die Fleischproduktion, während die Milch- und die Fischproduktion bereits seit einiger Zeit stagnieren (jeweils pro Kopf betrachtet), und bei Gütern, die für die alltägliche Ernährung in Globo in der Regel nicht zentral sind (wie Obst und Gemüse, die zum Teil vielmehr sogar Luxusgüter sind), sind die Steigerungsraten oft besonders groß.

Der Großteil dieser Zunahme basiert dabei auf Verbesserungen der Produktivität.60 Zentrale Faktoren dafür sind der Einsatz von mehr Energie und Chemie, vor allem von Maschinen, Düngemitteln und Pestiziden, nicht zuletzt in der Produktion von Futtermitteln. Ein Schlüssel dafür war die Verwendung von immer mehr Erdöl in der sich industrialisierenden Landwirtschaft, vor allem in den reicheren Teilen von Globo, während in den ärmeren Teilen auch heute noch die menschliche Arbeitskraft in einer nicht einmal mechanisierten Landwirtschaft dominiert. Dass es sich aufgrund dieser völlig unterschiedlichen Rahmenbedingungen bei den Ergebnissen dieser Produktionsprozesse eigentlich um zwei verschiedene Güter handelt, die auf den Märkten von Globo jedoch in direkter (und daher meist unfairer) Konkurrenz zueinander stehen, sei hier nur kurz angedeutet.

Bei dieser Erfolgsbilanz im Hinblick auf die reine Produktion gibt es aber auch Nebenwirkungen. So findet sich in den Ernten nur etwa ein Drittel bis zur Hälfte des als Dünger verwendeten Stickstoffs, während ungenutzte Reste Erdboden und Trinkwasser in Globo verun-reinigen.61 Ähnlich problematisch ist auch der Einsatz von Pestiziden im Dorf. In diesem Zusammenhang wird manchmal sogar von einem „Overkill“ in der Landwirtschaft gesprochen, da nur teilweise jene „Schädlinge“ getroffen werden, die man eigentlich bekämpfen will, der Rest richtet „Kollateralschäden“ an, oft sogar an „Nützlingen“.

Knappe Flächen

Bevölkerung und landwirtschaftliche Produktivität steigen in Globo, die Landfläche hingegen ist begrenzt. Dabei ist die Ackerfläche für die Ernährung von besonderer Bedeutung. Sie umfasst nur 25 Hektar und damit ein Zehntel der gesamten Landfläche. Für die Ernährung kommt eine mehr als doppelt so große Fläche (57 Hektar) dazu, die als Weideland für die Viehzucht verwendet werden kann, jedoch – wenn überhaupt – nur mit großer Mühe in wenig ergiebiges Ackerland umgewandelt werden könnte. Von diesen „landwirtschaftlichen“ Flächen steht dabei pro Kopf betrachtet in den Weilern Nordamerika und Lateinamerika deutlich mehr zur Verfügung als in den Weilern Afrika, Asien und Europa.

Land steht also nicht unbegrenzt zur Verfügung. „Echte“ Knappheit beginnt aber erst bei 700 Quadratmetern pro Kopf, die nach heutigem Stand der Technik eine ausreichende, nachhaltige Ernährung gerade noch erlauben, allerdings auf rein vegetarischer Basis.62 Dieser Wert wird vermutlich auch während des 21. Jahrhunderts nicht erreicht, jedoch handelt es sich dabei um eine typische Durchschnittsaussage.


Denn praktisch gibt es schon Weiler im Dorf, in denen eine solche Verknappung Realität ist, 8 Menschen sind bereits betroffen. Träfe eine Prognose für das Bevölkerungswachstum im oberen Bereich ein, würde deren Zahl bis 2050 auf 45 Menschen ansteigen.63 Das wäre dann wenigstens ein Viertel der Dorfbevölkerung, noch dazu eines mit sehr beschränkten Einkommensquellen.

Was aber wird eigentlich auf den 25 Hektar Ackerland in Globo angebaut? Es dominiert Getreide, vor allem Weizen (3,5 Hektar), Reis (2,6), Mais (2,6) und Soja (1,5). Auf ca. 4 Hektar wachsen Ölsaaten und auf je rund 1 Hektar Hülsenfrüchte bzw. Knollen und Wurzeln (darunter Kartoffeln). Noch unter je 1 Hektar liegen die Flächen für den Anbau von Gemüse und Obst. In einzelnen Weilern kommen lokale Besonderheiten auf jeweils weniger als 1 Hektar hinzu, wie etwa Sorghum, Hirse und Cassava in Afrika oder Gerste in Europa. Dabei wird nur ein Viertel des genutzten Ackerlandes (rund 5 Hektar) künstlich bewässert, größtenteils in den reicheren Regionen von Globo, während andererseits 4 Hektar brach liegen.64

Das „süße“ Nass

Neben der Landknappheit dürfte die Süßwasserknappheit in Globo in den nächsten Jahrzehnten ein vermutlich noch größeres Problem darstellen – gerade für die Landwirtschaft, auf die mehr als 60 Prozent des Wasserverbrauchs entfällt. Wasser wird eben nicht nur getrunken, sondern auch – meist indirekt – gegessen.



Nach einem ersten oberflächlichen Blick auf die Ressource Wasser in Globo könnte man freilich den Eindruck bekommen, dass es sich dabei um einen unerschöpflichen Rohstoff handelt. Allerdings sind mehr als 97 Prozent dieses Wassers salzig. Vom kümmerlichen Rest wiederum ist der größte Teil als Eis gebunden (vor allem in der Antarktis) und daher letztlich ebenfalls nicht verfügbar. Damit bleiben nur 0,65 Prozent als verfügbares Süßwasser übrig, wovon der Großteil als Grundwasser teils tief in der Erde liegt. Mit anderen Worten: nur ein winziger Rest findet sich leicht zugänglich in Flüssen und Seen, im Boden und in der Atmosphäre.65

Trotz dieses verschwindend kleinen Anteils ist das große Problem nicht die Menge an sich. Im Jahr 2005 betrug das Volumen des erneuerbaren Süßwassers 8.500 Kubikmeter pro Kopf und Jahr (also insgesamt fast 1 Milliarde Liter pro Jahr für Globo).66 Als „Wasserknappheit“ würde erst ein Wert unter 1.700 Kubikmetern pro Kopf und Jahr gelten, als „Wasserstress“ Mengen unter 1.000 Kubikmetern.67 Natürlich steckt der Teufel auch hier wieder einmal im Detail des Durchschnitts, und während in manchen Regionen mehr als 50.000 Kubikmeter pro Kopf und Jahr zur Verfügung stehen, sind es in anderen bereits heute weit weniger als 1.000. Zudem hat sich die Menge an durchschnittlich verfügbarem Wasser seit 1950 allein infolge des Bevölkerungswachstums halbiert.

Insgesamt liegt der Wasserverbrauch trotzdem noch bei „nur“ 870 Kubikmetern pro Kopf und Jahr, was freilich immerhin das Drei- bis Vierfache des Werts vor dem Anthropozän ist.68 Davon wird nur ein winziger Anteil in seiner ursprünglichen Form getrunken. Im Essen hingegen ist weitaus mehr Wasser gebunden, als zu sehen ist: Nicht nur in den bewässerten Feldfrüchten, sondern auch im Fleisch sind oft tausende Liter pro Kilogramm als so genanntes „virtuelles Wasser“ gewissermaßen indirekt enthalten.69 Daher übersteigt der Verbrauch in den reichen Regionen von Globo und jenen mit intensiver Bewässerungslandwirtschaft schon heute oft 2.000 Kubikmeter (also 2 Millionen Liter) pro Kopf und Jahr. Eine weitere Zunahme im derzeitigen Tempo würde die Kapazitäten bald sprengen und Wasser sparende Technologien werden zur Notwendigkeit.

Der ökologische Kollaps käme allerdings schon davor, wenn Flüsse und Feuchtgebiete austrocknen.70 Nicht erst dann droht der „Kampf“ ums Wasser auszubrechen. Er beginnt schon mit unscheinbaren Fragen, z.B. mit welchen Nahrungsmitteln die Menschen in Globo sich ernähren. So braucht man etwa zur Produktion von Fleisch nicht zuletzt wegen der Futtermittel nicht nur ein Vielfaches an Boden, sondern auch die vielfache Menge Wasser, die zur Produktion derselben


Energiemenge in Form von z.B. Getreide nötig wäre.71 Nicht zu vergessen ist auch, dass schon heute in Globo rund acht Prozent der Nahrungsproduktion auf der Nutzung „fossiler“ Wasservorkommen beruht, d.h. solcher, die dadurch endgültig verbraucht werden. Schon 8 Menschen ernähren sich also „auf Kosten kommender Generationen“,72 was Konflikte zweifelsohne weiter fördert. Dazu kommt der Kampf um Wasser innerhalb der und zwischen den Wirtschaftssektoren: Vor allem die Industrie, aber auch die Dienstleistungsbranche (man denke etwa an Golfplätze in wasserarmen Regionen) wollen letztlich ihren Verbrauch auf Kosten der Landwirtschaft steigern. Es ist daher zu befürchten, dass schon in naher Zukunft die Süßwasserproblematik noch mehr Sprengkraft entwickeln wird als heute, wo es Nutzungskonflikte vor allem in klimatisch sensiblen Regionen gibt (z.B. um das Nil- oder das Jordanwasser). Prognosen deuten zudem darauf hin, dass sich die Knappheit ausweiten wird, so etwa auch auf Teile des Weilers Europa.

Wird das Meer bald leer (gefischt sein)?

Das Wasser scheint unerschöpflich, aber es scheint eben nur so. Ebenso schien ausgeschlossen, dass die Menschen in Globo es jemals schaffen könnten, den Fischbestand in Bedrängnis zu bringen. Ganz im Gegenteil: Meerestiere galten als sichere Nahrungsquelle für die Zukunft des Dorfes. Heute sieht das anders aus. Hat sich die gesamte Fangmenge von 1950 bis in die 1980er-Jahre noch rund verfünffacht, so stagniert sie seit damals pro Kopf und sinkt bei einigen Fischarten sogar dramatisch. Es ist daher zu befürchten, dass auch immer ausgefeiltere Fangmethoden nicht mehr in der Lage sein werden, diesen alles andere als „natürlichen“ Schwund auszugleichen.73 Sie sind vielmehr wesentliche Ursache des Problems.


Auch offizielle Stellen warnen daher bereits vor dem teilweisen Zusammenbruch des Fischfangs mit den damit verbundenen Konsequenzen für ganze Ökosysteme und Gesellschaften. Durch die Konkurrenz industrieller Fangflotten ist es an vielen Küsten schon heute nicht mehr möglich, den Lebensunterhalt mit traditioneller Fischerei zu verdienen. Befürchtungen gehen davon aus, dass wild aufgewachsener Fisch schon in wenigen Jahrzehnten in Globo praktisch verschwunden sein wird.74 Inwieweit Fischzuchten diese Nahrungsmittellücke schließen könnten, ist zweifelhaft, insbesondere, wenn man an die ökologischen Folgen mancher dieser „Kulturen“ denkt.

In der Tat, man sollte die „Produktivkräfte“ des Menschen und auch sein „Effizienzstreben“ nicht unterschätzen, vor allem nicht seine „Kreativität“ gerade in diesen Feldern. Er könnte es sogar schaffen, sich dieser wichtigen Ernährungsquelle in absehbarer Zeit selbst zu entledigen. Freilich sei angesichts dieser Entwicklung die Frage erlaubt, ob ein solches Verhalten denn wirklich „menschlich“ wäre (gar nicht zu reden von „vernünftig“), oder ob es nicht vielmehr dem eines Raubtieres gliche (eines kurzsichtigen freilich).

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