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Sei bereit

B.A. Baker, der dritte Offizier des Frachters Prusa, rät: Das Wichtigste für einen Seenotretter ist, den Geist zu trainieren. Konzentrieren Sie sich darauf, nicht aus der Fassung zu geraten, und halten Sie daran fest. Sagen Sie niemals: „Ich habe keine Angst“, denn Sie werden Angst haben. Wenn das Schiff von einem Torpedo getroffen wird, verspüren Sie Panik in der Magengrube und die Knie werden weich. Dagegen gibt es nur ein Mittel: handeln.

Kolchis war so weit entfernt, wie man zwischen dem Untergang und dem Aufgang der Sonne schauen kann, erzählt Apollonios von Rhodos gleich am Anfang seines Epos.

Jason wusste weder, wo Kolchis lag, noch, wie er dorthin gelangen sollte, doch er wusste, warum er aufbrechen musste und wollte – ein Begehren treibt die Männer, mit dem Schiff über die Salzflut zu fahren.

Seine Aufgabe bestand darin, das Goldene Vlies, das im Besitz des grausamen Aietes war, der über ein fernes Reich im Osten, das heutige Georgien, herrschte, nach Griechenland zurückzubringen.

Jason war noch ein Junge und vor allem ein Sohn: Noch nie davor hatte er das Elternhaus verlassen.

Sein Vater war der große Aison, der König der Stadt Iolkos in Thessalien in der Nähe des heutigen Volos: Hier lebte er glücklich, bis sein Onkel, der grausame Pelias, den Thron an sich riss.

Kein Erwachsener hätte wohl Pelias’ Aufforderung Bring das Goldene Vlies zurück, dann lasse ich deinen Vater frei ernst genommen, nur ein Junge, der weder Lebenserfahrung besaß noch jemals Bekanntschaft mit dem Meer gemacht hatte, nahm sie ernst.

Pelias sagte, Schauen wir mal, ob es dir gelingt, doch das war bloß eine List, um diesen Jungen loszuwerden, der fest entschlossen war, den Thron seines Vaters zurückzuerobern, ein Scherz, den keiner sonst aufgegriffen hätte.

Alle sagten, es sei ein unmögliches Unterfangen.

Niemand glaubte, dass Jason nach Thessalien zurückkehren würde: Zu viele Gefahren verbargen sich im Meer, zu viele unbekannte Völker befanden sich entlang des Weges, zu fremd und zu weit entfernt war Kolchis.

Alle dachten, er wäre auf immer verloren, und beweinten ihn schon jetzt.

Keiner hätte den Aufbruch gewagt.

Allerdings hatte ihn auch noch nie jemand versucht.

Das Schiff Argo war wunderschön, das vorzüglichste von allen Schiffen, welche auch immer es mit Ruderarbeit auf dem Meer versuchten, aber Athene hatte es nicht geschaffen, damit es im Hafen vor Anker lag.

Das erste von Menschenhand, von einem Zimmermann namens Argos gebaute Schiff wartete schon zu lange.

Die Göttin Hera würde über die Schifffahrt wachen, sie trieb der Mannschaft den Steuermann Tiphys zu, der tüchtig darin war, die Wirbel des Windes vorher zu bemerken und die Fahrt aus der Sonne und einem Stern vorauszusagen.

Argo war gebaut worden, um ins Unbekannte aufzubrechen und dann nach Hause zurückzukehren.

Sie wartete nur darauf, dass jemand bereit war, in See zu stechen.

Argo wartete auf jemanden wie Jason.

Aus Angst vor dem, was noch kein anderer vor ihm gewagt hatte, bat der Junge seine engsten Freunde um Hilfe. Und sie ließen ihn nicht im Stich.

Aus ganz Griechenland kamen ihm fünfzig Männer zu Hilfe. Unter ihnen die beiden Dioskuren, Kastor und Pollux, die Boreas-Söhne Zetes und Kalais, mit schwarzen Flügeln an den Füßen, die mit goldenen Schuppen glänzten, der Dichter Orpheus, der Seher Mopsos, der für seine Kraft und seinen Mut berühmte Herakles.

Auch Akastos, der Sohn des übelwollenden Pelias, beschloss, nicht im Haus seines Vaters zu bleiben.

Viele Jahrhunderte später würdigte Pindar in der Vierten pythischen Ode ihren jugendlichen Mut mit rührenden Worten:

Solchen all bewegenden Trieb zu dem Kiel

Argo facht’ in den Heldenherzen

Hera an, dass keiner der Männer daheim

bei der Mutter blieb’, ein bequemes gefahrlos

Leben fristend, sondern, und sei’s um den Tod,

seines Heldenthumes Befriedigung aufsucht’

unter Jugend-Kameraden. (303–309)

Am Ufer zu bleiben, während das erste von Menschenhand gebaute Schiff in See stach, hätte bedeutet, auf immer und ewig ein Kind zu bleiben.

Wenn sie darauf verzichtet hätten, sich zu beweisen, und sei es um den Preis von Angst und Schmerz, hätten sie ihr Leben wie Idioten vergeudet – ein eintöniges Leben, wie ungesalzenes Brot.

Sie wären nie erwachsen, sondern gleich alt geworden, ihre geschmeidigen Muskeln wären von der Wiederholung der ewig gleichen Schritte, der ewig gleichen Gesten schwach geworden.

Alle diese jungen Männer waren entschlossen, die Kraft zu entdecken, die man braucht, um erwachsen zu werden. Aufgrund ihres Elans stachen sie schimmernd wie die Sterne aus den Wolken hervor. So beschreibt Apollonios von Rhodos die Schönheit, die der Mut zum Aufbruch verleiht.

Manche wussten bereits aus dem Mund des Orakels, dass sie nicht nach Hause zurückkehren und auf der Irrfahrt über ferne Meere sterben würden. Doch sie entschieden sich trotzdem dafür, mitzufahren, anstatt auf immer kleine Kinder zu bleiben. Alle entschieden sich dafür, Helden zu sein.

Keiner von ihnen war bereits ein Held, sie waren allenfalls Halbgötter, Söhne eines Gottes und einer Sterblichen.

In der Antike gab es keinen unbestrittenen Heldenstatus, ἥρως (héros = Held) zu sein, war keine Gegebenheit: Tapferkeit, Kraft, Tugend, List mussten erworben und öffentlich unter Beweis gestellt werden. Die Herkunft, der gesellschaftliche Stand, die Vaterstadt, waren ohne Bedeutung: Man kam nicht als Held zur Welt.

Man entschied sich vielmehr dafür, ein Held zu werden, indem man eine Reihe von Aufgaben bewältigte, deren höchstes Ziel darin bestand, anderen zu helfen – das Unbekannte bekannt zu machen, dafür zu sorgen, dass eine Überfahrt möglich wurde, weil sie schon jemand gewagt hatte.

Das Heldenhafte bestand in der Erfahrung der Selbstüberwindung, nicht im Ergebnis.

Scheitern zählte nicht: Held war nicht der, der den Sieg davontrug, sondern der, der es zumindest versucht hatte. Wir erinnern uns an die Tapferkeit Hektors und Achills vor den Mauern Trojas, nicht an ihre Niederlage. Der Ruhm, für den sie kämpften, hat sie über ihren Tod hinaus unsterblich, auf immer zu Helden gemacht.

Held war, wer die Herausforderung annahm, sich an etwas zu messen, das größer war als er selbst, um auf immer groß zu sein.

Fragwürdig, aber bestechend ist die Etymologie des Wortes heros, die Platon im Kratylos entwirft. Dem Philosophen zufolge ist derἔρως (eros) – die Liebe – die Kraft, die die Menschen dazu bringt, ἥρως (heros) – Held – zu werden. Die beiden schönen altgriechischen Worte unterscheiden sich nur aufgrund der Länge des Vokals.

Vor seinem Aufbruch war Jason noch nie verliebt gewesen.

Eine Menge Volk lief im Hafen zusammen, um die Schar der mutigen Männer zu bewundern, und die Frauen hoben die Hände zu den Unsterblichen im Himmel und beteten, sie möchten ihnen eine glückliche Heimkehr gewähren.

Ihr Name wurde in jeder Straße der Stadt gerufen.

Die jungen Männer, die bereit waren, in See zu stechen, wurden auf immer und ewig nach dem Namen des Schiffes bezeichnet, auf dem sie fuhren: Argonauten.

Süß ist der Mut des Aufbruchs, sofern man weiß, warum man sich auf die Reise macht. Und Jason redete seiner alten Mutter, deren Herz von Unheil gefesselt war und die ihn heftig weinend hielt – so wie ein Mädchen klagt –, mit freundlichen Worten zu.

Ihre Angst war so groß, dass sie gar nicht alle ihre Tränen weinen konnte.

Dabei fürchtete seine Mutter Alkimedes nicht die Gefahren der Seefahrt. Sie fürchtete eine noch größere Gefahr: die Sehnsucht.

Sie fürchtete, vor Sehnsucht nach dem geliebten fernen Sohn zu sterben, bevor er zurückkehrte – jede Mutter empfindet diese Angst, wenn ihr Sohn zum ersten Mal das Haus verlässt, und sei es auch nur für eine Nacht.

Doch auch der Vater weinte.

Jason tröstete die Eltern, doch er ließ sich nicht von ihrer Traurigkeit erpressen. Er ließ sich nicht umstimmen, sagte vielmehr zu seiner Mutter.

Um meinetwillen! Belaste dich nicht, Mutter, so im Übermaß mit elenden Qualen! Denn du wirst mich nicht durch Tränen vom Unheil zurückhalten, sondern wirst sogar noch zu Schmerzen Schmerz erwerben. Unsichtbar verhängnisvolle Leiden teilen nämlich die Götter den Sterblichen zu; einen Teil davon – magst du auch beklommen sein – im Gemüt zu ertragen, gewinne dennoch über dich!

So trennte er sich zum ersten Mal von der Familie, bereit, aufzubrechen, um sie zu retten – und um all jene Lügen zu strafen, die sagten, er würde es nie schaffen.

Er würde beweisen, dass sie sich irrten, dass keine Reise ins Ungewisse unmöglich ist, solange man das Ziel kennt.

Und er wusste, wohin er die Argo führen musste: ins ferne Kolchis, auf der Suche nach dem Goldenen Vlies, dem magischen Widderfell, von dem alle schon gehört hatten, das aber noch keiner gesehen hatte.

Noch kannte er die Route nicht, die er nehmen musste, doch das war egal.

Das andere, was für ein Schiff zugerüstet werden muss, liegt ja alles wohl geordnet bereit für uns, die wir uns nun aufmachen. Also wollen wir darob die Schifffahrt nicht lange aufschieben.

Und Jason machte sich als Erster ans Werk, befestigte die Segel am Mast, umgürtete das Schiff mit einem Tau und legte dieses auf einen Felsen von Iolkos, der längst blank gespült war.

Die Freunde taten es ihm gleich.

Und abwechselnd […] stemmten [sie] zugleich Brust und Hände dagegen. Und hinein schritt also Tiphys, damit er die jungen Männer antreibe, im richtigen Moment zu ziehen.

Die Argo war bereit und mit ihr die Argonauten.

Und zum ersten Mal in der Geschichte des Menschen sollte ein Schiff ins Meer gleiten.

Zeit auszulaufen

Wenn alles wie am Schnürchen klappt, wenn alles bereit ist und die Fracht auf dem Rettungsboot gut verteilt ist, gibt es keinen Grund mehr, einen Rettungsring zu tragen. Werfen Sie ihn auf den Boden des Bootes und vergessen Sie ihn.

Laufen Sie aus.

Aber als die glänzende Eos* mit schimmernden Augen die steilen Kuppen des Pelion erblickte und die Klippen unter heiterem Himmel im Wind bespült wurden, weil die Salzflut in Bewegung ivar, da nun erwachte Tiphys.

Und sofort trieb er die Gefährten an, das Schiff zu besteigen. Es war Zeit auszulaufen.

Gewaltige Schreie erhoben sich im Hafen, und auch die Argo jubelte: Denn in sie war ein göttlicher sprechender Stamm aus der Dodonischen Eiche eingefügt, den Athene in der Mitte des Vorderstevens eingepasst hatte, um den jungen Männern die Einsamkeit der Schifffahrt erträglicher zu machen.

Die Argonauten nahmen ihren Platz an den Rudern ein. In der Mitte saß der mächtige Herakles, neben sich hatte er seine Keule gelegt. Und unter seinem Gewicht tauchte der Rumpf des Schiffes etwas tiefer ein.

Der Stapellauf eines Schiffes ist ein einzigartiger Augenblick: Sobald das Schiff zum ersten Mal das Salzwasser berührt, die Anker gelichtet sind, hat es seine Jungfräulichkeit verloren und wird auf immer zur See fahren.

Veränderungen müssen gebührend gefeiert werden, alles andere wäre Verrat oder Gleichgültigkeit.

Die Argo wurde dank ihnen erwachsen, erfüllte ihre Aufgabe, und die jungen Männer feierten ihren Übergang vom Land ins Meer. Manche träufelten reinen Wein ins Wasser, andere sangen zum Klang von Orpheus’ Leier.

Endlich stach die Argo in See.

Und durch den Schaum quoll hier und dort die schwarze Salzflut herauf, schrecklich wogend durch die Kraft der starken, mächtigen Männer. Und es blitzte unter der Sonne, einer Flamme gleich, das Gerät des fahrenden Schiffes. Und lange Wege zogen sich stets weißhin, wie ein Pfad, der sich durch eine grüne Ebene hindurch abzeichnet.

Auch die Götter schauten an jenem Tag vom Himmel auf das Schiff, das davor noch nie das Meer befahren hatte, und auf die halbgöttlichen Männer, die es mit eigenen Händen steuerten. Und auch die Nymphen staunten und seufzten fasziniert.

Ein hell sausender Fahrtwind fiel in das Segel und Argo nahm rasch Fahrt auf.

Alle Argonauten schauten kühn nach vorne, in Richtung der Häfen, die sie noch nicht sahen und nicht kannten, trunken vor Mut und vor Lust auf das Unbekannte.

Nur Jason, ihr Anführer, gestattete sich einen Augenblick der Trauer. In der Antike galt Weinen nicht als Schwäche, sondern als menschliche, wenn nicht gar heroische Geste.

Angst und Heimweh übermannten ihn: Würde er je nach Hause zurückkehren?

Aber Iason wandte unter Tränen seine Augen von seinem Vaterland ab.

Oft sind Tränen das beste Mittel, um sich auf das Neue vorzubereiten.

Egal ob Freuden- oder Schmerzenstränen, sie retten uns oft das Leben. Denn Tränen verschleiern den Blick und verhüllen so einen Augenblick lang den Anblick dessen, was man für immer verliert. Die Augen sehen nicht mehr den Verlust und verhindern so die Gefahr des Bedauerns, die Versuchung zu verzichten.

Doch wenn die Augen wieder trocken sind und man sie wieder aufschlägt, erblicken sie das, was man ohne Aufschub vollbracht hat, was vor einem liegt wie ein noch nie gesehenes Gemälde.

Wir sollten uns gestatten, öfter zu weinen: Weinen hilft, sich nicht umzublicken, es hilft, mit geschlossenen Augen ins eigene Innere zu blicken und dann mit geöffneten Augen nach vorne zu schauen.

Der Drang zur Veränderung, die Kraft zu entscheiden, der Mut zu lieben, die ehrenhafte Treue, vor allem zu sich selbst, die Fähigkeit, von sich zu sprechen: All das erlaubt dem Menschen in jeder Epoche, das Leben voll auszukosten und in Würde zu leben.

Tag für Tag, bis zum letzten, empfinden wir diesen Schauer.

Wir sollten jubeln, denn das ist der einzige unwiderlegbare Beweis, dass wir am Leben sind.

Und dass wir auf der Welt sind, um etwas Großes zu vollbringen, dessen Maßstab einzig und allein wir selbst sind.

Diese Aufregung empfinden wir seit unserer Kindheit, seit dem ersten Schultag, den wir nie ganz vergessen haben. Bei der Erinnerung daran empfinden wir unendliche Zärtlichkeit für das körnige Bild, auf dem wir sorgfältig frisiert auf der Schwelle stehen, bereit, vielfältigste Gefühle zu entdecken und sie alle gleichzeitig zu empfinden.

Man will unbedingt wissen, welche Bank man zugewiesen bekommt, man ist neugierig auf die Klassenkameraden, man hat Angst vor der Lehrerin, man ist für ein paar Stunden vom wachsamen Blick der Eltern befreit, man fürchtet sich vor dem Urteil der anderen, hofft, einen Freund zu finden – den besten Freund für den Rest des Lebens.

Wenn wir so zum ersten Mal allein in der Welt stehen, ergreift uns ein Schauder. Dieses Schaudern werden wir bei allen anderen unvorhergesehenen und überraschenden ersten Malen immer wieder empfinden – von dem Moment, wo wir das erste Mal das Klassenzimmer der ländlichen Volksschule betreten, bis zur Einschreibung an der Universität der großen Stadt, wenn wir nach vielen Bewerbungsgesprächen endlich in einem Büro arbeiten, bis wir uns plötzlich in jemanden verlieben, den wir erst einmal am Abend gesehen haben und unbedingt wiedersehen wollen.

Das ist die trunken machende Aufgabe, die man uns gegeben hat und die nur wir lösen können: uns selbst kennenzulernen und dafür zu sorgen, dass die anderen uns kennenlernen.

Doch je älter wir werden, desto komplizierter werden die Dinge, die Beziehungen werden komplexer, die Verantwortung wächst, die Wünsche werden größer, die Leidenschaften außergewöhnlicher – wir sind nicht mehr wie alle anderen in unserer Umgebung, wir haben Entscheidungen für uns getroffen und festgestellt, dass jeder von uns auf seine Weise seltsam ist.

Und so weisen wir aus Angst den Instinkt zurück, der uns jeden Tag – als wäre er der erste – infrage stellt, er ist nämlich immer der erste.

Wir hören lieber nicht auf ihn, tun so, als hätten wir ihn vergessen.

Du bist kein Kind mehr, sagen wir zu uns und zucken die Achseln.

Du hast ja schon genug erlebt.

Irgendwann wollen wir diesen Schauder nicht mehr spüren oder verwechseln ihn mit einem kalten Luftzug, der uns in unserem Alltagstrott stört.

Wir verschanzen uns, wappnen uns mit Ausflüchten.

Unsere Schritte werden vorhersehbar und schwer wie Schnee im Winter, bis wir nicht einmal mehr gehen.

Es geht so, antworten wir und bemerken gar nicht, dass wir rückwärts gehen.

Wir stöhnen über die Montage des Lebens, über Unerwartetes, über die ständigen ersten Male, wir sind nicht länger neugierig, wir wollen nichts Neues mehr – danke, mir geht es gut so –, wir wollen, dass jeder Tag Sonntag ist, da können wir in aller Ruhe auf unserem kleinen Sofa liegen und uns unseren Gewissheiten hingeben.

Wir laufen vor dem Instinkt zu leben davon und fordern einen Urlaub vom Leben – Urlaub, vacanza bedeutet jedoch Fernbleiben, Fehlen.

Wir bemühen uns inständig, den Ur-Instinkt des Aufbruchs zurückzuweisen.

Und am Abend sind wir zunehmend müde und leer.

Wenn wir bloß zur Kenntnis nähmen, wie viel Energie es kostet, unsere Wünsche Tag für Tag zu unterdrücken, zu lügen, nichts zu sagen, um nichts zu zeigen.

Wenn wir bloß einmal die schweren Schuhe auszögen, um barfuß zu gehen und das frisch gemähte, weiche Gras oder die sanfte Brise zu spüren.

Wenn wir bloß den Flügeln an den Füßen – die wir wie die Boreas-Söhne, die auf der Argo in See stachen, besitzen, auch wenn man sie nicht sieht – erlaubten, sich in die Lüfte zu erheben.

Wenn wir uns bloß daran erinnerten, dass wir alle einmal Argonauten waren, denen es egal war, wenn alle das ist unmöglich sagten – für uns war es nicht nur möglich, sondern eine Pflicht. Wir hatten ein Bedürfnis, wir wollten uns beweisen, um danach leben zu können.

Unzulänglichkeit: das trifft für uns alle zu, die wir Reisende ohne festgelegten Kurs sind.

Auch für dich.

Für dich, der du die Kontrolle über dein Schiff verloren hast.

Ein Sturm hat seinen Rumpf beschädigt.

Oder es ist an einem Ort gestrandet, der in deinen Karten nicht vorgesehen, nicht eingezeichnet war – jetzt kannst du nicht mehr sagen, das hängt nicht von mir ab, das ist nicht meine Schuld. Du hast zwar recht, aber es nützt nichts.

Oder du bist woanders gelandet, nicht in dem Hafen, den du dir vorgenommen hattest. Einem fremden Hafen, wo du dir immer fremd sein wirst.

Zum ersten Mal nimmst du zur Kenntnis, dass die Reise, die du unternimmst, nicht umkehrbar ist.

Sogar der große Gatsby ist gescheitert, konnte die Vergangenheit nicht zurückerobern.

Am Horizont kein Licht eines Leuchtturms.

Nicht einmal ein Fernrohr ist auf dich gerichtet.

Warum auch? Niemand kümmert sich mehr um die anderen.

Heutzutage ist der Blick nur noch nach innen gerichtet.

Ein Kurswechsel ist notwendig.

Am Bug, am Heck oder in der Mitte dringt Wasser ein. Du darfst entscheiden, wo.

Die beste Strategie, um sich für die Wirklichkeit zu rüsten, ist die Fantasie.

Aber seit allzu langer Zeit gönnst du dir nicht mehr den Luxus, dir das Unvorhergesehene vorzustellen – auf hoher See nennt sich dieser Luxus Vorsicht.

Plötzlich dringt Wasser ein, dasselbe Wasser, das du bis vor Kurzem noch lächelnd betrachtet hast, als ob es freundlich, vertraut, dein gewesen wäre.

Doch es war nicht freundlich, wie konntest du das nur glauben?

„Mir kann das nicht passieren.“

Richtig. Wahr. Sehr wahr.

Wenn du willst, kannst du weiterhin so denken, mach die Augen noch eine Zeitlang zu, atme, genieß die Reise, mach Fotos – wenn sie uns gefallen, liken wir sie mit einem Herzchen, wenn nicht, fügen wir ein weinendes Smiley hinzu, mehr können wir aus der Ferne nicht für dich tun.

Du kannst gern verleugnen, dass es im Leben U-Boote gibt, die plötzlich Torpedos abfeuern, die nicht auf deinem Radar sind – du kannst allerdings Gift darauf nehmen, dass du auf ihrem bist.

Außerdem gibt es Klippen, Untiefen, hinterhältige Strömungen, Seeungeheuer, Eisberge, die die Titanic zum Sinken gebracht haben, während das Orchester zur Katastrophe spielte.

Glatt wie Wasser. Viele verwenden diese Redewendung, allerdings nicht die Seeleute. Auch du hast diese Redewendung unendlich oft verwendet. Du hast dein Schiff mit einer Fähre verwechselt, hast wie ein Pendler gelebt, der von einem bekannten Ufer zum anderen übersetzt. Wie ein Tourist.

Jetzt liegt nur das Unbekannte vor dir.

Unbekannt, oder nicht gekannt, nicht erkannt, nicht zur Kenntnis genommen.

Die Verneinung dessen, was auf der Schwelle des Tempels von Delphi stand: γνῶϑι σαυτόν (gnothi sautön). Erkenne dich selbst. Eine Aufforderung an alle, die aus ganz Griechenland kamen, um vom Orakel eine Antwort zu bekommen. Bevor du jemand anderen zur Zukunft befragst, entdecke lieber das Einzige, was du schon weißt und was dir niemand anderer sagen kann: Erkenne dich selbst.

Zweitausend Jahre später: Wer erinnert sich an den Film Matrix?

In der Küche des Orakels befindet sich derselbe Spruch auf Latein: Temet nosce.

Er soll den „Auserwählten“, Neo, daran erinnern, dass die Selbsterkenntnis die einzige Möglichkeit ist, ein höheres Niveau zu erreichen.

Verwirrt fragt Neo, wie er wissen könne, dass er wirklich auserwählt wurde, und ob es wirklich an der Zeit sei, aufzubrechen. Das Orakel lächelt bloß: Niemand muss uns sagen, dass wir verliebt sind. Wir spüren es und aus.

Und du, was spürst du?

Wie sehr kennst du dich selbst?

Und was von dir ist dir noch unbekannt?

*Morgenröte

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9783990371084
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