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„Klärt das untereinander“, war sein Lieblingsspruch, während er abwinkte. Seine dicke Aktentasche stand dabei mahnend neben dem wuchtigen Schreibtisch. Und schon war sein Kopf wieder in irgendwelchen Papieren verschwunden.

Swenja trat also nach dem Schulabschluss als Klassenbeste die Ausbildung bei einem Buchhändler an, damit sie ihren Eltern nicht zu lange auf der Tasche lag. Der war natürlich heilfroh, so einen pfiffigen Lehrling zu bekommen, und unterstützte sie bei ihrem späteren Wunsch, im Fernstudium noch mehr nachzulegen. Das war der Seniorchef, der irgendwann aber die Geschicke in die Hände seines Sohnes gab …

Als der Vater noch vor seinem Renteneintritt verstarb, weinte Swenja am Grab bitterlich. Später bestand Sybilla auf ihrem Pflichtteil des Erbes, wofür die Mutter vollstes Verständnis zeigte. Schließlich war eine Eigentumswohnung eine gute Investition, wie sie meinte. Swenja hingegen erhielt zwar die gleiche Summe, musste aber alles in das elterliche Reihenhaus stecken, in dem sie wohnen geblieben war.

„Das ist doch mehr als gerecht“, hatte die Mutter festgelegt und ihrer Tochter über die Schulter geblickt, als sie die Überweisung für den Dachdecker ausfüllte, nachdem er die nötigen Arbeiten erledigt hatte.

Zu der Eigentumswohnung kam es allerdings bei Sybilla nie. Sie steckte all ihr Geld in ihr Outfit. Teure Designer­garderobe verschlang auch das elterliche Erbe.

„Das ist ja völlig klar, dass du dich um Mutti kümmerst. Schließlich wohnt ihr unter einem Dach“, beschloss Sybilla und tippte nebenher eine SMS in ihr Handy ein. „Ich kann bei meiner wichtigen Arbeit nicht kürzertreten. Sonst verliere ich da sofort den Anschluss und bin weg vom Fenster. Das wäre das glatte Aus. Aber du könntest ja im Dienst zum Beispiel auf weniger Stunden bestehen, weil du einen Pflegefall in der Familie hast. Das geht doch heutzutage relativ unproblematisch. Steht dir rechtlich sogar zu. Und das üppige Pflegegeld bekommst du obendrein. Wenn das kein echter Anreiz für dich ist.“

Dabei setzte Sybilla die Kaffeetasse ab und griff sich noch einen Keks. Ihr Handy machte schon wieder mit einem Stück klassischer Musik auf sich aufmerksam, wurde jedoch von ihr nur kurz gemustert. Es schien nicht von größerer Wichtigkeit.

Swenja war aschfahl im Gesicht geworden. So hatte sie sich das Gespräch mit ihrer kleinen Schwester nicht vorgestellt. Sie hatte gehofft, dass sich beide irgendwie nach dem Schlaganfall der Mutter die Betreuung teilen könnten. Außerdem war doch die Kleine immer das Lieblingskind gewesen. War das nicht zugleich Verpflichtung? Swenja schüttelte den Kopf.

„Bist du etwa dagegen?“, erkundigte sich Sybilla mit scharfer Stimme. „Ich wüsste keine Alternative. Höchstens das Heim. Aber das können wir ihr ja nun nicht gleich zumuten. Wir, ähm, du solltest es zumindest versuchen.“

„Wenn du meinst“, entgegnete Swenja tonlos. „Ich will es probieren. Mal schauen, was mein Arbeitgeber dazu sagt. Es arbeiten ja einige Kolleginnen wegen ihrer Kinder verkürzt. Das müsste schon machbar sein. Wollen wir es hoffen.“

Swenja hatte den Eindruck, als ob nicht sie es war, die da redete. Als ob jemand ihre Stimme nachahmte. Sie fühlte sich beklommen und hilflos.

„Siehst du. Genau! Bei dir ist es machbar. Bei mir führt kein Weg dahin. Ich komme euch immer besuchen. Zur Not kann ich dich ja mal ablösen. Jedenfalls, wenn es meine Zeit erlaubt.“

Für Sybilla war die Sache damit aus der Welt. Sie hatte sich im Korbstuhl zurückgelehnt und genoss den Rest ihres Milchkaffees.

„Wirst du mir wohl endlich den Schieber bringen, du unnützes Ding“, schall es durch das Haus. Swenja wischte sich den Schweiß von der Stirn. Die Mutter konnte gut und gern selbstständig auf die Toilette gehen, aber sie ließ sich lieber von vorn bis hinten bedienen. Und man durfte sie keinen Augenblick aus den Augen lassen. So, als ob sie auf Schabernack aus war, stellte sie laufend etwas an. Es war an ihrer großen Tochter, mit dem rechtzeitigen Gespür alles zu entdecken: den aufgedrehten Hahn der Badewanne, der sie zum Überlaufen brachte, die angestellte Herdplatte, auf der eine wie zufällig dahin geratene Pralinenschachtel anfing zu qualmen, die offen stehende Haustür mitten in der Nacht …

Wenn Swenja zur Arbeit ging, dann redete sie zuvor behutsam auf die Mutter ein, was sie alles bedenken möge. Aber sie hätte auch in den Wald hineinrufen können. Nichts, aber auch gar nichts blieb hängen. Im Gegenteil. In allen Dingen wurde genau anders gehandelt. Natürlich hatte Swenja über all das gelesen, was mit Demenz zu tun hatte. Es gab so viele Parallelen. Ihr Versuch, den Pflegegrad der Mutter hochzusetzen, um auch Pflege­personal anfordern zu können, scheiterte. Wenn da jemand von Amts wegen kam, um entsprechende Fragen zu stellen, dann brillierte die alte Frau mit ihren Antworten wie in ihren besten Jahren und bewegte sich durchs Haus wie ein junges Mädchen. Und wenn – ganz selten – Sybilla auftauchte, dann plauderten und lachten Mutter und Tochter, als ob nichts in ihrer beider Leben geschehen wäre …

Swenja löste sich erschrocken aus ihren Erinnerungen. Das Ton-Geröll-Sand-Stein-Gemisch rutschte in diesem Augenblick donnernd den Abhang hinunter, während Sybilla auf dem Boden lag. Sie wurde schlagartig von den Massen überrollt und begraben. Swenja hatte sich intuitiv rechtzeitig erhoben, war ein Stück zurückgesprungen und hatte sich damit in Sicherheit gebracht. Als wieder Stille eingezogen war, betrachtete sie den Ort des Geschehens. Jetzt dröhnte neuerlich das Nebelhorn. Eine Hand der Schwester ragte aus dem Untergrund, die Finger bewegten sich leicht, krallten in die nebelfeuchte Luft.

Swenja überlegte ganz kurz. Dann drehte sie sich um, lief zur Treppe Richtung Dornbuschwald und stieg die etwa hundert Stufen empor, ohne sich auch nur einmal umzuschauen.

Im Restaurant bestellte sie sich den Grog, von dem die Schwester gesprochen hatte.

„Na, bei dem Schietwetter so allein unterwegs?“, hatte der Kellner freundlich gemurmelt. „Da kann doch allerlei passieren. Aber jetzt sind Sie ja hier und können sich in Ruhe ein wenig stärken. Und dann geht es sicher geradewegs zum Schiff zurück?“

Er sprach Hochdeutsch und schien nicht von der Insel zu sein. Sie hatte nur genickt, obwohl er nicht wirklich auf eine Antwort wartete.

Irgendwann nahm sie den Weg Richtung Hafen in Kloster, nun doch nicht mit dem Umweg über Grieben, wie zuvor der Schwester vorgeschlagen. Dafür hätte die Zeit nicht mehr gereicht. Sie musste pünktlich sein, um die letzte Standardverbindung zu erreichen.

Später auf dem Schiff nach Stralsund, wo die beiden Schwestern Quartier genommen hatten, stand sie wieder an der Reling. Es gab nur wenige Reisende an Bord. Sie atmete jetzt unbeschwert die köstlich-salzige Luft tief ein und aus. Die Nebelfeuchte störte sie nicht. An der Kapuze hatte sie, ohne nachzudenken, endlich einen festen Knoten gebunden, damit sich die sonstige einfache Schleife nicht immer wieder löste. Sie ließ sich die Gischt ins Gesicht sprühen.

Ein paar Möwen begleiteten sie mit lauten, fordernden Schreien. Dann fielen ihr die Streuselschnecken von Bäcker Kasten ein. Die lagen noch in ihrem Rucksack. Dafür würde sie jetzt dankbare Abnehmer finden. Swenja öffnete den Reißverschluss und zog die durchgefettete Papiertüte heraus. Dann brach sie Stückchen für Stückchen von dem Gebäck ab und warf es in die Höhe. Ihre Finger klebten, aber das nahm sie nicht wahr.

In dieser Nacht schlief sie tief und fest, so gut wie lange nicht mehr. Am nächsten Morgen entschied sie sich beim Frühstück für die sofortige Rückreise.

„Und Ihre Schwester? Bleibt sie noch ein paar Tage?“, erkundigte sich die freundliche Mitarbeiterin an der Rezeption.

„Ja, das hatten wir gestern spontan so ausgemacht!“, sagte Swenja mit einem breiten Lächeln. Jetzt freute sie sich sogar auf die Rückfahrt im Auto auf der A 20, die im Gegensatz zu damals mit Knut die Anreisezeit inzwischen erheblich verkürzte.

Swenja war eingenickt. Die fast siebenstündige Autofahrt hatte sie doch ziemlich angestrengt. Aber ein unerfindlicher Drang hatte sie nach ihrer Ankunft daheim in diese Wohnung genötigt.

Irgendwann gab sie sich einen Ruck und öffnete die Augen. Du hast nichts falsch gemacht, alles ist gut, sagte sie sich. Dann erhob sie sich und verließ die Wohnung, die ihr jetzt unheimlich vorkam. Auf dem Rückweg begegnete sie niemandem.

2. Kapitel
Neben der Spur

„Ich gehe mal zur Tür“, sagte Walther zu sich. Seit geraumer Zeit schon führte er Selbstgespräche, damit wenigstens eine Stimme in der Wohnung zu vernehmen war. Andere Leute wichen ja auf Dauerbeschallung durch Radio oder Fernseher aus, hatten Letzteren schon am frühen Morgen eingeschaltet. Das wäre für ihn niemals infrage gekommen.

Er hatte Swenjas hallende Schritte im Hausflur wahrgenommen. Ein Blick durch den Spion verkündete ihm Leere. Es dauerte ein Weilchen, ehe er alle Riegel zurückgeschoben und den Schlüssel, den er von der Hutablage genommen hatte, ins Schloss gesteckt und zweimal nach rechts gedreht hatte. Einen Spalt nur öffnete der alte Mann die Wohnungstür und ließ seine Blicke erfolglos wandern. Dann zog er die Tür wieder in ihre ursprüngliche Position und aktivierte alle Einbruchssicherungen. Der Schlüssel landete erneut auf seinem speziellen Platz. Er schlurfte durch den Flur zurück, die braun-gelb karierten Pantoffeln schienen an seinen Füßen zu kleben.

„Niemand da“, brummte er in seinen ungepflegten Bart, das lichte Haupthaar lag flusig durcheinander und stand zum Teil in die Höhe. Aber Martha, die am Fenster saß, reagierte nicht. Sie hatte es sich in ihrem Ohrensessel gemütlich gemacht und sich dafür ein weiteres Kissen unter den Hintern geschoben, damit sie etwas erhöht sitzend auch aus dem Fenster schauen konnte. Ihre Füße standen auf einem kleinen, stoffbezogenen Höckerchen. Ohne dessen Hilfe hätten sie den Boden nicht erreichen können und ihre Beine hätten nur im Leeren gebaumelt. Sie trug ein frühlingshaftes Kleid mit Mohnblumen darauf. Ihren Büstenhalter hatte sie darüber angezogen. Keiner der beiden Eheleute nahm das wahr. Die Hände hatte Martha ineinandergefaltet und die Finger jeweils zwischen die anderen gesteckt. Nur die Daumen kreisten unermüdlich umeinander. Sie schien Walthers Bemerkung nicht gehört zu haben.

Aufräumen, dachte der Alte, als seine Augen über den Esstisch wanderten. Der stand in einer Nische des großzügigen Wohnzimmers und war direkt von der Küche aus zu erreichen. Auf ihm befanden sich Tassen, Teller, Gläser, und einige Bestecke kreuzten sich dazwischen. Reste von längst vergangenen Mahlzeiten nahmen undefinierbare Gestalt an. Eine übrig gebliebene Brotscheibe krümmte sich in die Höhe. Der Gedanke mit dem Aufräumen, der gleichzeitig mit jenem Stichwort Frauenarbeit kombiniert war, hatte sich längst verflüchtigt.

Walther verspürte weder Hunger noch Durst. Er zog sich die fleckige Anzughose hoch und nestelte an seiner Krawatte. Das einst weiße Hemd war farblich in einen Grauton übergegangen. Knitterfalten überzogen es. Der Alte machte sich auf den Weg in sein Arbeitszimmer. Dort setzte er sich an den Schreibtisch, vor seinen Computer, und streichelte behutsam über die Tastatur. Rechter Hand in einer Ablagekiste befanden sich Briefe von den Kindern, die jüngsten Sendungen ungeöffnet. Der Sohn lebte mit seiner Familie in den Staaten, die Tochter jettete für ihren Reiseveranstalter um die ganze Welt.

„Lieber Paps, liebe Mam, so gerne wir übers Fest nach Hause kommen würden, so leid tut es uns, dass wir das in diesem Jahr nicht einrichten können. Die Arbeit hält uns beide hier in Manhattan fest. So wie wir uns das schon gedacht hatten. Leider, leider! Weder Jane noch ich können uns freimachen. In der Klinik ist der Teufel los. Wir müssen uns um so viele Menschen sorgen, die an dem Virus erkrankt sind. Dafür habt ihr ja sicher Verständnis. Schließlich haben wir als Ärzte einen Eid geschworen, der uns zur Hilfeleistung verpflichtet, was wir natürlich von Herzen gern tun … Und wenn du, lieber Paps, im kommenden Jahr deinen 90. feierst, dann sind wir auf jeden Fall dabei … Ihr könnt uns für die riesige Party schon einmal einplanen … In der Zwischenzeit könnte euch ja mein Schwesterherz mal Skype einrichten. Das ist total einfach und ihr könntet eure Enkel sehen. Ihr glaubt gar nicht, wie sehr die schon wieder gewachsen sind …“

Das hätte Walther im aktuellsten Brief seines Sohnes lesen können, wenn er ihn gelesen hätte. Auch die bohrende Frage, warum denn niemand ans Telefon gehe, die aber gleich selbst beantwortet wurde: „… bestimmt seid ihr viel auf Achse und mit den Senioren unterwegs …“

Marie-Ann war mehrfach auf dem Anrufbeantworter aufgelaufen. Kündigte ein Kommen an, sagte es wieder ab und wiegte sich wie ihr Bruder mit Ausreden in Sicherheit: „… wenn alles klappt, kann ich Heiligabend vorbeischauen. Momentan ist da noch keine neue Dienstreise geplant. Aber man weiß ja nie. Jetzt erst mal ganz liebe Grüße aus Neuseeland. Bleibt gesund und munter. Und Bussi, ihr beiden!“

Noch bis vor Kurzem hatte Walther recht gut funktioniert und die Situation mit seiner Frau im Griff, deren Demenz immer deutlichere Züge annahm. Da hatte er auch stets zum Hörer gegriffen, wenn das Telefon klingelte. Und er wartete mit Notlügen auf, denn er wollte seinen Kindern nicht das Herz schwer machen. Martha befand sich also in der Wanne, war beim Friseur, bei der Fußpflege oder stand am Herd …

„Ja, Mam geht es gut. Sie steht natürlich in der Küche und zaubert was Leckeres für uns beide. Momentan ist sie total unabkömmlich. Aber sie lässt euch herzlich grüßen.“

Dann tauschte er sich mit seinem Sohn aus, und beide fachsimpelten über medizinische Fragen. Wenn es Walther auch nur zum Pfleger gebracht hatte, so hatten sie all ihre Kräfte in die Ausbildung der Kinder gesteckt, vor allem des Jungen, der später seinen Doktor machte.

Marie-Ann war Reiseverkehrskauffrau geworden und tat genau das, was sie sich immer gewünscht hatte, schon als kleines Mädchen. Wenn sie damals etwas spielte, dann war es in der Mehrzahl der Fälle Urlaubmachen. Bei früheren Telefonaten mit ihr ging es stets um phänomenale Eindrücke einer neuen Destination. Die Tochter beschrieb jedes Mal ausgiebig und sehr gut vorstellbar Land und Leute, Flora und Fauna. Fragen nach dem Wohlbefinden der Eltern wurden rhetorisch ans Ende des Gesprächs gelegt und meist gleich selbst beantwortet. Oder aber es endete mit einer Floskel: „Ich muss dann mal wieder, mein Chef drängt. Wir haben ja auch richtig lange geplaudert …“

Die letzte Lieferung der bestellten Waren aus dem Supermarkt war Mitte November eingetroffen. Ein paar Kisten Mineralwasser, etliche Päckchen Knäckebrot, Margarine, Wurst- und Fischdosen, Obst und Gemüse in Gläsern, auch einiges an Frostware. Walther hatte alles verstaut, allerdings auch schon nicht mehr unbedingt an den Orten, wo es hingehörte. Die Tasche mit den gefrorenen Artikeln landete im ehemaligen Kinderzimmer, das der Sohn und die Tochter nie wieder genutzt hatten, seit sie bei den Eltern ausgezogen waren. Gleich zu Beginn ihrer Berufsausbildungen. Dennoch hielten sie es immer bereit für beide, falls sie sich einmal dafür entscheiden würden.

Auf der rechten Seite stand die Carrera-Bahn an ihrem Platz, der abgenutzte, einst hellbraune Teddy saß auf dem Bett, das in geordneter Regelmäßigkeit frisch bezogen wurde, und an der Wand darüber klebten die Plakate von vor vielen Jahren angesagten Musikgruppen. Auf der linken Seite des Raumes war das Reich der Tochter gewesen, optisch etwas abgetrennt durch ein frei stehendes Bücherregal. Hier saß eine viel geliebte Barbiepuppe auf dem Bettzeug, mit einer märchenhaften, etwas verwaschenen Blumenwiese darauf. Auf dem Kopfkissen prangte ein grüner Frosch mit einer goldenen Krone auf dem Haupt. Irgendwann hatte Martha das alles genau so arrangiert, ein Zustand von vor vielen, vielen Jahren, und es hatte Walther sehr berührt.

„Wir wollen euch ja keine Umstände machen“, war stets die Rede des Sohnes, wenn er sich mit seiner Frau und später auch mit dem Nachwuchs von den Eltern für die Übernachtung ins Hotel verabschiedete. „Ist doch viel zu eng für uns alle!“

Und auch Marie-Ann fand immer einen Grund, wa­rum sie nicht in diesem Zimmer schlafen konnte, obwohl sie Single geblieben war und die Enge nicht als Argument gelten konnte.

Für dieses Weihnachtsfest hatte sich der Sohn auch schon weit vorher, irgendwann im Herbst, am Telefon wortreich entschuldigt. Zu viel Arbeit, der enorme Stress, einfach keine Zeit … Natürlich zeigte Walther Verständnis, hoffte aber im Stillen, es würde ein Wunder geschehen und beide Kinder wären am Heiligen Abend daheim. So, wie sich das gehörte.

Am liebsten hing der alte Mann seinen Gedanken an die alten Zeiten nach, als man ihn noch im Beruf anerkannte. Gern saß Walther dazu auf dem sonnigen Balkon, inmitten der Ranken, die von Britta Baumgartens Balkon he­runtergewachsen waren. Er liebte diesen grünen Dschungel, in dem man sich fast verbergen konnte. Im heißen Sommer spendete er schattige Kühle, und es roch, als wäre man auf einem Spaziergang in der freien Natur. Natürlich nur, wenn er die Augen schloss.

Martha ließ ihm diese Ruhe, während sie sich um die Hausarbeit kümmerte, gern etwas Leckeres auf dem Herd zauberte, solange sie konnte. Zum Beispiel Szegediner Gulasch, sein absoluter Favorit. Mit Sauerkraut und Kassler und zuletzt zur Abrundung eine ganze Packung saurer Sahne in das fast fertige Gericht. Wenn die Düfte aus der Wohnung um seine Nase zogen, dann versank er noch lieber in seinen Erinnerungen oder in die Lektüre eines guten Buches.

„Walther, Sie haben unserer Mutter das Leben gerettet mit Ihrer einfühlsamen Pflege. Das hat ihr wieder Mut gegeben“, bedankte sich eine Frau bei ihm, eine seiner Standarderinnerungen. Mit einem großen Blumenstrauß in der Hand und einer Schachtel Pralinen. An dem Strauß ein Umschlag mit einem größeren Geldschein darin. Er winkte nur ab: „Nicht der Rede wert, das ist doch mein Job. Und jeder von uns tut hier sein Bestes. Schön, dass es Ihrer Mutter wieder so gut geht.“

Natürlich steckte er später das Geld in das große rote Sparschwein der Station und teilte die süßen Kalorienbomben mit den Kollegen.

Das mit den Erinnerungen auf dem Balkon musste im vergangenen Sommer gewesen sein oder doch schon im Sommer davor? Walther wusste es nicht mehr. Außerdem trat er jetzt im Winter nicht ins Freie, weder auf den zugeschneiten Balkon noch vor die Haustür.

Und wann es den letzten Szegediner Gulasch gegeben hatte, das war Walther auch nicht mehr bewusst. Lediglich der Auslöser für ein letztes, selbst bereitetes Mahl. Da hatte Martha Spargel, Kartoffeln und Sauce hollandaise zubereiten wollen. Zur Krönung mit Schweinefilet vom Biobauern. Der bot einmal die Woche an seinem Stand neben dem Supermarkt seine Ware feil. Walther hatte nur noch eine schöne Flasche Weißwein zum Essen aus dem Keller holen wollen und war auf dem Weg mit der Hausmeisterin ins Plaudern geraten.

Als er wieder nach oben kam, quoll schon dicker Qualm aus der Wohnung, und die Rauchmelder piepten. Dann funktionierte er nur noch. Riss in der Küche die Pfanne mit dem schwarzen Fleisch von der Platte und stellte den Herd aus. Dann öffnete er weit die Fenster in allen Zimmern, um für Durchzug zu sorgen. Zuletzt erst holte er sich einen Stuhl und stieg unter die Rauchmelder, die Alarm signalisierten. Stück um Stück deaktivierte er sie. Während Martha im Wohnzimmer saß und vor sich hin starrte. Um die Reste der Mahlzeit kümmerte sich dann Walther und servierte auch den Wein dazu. Beide aßen und tranken schweigend. Zum Glück waren die Nachbarn an jenem Tag schon ausgezogen, und niemand bemerkte das Missgeschick.

Als sich Walther abends neben seine Frau legte, zog er das Schubfach seines Nachtschränkchens heraus. Natürlich lagen die Tabletten darin. Wo sollten sie auch sonst sein?! Zwei Rationen an Schlafmitteln, bei denen es kein Danach mehr gab. Er hatte die richtige Sorte ausgewählt und die entsprechende Menge abgezählt. Schließlich kannte er sich in dem Metier aus. Zur Sicherheit war er bei der Anzahl etwas großzügiger gewesen.

Im Bett floh ihn zunächst der Schlaf, aber dann umfing er ihn mit wohligen Träumen. Wie er und Martha sich einst kennengelernt hatten, auf der Hochzeitsfeier seines besten Freundes. Er war der Trauzeuge, und sie streute Blumen in der Kirche, weil die Kinder, die das ursprünglich tun sollten, aus unerfindlichen Gründen in einen Streit geraten waren, sich plötzlich prügelten, dabei in einer Pfütze landeten und in der folgenden Anzugsordnung kein gutes Bild abgegeben hätten. Martha sprang ein und zwinkerte ihm dabei zu. Die Initialzündung, wie Walther später immer wieder zum Besten gab. Da hatte es bei ihnen beiden gefunkt. Nur ein Jahr später führte er seine Liebste zum Traualtar.

Jetzt umarmte er sie und hob sie hoch, federleicht, wie sie war. Trug sie über die Schwelle in das neue gemeinsame Zuhause. Nicht eine Falte hatte sein Marthchen, und wie sie duftete, wie der leibhaftige Frühling. Nach Maiglöckchen und noch viel mehr.

Walther drehte sich von einer Seite auf die andere. Eine Träne rollte aus einem Augenwinkel über sein verbrauchtes Gesicht. Martha erwachte, machte die Nachttischlampe an, schaute zu ihm hinüber und streichelte ihm sanft über den Kopf. Wer war nur dieser Mann da neben ihr im Bett? Hatte sie sich zum Großvater dazugelegt, weil sie einen Albtraum hatte, davon hochgeschreckt war und nicht mehr einschlafen konnte? Bestimmt, beschloss Martha. Dann stand sie betont leise auf und lief durch die Wohnung. Nur im Nachthemd und mit bloßen Füßen befand sie sich Augenblicke da­rauf auf dem Balkon. Ihre Blicke schweiften in die Nacht zu den funkelnden Lichtern, die adventliche Stimmung verhießen. Sie schien die Kälte nicht zu bemerken. Auch nicht das unbeleuchtete Auto mit dem Anhänger, von dem gerade zwei Männer weiteren Sperrmüll auf dem Parkplatz abluden und auf den schon vorhandenen Berg schichteten. Wie immer in einer Nacht-und-Nebel-Aktion und nicht etwa dann, wenn offiziell dazu aufgerufen wurde.

Ob der Weihnachtsmann ihr und ihren beiden Brüdern auch schöne Geschenke bringen würde? Im Gegensatz zu den beiden Jungs war sie ja immer artig gewesen und der Mutter bei allen Hausarbeiten zur Hand gegangen. Martha hatte die Hände auf die Balkonbrüstung gelegt und wippte jetzt mit den Füßen hin und her. Das Gedicht, hatte sie es denn noch parat? Bald würde sie es aufsagen müssen. Fehlerfrei natürlich. Aber sie kannte ja viele schöne Verse, und die Entscheidung für eine Variante fiel ihr jedes Jahr so unendlich schwer. Am liebsten mochte sie das Gedicht von Knecht Ruprecht. „Von drauß’ vom Walde komm ich her, ich muss euch sagen, es weihnachtet sehr …“, sprach Martha in die stille Nacht. Ihr Atem flog mit einem sichtbaren Hauch davon. Als sie damit fertig war, grübelte sie weiter. Oder doch vielleicht ein Lied, das mochten die Eltern besonders gern. Sie räusperte sich und setzte mit etwas brüchiger Stimme an:

„Alle Jahre wieder kommt das Christuskind

Auf die Erde nieder, wo wir Menschen sind.

Kehrt mit seinem Segen ein in jedes Haus,

Geht auf allen Wegen mit uns ein und aus …“

Walthers Traum war abrupt beendet. Vielleicht war es das ungewohnte Streicheln gewesen, eine Erinnerung an früher. Er hatte es ganz deutlich gespürt. Martha, wo war sie denn nun schon wieder hin? Eigentlich wollte er aufspringen, aber das gaben seine Knochen nicht mehr her. Er ächzte, als er sich mühsam erhob und sich dafür mit beiden Händen auf der Bettkante abstützte.

Schon im Flur spürte er den Frost, der durch die Wohnung zog. Nein, die Tür war es nicht. Die war fest verschlossen, und den Schlüssel hatte er wie stets extra auf der Hutablage deponiert, ganz am Ende. Eine generelle Sicherheitsmaßnahme. Martha sollte nicht drankommen und sich eventuell auf den Weg machen können. Dann der Balkon. Natürlich. Walther fuhr sich durch die Haare, die dadurch nicht mehr zerzaust wurden als ohnehin. Von dort vernahm er plötzlich auch ihren Gesang.

„Was machst du denn hier, Liebes?“ Er legte ihr vorsichtig einen Arm um die Schultern, um sie nicht zu erschrecken. „Du wirst dich noch erkälten. Hättest dir wenigstens eine Jacke überziehen sollen.“

Marthas Augen glänzten im Schein der funkelnden Nacht, aber sie sagte kein Wort mehr, sondern ließ sich nur willig ins Innere führen. Walther schloss hinter ihr die Balkontür. Ein richtiges Schloss wäre auch hier eine Lösung, fuhr ihm ein Gedanke durch den Kopf. Das hättest du schon längst machen lassen sollen. Er nickte und zugleich fiel ihm ein, dass er dafür eigentlich Edgar hatte ansprechen wollen. Das war ihm bislang nur durch die Lappen gegangen, weil er den Hausmeister so lange nicht gesehen hatte.

Walther betrachtete seine Frau. Ihre Füße waren knallrot und nass von dem Schnee draußen. Selbst beim Nachthemd zog sich die Feuchtigkeit nach oben. Jetzt ein heißes Bad? Oh nein, nicht doch mitten in der Nacht. Er hätte dafür keinesfalls die nötigen Kräfte aufgebracht. Dann wenigstens mit einem Frotteetuch trocken rubbeln.

Er führte Martha ins Bad und zog ihr das Nachthemd über den Kopf. Zum Vorschein kam ein ausgemergelter, abgemagerter Körper, bei dem die Knochen hervorstanden. Was hättest du früher dafür gegeben, so wenig Kilos auf die Waage zu bringen?, bohrte sich eine Frage in Walthers Gehirn. Hast immer gehadert mit deinem Gewicht. So ein Blödsinn. Jedes Gramm an dir habe ich geliebt. Jetzt wirst du immer weniger …

Resolut zog sich Walther das große Badetuch vom Haken und fing an, Martha vom Kopf bis zu den Füßen abzurubbeln. Ganz behutsam. Schließlich war auch ihre Haut über die Jahre äußerst empfindlich geworden, und er wusste, was in dem Alter und diesem Zustand eventuelle Verletzungen bedeuten konnten. Offene Stellen heilten mitunter nie wieder.

„So, mein Schatz.“ Walther führte seine Frau an der Hand wieder ins Schlafzimmer. „Dann suche ich dir noch ein schönes warmes Flanellnachthemd heraus. Und eins, zwei, drei schläfst du wieder den Schlaf der Gerechten. Wir haben ja bis zum Aufstehen noch alle Zeit der Welt.“

Sie schaute zu ihm hoch, und es wirkte fast liebevoll. Wenn der Großvater sagte, dass sie ins Bett sollte, dann gab es keine Widerrede. Martha legte sich gehorsam hin und ließ sich von Walther bis ans Kinn zudecken. Die Augen hielt sie geschlossen. Morgen, dachte sie, morgen werde ich ganz bestimmt die Liebesperlen essen, die der Opa in seinem Nachtschränkchen verstaut hat. Sehr weit hinten zwar, sodass sie nicht auf Anhieb ins Auge fielen. Aber sie hatte ihn dabei beobachtet, wie er sie in den Händen hielt. Bestimmt sollte das eine Überraschung für sie sein. Und er würde garantiert nicht böse sein, wenn sie die Liebesperlen schon naschen würde …

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22 декабря 2023
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300 стр. 1 иллюстрация
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9783827184078
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