Читать книгу: «Das Schweigen der Aare», страница 4

Шрифт:

Kapitel 11

Bern, Waisenhausplatz, 21. November 2019, 10:15

Lisa saß mit Zigerli im Pausenraum des Dezernats Leib und Leben. Seit ihrem Ermittlungserfolg mit den Algenproben waren sie keinen Schritt weitergekommen. Keinen Millimeter. Es waren seither fast zwei Tage vergangen. Die Gedanken drehten sich bei Lisa im Kreis. Zig Mal war sie mit Zigerli die bisherigen Ereignisse nochmals durchgegangen. Verzweifelt hatten sie versucht, irgendwo einen Hinweis zu finden, der ihnen half, den Ermittlungsfaden wieder aufzunehmen. Der Faden war gerissen. Gerissen und verschwunden. Noch schlimmer, als an die Suizidthese von Trachsel zu glauben, war ein unaufgeklärter Mord. Lisa spürte, wie ihre Unzufriedenheit und Frustration wuchsen; von Stunde zu Stunde. Sie konnte nicht wissen, dass der Faden bald wieder auftauchen würde.

Und mit dem Faden eine Katastrophe. Eine schreckliche Katastrophe.

Kapitel 12

Murten, Hauptgasse, 22. November 2019, 09:10

Alva Manaresi saß in einem behaglichen Café in der Innenstadt von Murten und hoffte, in gemütlicher Kaffeehausatmosphäre leichter Zugang zu Franz Kafkas Die Verwandlung zu finden. Bisher Fehlanzeige. Sie hasste Kafka. Seine grotesken und absurden Erzählungen waren nicht ihr Ding. Überhaupt nicht.

Die jüngste Tochter von Elin und Luca Manaresi unterschied sich grundlegend von ihren älteren Schwestern Lisa und Siri. Alva hatte weder die Schönheit und Ausstrahlung ihrer Mutter Elin noch viel von der Italianità ihres Vaters Luca geerbt. Alva war ein 19-jähriges Mädchen, welches gerne seinen Tagträumen nachhing. Sie war eine Einzelgängerin, im Grunde sehr liebenswürdig, konnte Leute aber gehörig vor den Kopf stoßen, da sie oft einfach drauflos plapperte und erst dann überlegte. Sie hasste Sport, egal in welcher Ausprägung. Dennoch machte Alva einen durchaus sportlichen Eindruck, was ihre Einstellung, keinen Sport zu treiben, weiter bestärkte.

Zurzeit befand sich Alva im Abschlussjahr am Gymnasium Kirchenfeld. Und damit auch bei Kafka und seiner idiotischen Erzählung Die Verwandlung. Es ging dort um den Geschäftsreisenden Gregor Samsa. Dieser war von seiner Arbeit ausgelaugt. Eines Morgens erwachte Samsa aus seinen unruhigen Träumen und machte eine schockierende Feststellung: Geprägt von Leid und Schmerz hatte er die Gestalt eines Käfers angenommen. Die Erzählung drehte sich langfädig und surreal um das Leben dieses doofen Käfers. Zäh.

Das waren zumindest die Einschätzungen aus der Perspektive von Alva Manaresi.

Ein leises Surren ihres Smartphones holte Alva in die viel spannendere Gegenwart zurück.

»Hallo, Sophia. Du bist meine Rettung. Ich werde gerade von einem Käfer zermürbt.«

Sophia, eine Klassenkameradin von Alva, war es gewohnt, dass Alva manchmal komisches Zeug daherredete. Die Geschichte mit dem Käfer hatte sie deshalb nicht groß aufgeschreckt.

»Alva, hast du Lust, heute Abend mit mir zum Stufenbau zur Felsenau-Biernacht zu kommen?«

Der Stufenbau war ein Eventlokal am Stadtrand von Bern und Felsenau der Name einer alteingesessenen Bierbrauerei, unweit des Stufenbaus direkt an der Aare.

»Ich … ich weiß nicht«, stotterte die überrumpelte Alva. Bierfeste standen in Alvas Gunst gleich neben Kafka. Nicht ihr Ding. Sie konnte nicht verstehen, dass sich viele ihrer Freundinnen und Freunde Woche für Woche mit diesem bitteren, urinfarbenen Gesöff volllaufen ließen.

»Sei kein Frosch. Die Caribic-Night im Stufenbau vor zwei Wochen hast du geliebt.«

Da hatte Sophia recht; aber eine vergangene coole Party war noch lange kein Grund, einen freien Abend für ein ekliges Bierfest zu vergeuden. Auf der anderen Seite wollte Alva dem Enthusiasmus ihrer Freundin keinen Dämpfer versetzen. Deshalb hörte sie sich sagen:

»Okay, wann geht es los?«

»Um 20.30 Uhr, treffen wir uns direkt am Eingang beim Stufenbau.«

»Abgemacht«, beendete Alva das Gespräch. Kaum hatte sie aufgelegt, bereute sie bereits die gemachte Zusage. Die Aussicht, die kommenden Stunden in erster Linie mit Kafka und Bier zu verbringen, verursachten ihr eine leichte Übelkeit. Alva überlegte sich, ob sie die Zusage zum Bierfest wieder rückgängig machen sollte. Sie verwarf den Gedanken gleich wieder. Es blieben die trüben Aussichten und die dunklen Gedanken. Novemberblues.

Alva merkte deshalb nicht, wie der Gast am Tisch neben ihr aufstand, sich kurz am rechten Ohrläppchen kratzte und zügig das Lokal verließ.

Kapitel 13

Bern, Waisenhausplatz, 22. November 2019, 12:40

Während der Mittagspause hatte sich Max Obermaier, der bayrische Gastkommissar, zu Lisa an den Kantinentisch gesetzt und sie mit seiner einfallslosen Angeberei genervt. Am liebsten hätte ihm Lisa direkt ins Gesicht gesagt, dass er sie mit seinem Gesülze in Ruhe lassen soll. Sie hatte aber ein Einsehen mit dem Gast aus Bayern und musste nun dafür büßen. Endloses Gefasel. Obermaier lobte gerade seinen Kollegen Trachsel über den grünen Klee. Weltklasse sei es gewesen, wie Trachsel den Fall mit dem Sturz von der Kirchenfeldbrücke in Rekordzeit gelöst hatte. Man sei sehr stolz in Schrobenhausen, dass man mit Leuten wie Trachsel zusammenarbeiten dürfe. Zum Kotzen.

Schließlich passierte das Unerwartete. Obermaier fand für Lisa den Ermittlungsfaden wieder, wenn auch unbeabsichtigt.

Irgendwann waren die Berichte über die Heldentaten von Obermaier und Trachsel erschöpft. Obermaier war deshalb dazu übergegangen, Lisa mit Komplimenten zu überhäufen und ihr mehr oder weniger eindeutige Avancen zu machen.

»Frau Manaresi, für mich sind Sie die Aphrodite Berns«, säuselte Max Obermaier in Lisas Ohr. Lisa war kurz versucht, ebenfalls die griechische Mythologie zu bemühen und ihm zu antworten:

»Und Sie für mich die Schrobenhausener Hydra.« Sie ließ es im letzten Moment bleiben.

»Die Männer stehen auf Sie, Frau Manaresi. Aber das wissen Sie selbst. Erst vor drei oder vier Tagen hat sich ein ziemlich schräger Typ direkt hier bei uns auf der Hauptwache nach Ihnen erkundigt. Der wollte eine Menge über Sie wissen. Was Sie in Ihrer Freizeit tun, wo Sie gerne essen gehen und …«

»Und Sie gaben bereitwillig Auskunft. Die Polizei, dein Freund und Helfer.«

»Wo denken Sie hin, natürlich nicht. Datenschutz ist mir heilig. Erst recht, wenn es dabei um Kollegen geht. Einzig Ihre Schwäche für Roastbeef im Restaurant Schwarzwasserbrücke ist mir herausgerutscht. Das ist ja zum Glück keine sensible Information.«

Allmählich kam sich Lisa wie in einem schlechten Film vor. Sie hatte immer mehr den Verdacht, dass die Schrobenhausener Polizei den Kollegen Obermaier nach Bern abgeschoben hatte, um für ein paar Monate in Ruhe arbeiten zu können. Dass der Austausch eine Belohnung für außerordentliche Leistungen sein sollte, konnte sie sich nicht vorstellen.

»Herr Obermaier, es geht niemanden etwas an, was ich gerne und wo esse«, entgegnete Lisa lauter als geplant. Obermaier zuckte leicht zusammen.

»Es tut mir leid. Zur Wiedergutmachung lade ich Sie zu Ihrem Leibgericht ins Restaurant Schwarzwasserbrücke ein. Wann immer Sie wollen.«

»Danke, das brauchen Sie nicht. Erzählen Sie mir lieber, was an dem Mann, der sich über mich erkundigt hat, so schräg gewesen ist«, wiegelte Lisa ab.

»Nun, die Fragen, die er gestellt hat. Und dann hatte er auf der rechten Seite ein völlig verkrüppeltes Ohr. Es sah aus, als ob ihm jemand einen kleinen Blumenkohl an den Kopf genäht hätte.«

»Können Sie mir genau sagen, wann dieser Mann hier aufgetaucht ist?«

»Das muss am Freitag gewesen sein, das heißt am 16. November – vor vier Tagen. Ich weiß das so genau, weil Trachsel und ich gerade zum Feierabendbier aufbrechen wollten. Es war gegen 15.30 Uhr.«

Auch wenn womöglich alles reiner Zufall war, wurde Lisa das Gefühl nicht los, dass mit dem Auftauchen dieses Fremden und seiner Fragerei irgendetwas nicht stimmte.

Hier war er also wieder, der Faden.

Lisa beschloss, mit Zigerli darüber zu sprechen. Der würde ihr wahrscheinlich auch nicht weiterhelfen können. Aber Lisa hatte in solchen Gesprächen schon oft neue Ermittlungsansätze gefunden. Sie hoffte, dass es auch dieses Mal so sein würde.

Lisa traf sich kurz nach Arbeitsschluss mit Zigerli im Restaurant Tibits beim Hauptbahnhof. Ungeduldig berichtete sie ihm über das Gespräch mit Obermaier. Es tat ihr gut, dass Zigerli ihre Meinung teilte, was die Fragerei dieses fremden Mannes betraf. Hier stimmte etwas nicht. Hier stank etwas. Und zwar gewaltig.

Natürlich hatte Lisa Obermaier bereits gefragt, ob er den Namen des Fremden registriert hatte oder ob er irgendwelche andere Information über ihn hatte. Nichts.

Aber es gab dieses Blumenkohl-Ohr. Das war immerhin etwas. Vielleicht konnte man diesbezüglich im Internet etwas finden? Handelte es sich um eine geburtliche Missbildung oder um einen erst später erlittenen Unfall? Das würde Knochenarbeit werden, zumal sie nicht auf die Datenbanken der Polizei zugreifen konnten, auch wenn sie diese direkt vor ihrer Nase hatten. Wenn Trachsel herausfinden würde, dass sie private Ermittlungen über die IT-Systeme der Berner Kriminalpolizei anstellten, wäre die Polizeikarriere zu Ende, bevor sie überhaupt begonnen hatte. Bei solchen Dingen kannte Trachsel keinen Spaß. Und bei Lisa erst recht nicht.

Die halbe Nacht surfte Lisa im Web. Sie hatte das Gefühl, Hunderte von Suchbegriffen und Kombinationen ausgetestet zu haben. »Bern«, »Missbildung«, »Ohr«, »Unfall«, »chirurgisch«. Die Liste wurde immer länger. Das Resultat war immer dasselbe. Nichts.

Am folgenden Morgen hatte sich Zigerli bei verschiedenen Kollegen im Dezernat und der ganzen Hauptwache erkundigt, ob jemandem am vergangenen Freitag ein Mann mit einem Blumenkohl-Ohr auf der rechten Seite aufgefallen war. Zigerli ging es nicht besser als Lisa. Nichts.

Sollten sie nach der Algengeschichte bereits wieder in eine Sackgasse geraten sein? Sie hatten zum Glück nicht allzu lange Zeit, darüber zu grübeln.

Kapitel 14

Bern, Stufenbau, 22. November 2019, 23:30

Leider übertraf das Bierfest Alvas schlimmsten Befürchtungen. Bereits kurz vor Mitternacht hatte sie das Gefühl, von einer einzigen Horde stinkender und rülpsender Biersäufer umgeben zu sein. Alles kam ihr total primitiv vor. Niveaulos.

Auf drei Ebenen verteilt, gab es verschiedene Bars. Ungefähr in der Mitte des stufenförmigen und verwinkelten Baus befand sich eine Bühne, auf welcher abwechselnd lokale Bands ihr mehr oder weniger großartiges Schaffen zum Besten gaben. Überall konnte Bier der Marke Felsen­au bestellt werden. Wenn man wollte, auch in rauen Mengen. Im stolzen Eintrittspreis von 60 Schweizer Franken war nämlich unlimitierter Bierkonsum inbegriffen. Der Renner unter den Bieren war das Bärner Müntschi3, ein helles naturtrübes, süffiges Bier. Alva hatte knappe zwei Stunden mit der kleinen Flasche, ihrer ersten, gekämpft. Ein 20-jähriger Jungberner hatte Alva schließlich erlöst, indem er die noch halbvolle Bierflasche unabsichtlich umkippte. Zumindest glaubte dies Alva. Keine drei Minuten später tauchte der junge Herr bereits wieder auf – mit einem neuen, prall gefüllten Bärner Müntschi.

»Tut mir leid, dass ich dein Bier verschüttet habe,« lallte der offensichtlich nicht mehr nüchterne Jüngling. Man sah ihm an, dass er Alva am liebsten ein echtes Bärner Müntschi auf ihren Mund gedrückt hätte. Sein bisheriger Bierkonsum reichte allerdings noch nicht, um genügend Mut dafür aufzubringen. Deshalb stand Alva kurz darauf wieder alleine am Geländer über der Bühne. In der rechten Hand hielt sie ein frisches, kühles Bärner Müntschi und überlegte angestrengt, wie sie sich dessen am elegantesten entledigen konnte.

Sophia hingegen amüsierte sich prächtig. Sie genoss es, im Mittelpunkt zu stehen. Aus diesem Grund hatte sie für den Abend ein Outfit gewählt, welches ihre rundlichen Formen und ihren großen Busen perfekt zur Geltung brachte. Für sie gab es nichts Schöneres, als den ganzen Abend mit Komplimenten eingedeckt zu werden und sich Bier um Bier zu gönnen. Da konnte man auch über die eine oder andere vulgäre Bemerkung unter der Gürtellinie hinwegsehen.

Alva war inzwischen ihr Bier los geworden. Sie hatte es einfach auf einen leerstehenden Tisch gestellt. So einfach war das. Trübselig starrte sie auf die gut vier Meter unter ihr spielende Band. Spielen war im Grunde das falsche Wort. Lärmen beschrieb das Tun der vier langhaarigen Bandmitglieder weit besser. Der Schlagzeuger mit dem auffälligen tätowierten roten Totenkopf auf dem rechten Unterarm versuchte seit gut 20 Minuten, sein Schlagzeug mit seinen Trommelstöcken zu zertrümmern. Bis jetzt noch ohne Erfolg. Die Schweißperlen des Trommlers glitzerten wie kleine Edelsteine im nervösen Licht der Partybeleuchtung.

Weshalb zermartere ich mir die ganze Zeit den Kopf, wie ich am besten von hier abhauen könnte?, fragte sich Alva. Einfach raus hier!

Sie könnte Sophia später von zu Hause eine kurze SMS senden und ihr mitteilen, dass sie urplötzlich höllische Kopfschmerzen bekommen hätte.

Ein paar Minuten später war Alva die zahlreichen Stufen des Eventlokals hinuntergeeilt und unten an der Pulverstraße angekommen. Sie überlegte sich, ob sie zu Fuß nach Hause gehen oder an der angrenzenden Worblentalstraße auf einen Bus warten sollte. Der Antisportler in ihr setzte sich durch. Alva machte sich auf den Weg zur Bushaltestelle.

Kurz vor dem Ende der Pulverstraße hielt unvermittelt ein Auto neben ihr. Genauer gesagt ein grauer Ford Kuga-Allroad.

Durch das offene Autofenster hörte Alva eine Männerstimme:

»Falls Sie auch Richtung Innenstadt unterwegs sind, können Sie gerne ein Stück mit mir mitfahren.« Alva war vom unerwarteten Angebot völlig überrumpelt. Es kam von einem unsympathischen Typen. Alva schätzte den Mann auf 55 bis 60 Jahre. Natürlich werde ich nicht zu diesem ungepflegten Unbekannten ins Auto steigen, erst recht nicht mitten in der Nacht, waren ihre spontanen Gedanken. Ihre depressive Stimmung und die bleierne Müdigkeit einerseits und die ruhige, unaufdringliche Art des Fremden andererseits ließen Alva dennoch zögern. Wenn sie mitfahren würde, wäre sie in wenigen Minuten zu Hause im warmen Bett. Verlockend.

»Gerne! Wenn ich bis zum Viktoriaplatz mitfahren könnte, wäre dies super nett«, hörte sie sich antworten.

»Ich fahre dort vorbei. Steigen Sie ein.« Mit diesen Worten öffnete der Unbekannte die Tür zum Beifahrersitz. Beim Einsteigen verspürte Alva ein mulmiges Gefühl. Die Aussicht, in ein paar wenigen Minuten zu Hause zu sein, beruhigte sie jedoch wieder. Der Fremde entpuppte sich zum Glück als schweigsamer Zeitgenosse. Keine Anmache, nicht einmal ein Ansatz von Small Talk. Genau das Richtige für Alva.

Sie befanden sich auf der Tiefenaustraße und fuhren in Richtung Innenstadt, als sich Alva ihren Fahrer ein bisschen näher anschaute. Der Mann war keine Schönheit. Er hatte schütteres schlecht gepflegtes, strähniges Haar. Die harten Gesichtszüge gaben dem Fremden einen verbitterten Ausdruck. Alva fragte sich, was der Grund dafür sein könnte. Waren es Schicksalsschläge, übertriebener Ehrgeiz oder vielleicht tiefgründige Frustration? Während sie über die Psyche ihres Fahrers nachdachte, merkte sie nicht, dass sie nicht mehr Richtung Innenstadt unterwegs waren, sondern auf der Autobahn A6 in Richtung Thun. Erst die kleinen Lichter der Landebahn des Flughafens Bern-Belp sagten Alva, dass etwas nicht stimmte.

»Wo fahren Sie hin? Hätten wir nicht bei der Ausfahrt Wankdorf die Autobahn verlassen müssen, um zum Viktoriaplatz zu gelangen?«, erkundigte sich Alva.

Sie erhielt keine Antwort. Ein kurzes stummes Lächeln war alles, was sie dem Fremden als Reaktion auf ihre Frage entlocken konnte. Alva war mit einem Mal klar, dass sie einen schrecklichen Fehler begangen hatte. Sie spürte, wie sich Panik wie eine dunkle Gewitterwolke in ihr ausbreitete. Ihr Bauch verkrampfte sich, und in ihrem Hals wuchs ein Kloß, der immer größer wurde.

»Bitte halten Sie an und lassen Sie mich aussteigen«, bettelte Alva. Zu ihrer Überraschung verließ der Mann kurz darauf bei der Ausfahrt Kiesen die Autobahn.

Alva schöpfte Hoffnung, dass alles gut werden würde. Vielleicht hatte sie den Teufel doch zu früh an die Wand gemalt. Wenig später rumpelte das Auto über einen kleinen unbefestigten Parkplatz und hielt hinter einer Abfallmulde. Dann ging alles sehr schnell.

Alva wollte mit einem kurzen »Danke« einfach aus dem Auto stürmen. Der Fremde hatte einen anderen Plan. Das Auto war noch nicht völlig zum Stillstand gekommen, als er sich zu Alva umdrehte und sie mit seinem rechten Arm in den Sitz drückte. In der linken Hand schwenkte er ein kleines Seil. Bevor Alva reagieren konnte, war er über ihr und presste sie mit seinem Gewicht fest in den Beifahrersitz. Er hatte nun beide Hände frei. Alva konnte sich keinen Millimeter bewegen, geschweige denn zur Wehr setzen. Es war für ihn ein leichtes Spiel, Alva zu fesseln und ihr die Augen mit einem Tuch zu verbinden. Schließlich stopfte er ihr einen Stofflappen in den Mund, damit sie weiter still blieb. Alva hatte nicht einmal versucht zu schreien. Sie war wie gelähmt. Geschockt.

Kurz darauf packte sie der Fremde und warf sie sich wie einen Mehlsack über die Schulter. Ein paar Sekunden später landete sie unsanft im Kofferraum des Autos. Als er diesen verschloss, wurde das Schwarz vor ihren Augen noch schwärzer.

Kurz darauf setzte sich das Fahrzeug wieder in Bewegung. Nach ein paar Minuten wurde das Motorengeräusch regelmäßiger. Alva nahm an, dass sie sich wieder auf der Autobahn befanden.

Wohin würde er mit ihr fahren? Und was würde sie dort erwarten?, begann sich Alva zu ängstigen. Etwas in ihrem Inneren riet ihr, nicht in Mutlosigkeit zu verfallen. Sie musste jetzt kämpfen. Dabei dachte sie fast augenblicklich an ihre ältere Schwester Lisa. Lisa würde wahrscheinlich nie in eine solche Situation geraten. Und wenn doch, dann würde sie sich wehren – bis aufs Blut.

Nach ein paar Minuten hatte sich Alva soweit beruhigt, dass sie wieder halbwegs klar denken konnte. Es war wichtig, alle Informationen über ihren Peiniger zusammenzutragen.

Was wusste sie über ihn? Nichts. Fast nichts.

Sie kannte sein Gesicht und sein ungefähres Alter. Daneben besaß der Fremde zwei weitere Auffälligkeiten. Erstens: Das rechte Ohr glich einem Blumenkohl. Alva erinnerte es auch an ein bösartiges Geschwür. Zweitens: Der Fremde stank nach Alkohol. Als er sie fesselte, roch sie seinen süßlichen Atem. Sogar im Kofferraum konnte sie seine unangenehme Ausdünstung riechen. Sie betete, dass sie sich nicht in den Knebel übergeben musste.

3 »Bärner Müntschi»: Berner Kuss

Kapitel 15

Bern, Altenberg, 23. November 2019, 07:35

Luca hatte wieder eine böse Nacht hinter sich. Seine Albträume hatten ihn über Stunden gemartert. Als er gegen Morgen endlich in einen unruhigen Schlaf verfiel, wurde er durch das leise Schluchzen von Elin geweckt. Sie kämpfte mit dem Schmerz, welcher der Tod von Siri in die Familie Manaresi gebracht hatte. Luca spürte, wie auch ihm Tränen in die müden Augen stiegen. Damit war das Thema Schlaf für eine weitere Nacht erledigt.

Als kurze Zeit später der Wecker mit schadenfrohem Gebrüll den Tag einläutete, hatte Luca das Gefühl, dass seine Arme und Beine über eine Streckbank gezogen worden waren. Besonders die Schmerzen in seiner rechten Hand waren derart stark, wie er sie seit Jahren nicht mehr erlebt hatte. Als Jugendlicher hatte Luca in seiner Heimat einen schlimmen Unfall mit der Pizzateigmaschine seines Onkels gehabt. Bei einer Mutprobe mit Freunden hatte ihm der Knethacken die Mittelhand- und Handwurzelknochen seiner rechten Hand zertrümmert. Die Chirurgen am Ospedale Maggiore in Bologna konnten zwar die Hand retten, aber als Folge erinnerten ihn regelmäßig wiederkehrende Schmerzen an seine damalige Dummheit. Seit diesem Unfall hasste Luca Pizza. Bereits der Anblick von Pizzateig konnte bei ihm einen Brechreiz auslösen.

Obwohl sich Luca elend fühlte, fiel ihm plötzlich wieder ein, dass er vor ein paar Tagen in der Zeitung eine Spur, womöglich sogar die Ursache für seine qualvollen Albträume entdeckt hatte. Er musste dringend mit den Ärzten darüber sprechen. Seine italienische Lebensart hatte ihm aber bis anhin stets andere Prioritäten auf seine Tagespläne gesetzt. Heute würde er gleich nach dem Morgenessen Doktor Capol in der neurologischen Klinik am Inselspital anrufen. Er wollte wissen, ob der Experte seine Hypothese teilte.

Luca war auf der Suche nach der Telefonnummer von Doktor Capol, als ein Schrei die friedliche Stille am Altenbergrain durchschnitt.

»Luca, das Bett von Alva ist leer! Sie wollte gestern mit Sophia ans Bierfest im Stufenbau und ist noch nicht zurück«, meldete sich Elin in höchster Aufregung.

»Wahrscheinlich ist sie zu Sophia und hat bei ihr übernachtet.«

»Das hätte sie mir gesagt. Wenn Alva bei einer Kollegin übernachtet, macht sie mir immer eine Mitteilung. Zumindest hätte sie mir eine SMS geschickt.« Elin wirkte immer besorgter.

»Hast du ihr schon geschrieben?«, erkundigte sich Luca.

»Ja klar. Wenn sie tatsächlich bei Sophia ist, werden die beiden noch schlafen. Es ist erst kurz vor 8 Uhr. Auf jeden Fall hat sie sich die Nachricht noch nicht angeschaut.«

»Warten wir bis 9.30 Uhr. Wenn sich Alva bis dahin nicht gemeldet hat, kannst du sie anrufen – auch wenn du sie aus dem Schlaf holst«, schlug Luca vor.

Elin hätte Alva am liebsten gleich angerufen. Sie machte sich schreckliche Sorgen. Die Geschehnisse um Siri trugen das Ihre dazu bei. Quälend langsam krochen die Minuten vorbei. Immer langsamer. Wie Schnecken, welche von der warmen Sonne nach einem Gewitterregen überrascht wurden. Um 9.28 Uhr hielt es Elin nicht mehr aus. Sie wählte die Nummer von Alva und hoffte verzweifelt, in den nächsten Sekunden die Stimme ihrer jüngsten Tochter zu hören. Es meldete sich niemand außer dem Anrufbeantworter des Mobiltelefons. Von aufsteigender Panik getrieben, stammelte Elin eine kurze Nachricht und legte deprimiert ihr Handy zur Seite. Sie ahnte, dass irgendetwas nicht stimmte. Konnte es sein, dass innerhalb weniger Tage zwei ihrer Töchter ein Unglück erlitten?

Luca hatte in der Zwischenzeit mit dem Neurologen gesprochen. Basierend auf dem kürzlich entdeckten Zeitungsbild hatte er ihm seine Vermutung, was der Auslöser seiner Albträume sein könnte, geschildert. Doktor Capol hatte ihn gefragt, weshalb Luca bis anhin nie über dieses Ereignis gesprochen hätte. Darauf hatte Luca keine klare Antwort. Er mutmaßte, dass er das Erlebte wahrscheinlich verdrängt habe. Erst das Zeitungsbild brachte die Erinnerung daran wieder zurück. Der Arzt hatte geschwiegen und im Anschluss gemeint, dass es gut wäre, baldmöglichst einen Termin für eine Besprechung in der Klink zu vereinbaren. Man einigte sich auf den 27. November, 10 Uhr.

Es war fast Mittag, als die Türklingel Elin und Luca aus ihren dunklen Gedanken riss. Sie hörten, wie kurz darauf die Wohnungstüre geöffnet wurde. In ihren Ohren klang die Hausglocke heute wie Himmelsgeläute und die anschließenden Schritte tönten wie von einem Engel.

»Hallå, Mamma, salve, Coccolone«, begrüßte Lisa ihre Eltern.

Es beschämte Elin und Luca, dass der Besuch von Lisa bei ihnen beiden im ersten Moment keine Freude, sondern Enttäuschung auslöste.

»Was ist denn euch über die Leber gelaufen? Ihr seht aus, als ob ihr Besuch vom Betreibungsbeamten erhalten habt.« Lisa wurde auf einen Schlag wieder bewusst, wie tief der Tod von Siri ihre Eltern offensichtlich getroffen hatte.

»Es tut uns leid«, entgegnete Elin. »Wir machen uns große Sorgen um Alva. Sie wollte gestern Abend ans Bierfest im Stufenbau und ist nicht wieder aufgetaucht. Nicht einmal eine Nachricht haben wir von ihr erhalten.«

Lisa wollte bereits entgegnen, dass sie sich keine Sorgen machen sollten. Die kleine Schwester würde mit Sicherheit bald wieder hier sein. Die Tatsache, dass Alva nichts von sich hatte hören lassen, beunruhigte aber auch Lisa. Ihre jüngste Schwester war zwar eine Träumerin, besaß aber ein gesundes Verantwortungsbewusstsein.

Eigentlich hatte Lisa aus einem anderen Grund ihre Eltern aufgesucht. Der morgendliche Termin beim Zahnarzt hatte Lisa völlig überraschend einen wichtigen Mosaikstein im Zusammenhang mit dem Tod von Siri geliefert. Nach der Zahnkontrolle hatte Lisa direkt einen Folgetermin für das kommende Jahr vereinbart. Als die medizinische Praxisassistentin den Termin in der Praxisagenda vermerkte, hätte Lisa beinahe laut aufgeschrien. Die ältere Dame verwendete einen Füllfederhalter. Einen Tintenschreiber.

Ein Knoten löste sich in Lisas Hirn. Der Abschiedsbrief von Siri war ebenfalls mit Tinte geschrieben. Nie zuvor hatte Lisa erlebt, dass Siri eine Füllfeder verwendet hatte. Offensichtlich wollte Siri damit ausdrücken, dass mit dem Brief etwas nicht in Ordnung war.

Alles passte immer besser zusammen. Wurde Siri gezwungen, einen Abschiedsbrief zu schreiben, um einen Suizid zu suggerieren? Für Lisa gab es nur eine Antwort: ja. Auf der einen Seite war Lisa zufrieden, dass sie ein weiteres starkes Indiz für die Mordthese gefunden hatte, auf der anderen Seite gab es nach wie vor keine Spur, welche zum Mörder führen könnte. Diese niederschmetternde Erkenntnis war keine ideale Basis, um den deprimierten Eltern eine Stütze zu sein.

Elin und Luca hofften nämlich, dass Lisa einen Vorschlag hatte, was am besten zu tun sei. Schließlich arbeitete sie bei der Kriminalpolizei. Sie wurden enttäuscht. Ausser Warten wollte Lisa nichts Gescheites einfallen. Sie versuchte, ihre Eltern in ein Gespräch über andere Themen zu verwickeln, um sie aus ihren trüben Gedanken herauszuholen. Der Erfolg war mäßig. Lisa merkte, wie sich die Diskussionen im Kreis drehten und sich die Stimmung wie eine Bohrmaschine immer weiter nach unten grub. Auch wenn es sie schmerzte, sie musste zurück auf die Wache und ihre Eltern wohl oder übel den eigenen traurigen Gedanken überlassen.

Eine gute halbe Stunde später berichtete sie Zigerli über ihre Erleuchtung in Bezug auf den Abschiedsbrief von Siri und vom Besuch bei ihren Eltern. Sie hoffte, dass Thomas eine Idee hatte, was an Stelle der quälenden Warterei gemacht werden könnte.

Ihre Hoffnung war nicht besonders groß. Die Idee von Zigerli genial.

Handyortung hieß das Zauberwort. Lisa hatte keine Ahnung, wie so etwas im Detail funktionierte. Zigerli erklärte es ihr. Es war verblüffend einfach. Es braucht dazu lediglich eine spezifische App, die auf vielen iOS Geräten vorinstalliert war. Mit der App können zum Beispiel iPhones von Freunden geortet werden. Allerdings musste die betreffende Person die Standortfreigabe aktiviert haben.

Alva hatte die Freigabe leider nicht aktiviert. Sackgasse. Beschissene Sackgasse.

Während Lisa eine Salve schwedischer Fluchworte losfeuerte, schien Zigerli der Misserfolg nicht sonderlich zu stören.

»Es gibt noch andere Möglichkeiten zur Handyortung«, meinte er. »Die sind allerdings der Polizei vorbehalten. Es braucht spezielle Bewilligungen, um solche Ortungen zur Datenbeschaffung durchführen zu dürfen.«

»Wie läuft eine solche Ortung ab?«, erkundigte sich Lisa.

»Moderne Smartphones können mit Hilfe von Satel­litennavigationssystemen wie GPS ihre eigene Position sehr präzise feststellen. Die Polizei hat aber in der Regel keinen Zugriff auf diese Daten, sondern ortet die Handys im Funknetz. Solange sich ein Mobiltelefon im Stand-by-Modus befindet, weiß ein Provider nur ungefähr, in welcher Gegend sich ein Gerät befindet. Dieser Bereich kann mehrere Quadratkilometer und viele Funkstationen umfassen. Um den Standort genauer bestimmen zu können, sendet die Polizei eine stille SMS an das Handy. Der Empfang der SMS bewirkt eine Rückmeldung des Mobiltelefons bei der Funkzelle. Der Provider sieht dadurch, in welcher Funkzelle das Telefon eingebucht ist und kann diese Information an die Polizei weitergeben.« Zigerli war sichtlich stolz, Lisa beeindrucken zu können. Es kam selten genug vor.

»Und wer kann uns eine entsprechende Bewilligung beschaffen?«, fragte Lisa.

»Trachsel …«

»Vergiss es. Trachsel weiß noch gar nichts von Alvas Verschwinden. Zum aktuellen Zeitpunkt würde er nie seine Zustimmung geben. Von Trachsel dürfen wir ohnehin keine Gefälligkeiten erwarten.«

»Obermaier könnte die Bewilligung auch erteilen. Er hat mir vor ungefähr zwei Wochen mit geschwellter Brust erzählt, wie er das Handy eines Bergsteigers, welcher im Jungfraumassiv vermisst wurde, geortet hat. Er, Obermaier, hätte ihm das Leben gerettet.«

Lisa schöpfte neue Hoffnung.

1 057,94 ₽
Жанры и теги
Возрастное ограничение:
0+
Дата выхода на Литрес:
26 мая 2021
Объем:
333 стр. 6 иллюстраций
ISBN:
9783839267103
Издатель:
Правообладатель:
Автор
Формат скачивания:
epub, fb2, fb3, ios.epub, mobi, pdf, txt, zip

С этой книгой читают