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DER KRIEG

Der staubige, schmale Bürgersteig entlang der Straße vor unserem Haus war wie ein Treppenabsatz, auf dem wir Kinder oft saßen, mit Steinen oder Murmeln spielten oder einfach die Straße beobachteten.

Einmal konnten wir sehen, wie der Präsident mit seinem Gefolge durch unsere Stadt kam. Schwerbewaffnete Truppen begleiteten seinen Zug durch die Straßen und die Luft war von Helikopterlärm erfüllt. Wir standen auf, staunend und ehrfurchtsvoll vor dem mächtigsten Mann unserer Region.

Manchmal fuhren amerikanische Soldaten auf einem Pickup auf der großen Straße am Haus vorbei. Vorne zwei Menschen in der Fahrerkabine und hinten jemand mit Waffe an einem Stand. Manchmal gingen sie auch zu Fuß, und wenn sie an unserer Ecke in die Straße einbogen, sprangen mein kleiner Bruder und ich aufgeregt auf und rannten ihnen hinterher. Manchmal drehten sie sich dann zu uns um, lächelten und sagten etwas auf Amerikanisch. Mein Bruder und ich bewunderten diese großen Männer. Einige hatten ganz helle Haare, andere ganz dunkle Haut. Sie waren die Guten und hatten uns von Saddam und seinem Vetter Ali Chemie befreit. Sie erschienen mir wie Helden aus einem Märchen.

Auf dem Weg zurück imitierten wir die amerikanischen Worte, begrüßten uns mit »Hello«, kicherten und fragten uns, wie es wohl in Amerika war. Und dann hockten wir uns wieder an den Straßenrand, spielten mit Murmeln und warteten darauf, dass unser Vater von der Arbeit kam. Er lächelte immer breit, wenn er uns beide sitzen sah. Wir rannten dann auf ihn zu und hüpften an ihm hoch. Manchmal packte er einen von uns und wirbelte uns einmal durch die Luft.

Mein Vater war auch ein Held. Er hatte dichtes schwarzes Haar, dunkle Augenbrauen und einen Schnauzer, so wie jeder Mann mit Autorität. Ich war stolz auf meinen Vater. Er hatte sein Leben und seine Familie im Griff. Er war gottesfürchtig, schreckte aber sonst vor nichts zurück und war jederzeit bereit, zu den Waffen zu greifen, um die Ehre seiner Familie oder seines Volkes zu verteidigen.

Manchmal holte er seine alten Waffen aus dem Schrank und zeigte sie uns. Wir durften sie anfassen und er erzählte uns dann von der Zeit, als er gegen die Araber gekämpft hatte. Er war in den Bergen gewesen. Wie er wohl da gelebt hatte? Hatte er morgens zu Hause gegessen und danach in den Bergen gekämpft? Die Erwachsenen redeten oft von der Zeit, als die Kurden keine anderen Freunde hatten als die Berge. Und ich stellte mir gerne vor, dass die Berge riesige, freundliche Wesen waren, die meinen Vater versteckt und beschützt hatten im letzten großen Krieg.

Der Krieg war vorbei, aber allgegenwärtig. Auf den Mahntafeln für die Verstorbenen, in den Körpern der Männer und den Augen der Frauen. Unser Nachbar sprach nicht mehr, sein Körper war aus dem Gefängnis in Silêmanî befreit worden, seine Seele war aber noch dort gefangen. Er verrichtete seinen Alltag nur noch mechanisch und starrte dabei vor sich hin. Und wenn man in seine Augen sah, war da nichts mehr, nur Leere.

Südlich der Autonomieregion tobte der Krieg noch, und Besuche bei meiner Tante in Kerkûk waren immer bedrohlich. Ständig jagte sich da jemand mit dem Auto in die Luft. Wir durften ihr Haus nie allein verlassen und waren alle froh, wenn wir wieder heil zu Hause angekommen waren.

Unsere Bekannten in der Stadt Helebçe besuchten wir Kinder nie, weil meine Mutter Angst hatte, wir könnten uns dort noch vergiften an dem Giftgas, mit dem das irakische Regime zehn Jahre vor meiner Geburt fast die ganze Stadt ausgelöscht hatte.

Die Freundin meiner Mutter war eine Hałâtin, eine Vertriebene. Eines Abends saß sie bei uns zu Hause auf dem Boden und erzählte vom Giftgasangriff. »Plötzlich roch die Luft ganz süß und lecker wie frischer Apfel, und kurz danach fing das Sterben an.«

Tausende waren innerhalb weniger Minuten tot. Und in dem Chaos des Massensterbens wurden viele Familien auseinandergerissen. Die Säuglinge, die danach von den Rettungskräften alleine aufgefunden wurden, wurden adoptiert und lebten nun in neuen Familien. Ich konnte danach nie wieder einen Apfel essen, ohne an die Kinder von Helebçe zu denken.

DER KREISLAUF

Ich gehe mit meinem Freund, dem Trainer, am Hafen entlang, die ersten warmen Sonnenstrahlen des Jahres fallen auf unsere Gesichter. Die ganze Stadt ist draußen. Eltern mit Kinderwagen, Pärchen eng umschlungen, Kinder auf dem Spielplatz. Vor den Restaurants sitzen Grüppchen bei Bier und Fischgerichten. Wir setzen uns auf eine Holztreppe am Wasser und teilen uns meinen letzten Tabak. Es ist Monatsende und wir sind beide pleite.

Der Trainer ist groß und muskulös. Er hat schwarze Haare, einen Zopf und ein strahlendes Lachen. Ich reiche ihm nur knapp über die Schulter und watschele ungelenk neben ihm her, während er sich geschmeidig durch die Straßen bewegt und dabei aussieht wie ein Krieger. Doch der Schein trügt, während ich aufbrausend und kämpferisch bin, ist er besonnen und sanftmütig.

Er ist behütet in Syrien aufgewachsen und liebt seine Familie. Er hat sein Abitur gemacht und sorglos in die Zukunft geschaut. In seiner Freizeit hat er Fußball gespielt oder im Betrieb seiner Familie mitgearbeitet. Und er hat keine Sekunde gedacht, jemals in ein anderes Land flüchten zu müssen.

»Bei Sonne ist es schön hier«, er schaut über das Meer. »Doch leider scheint sie fast nie.«

»Ja, ich verstehe inzwischen auch, warum hier alle hektisch rausrennen, sobald die Sonne scheint«, sage ich. »Sie könnten den einzigen Sommertag des Jahres verpassen.«

»Ich vermisse Syrien. Vor dem Krieg war es so ein schönes Land. Ich habe mir über Politik wenig Gedanken gemacht und einfach nur mein Leben genossen und das gute Wetter. Wobei ich erst jetzt weiß, wie schön es war.«

Der Trainer lernt fleißig Deutsch. »Danke, bitte, Entschuldigung«, perfektioniert er das Auftreten, das von einem guten Flüchtling erwartet wird, engagiert sich ehrenamtlich als Trainer und nimmt jede Arbeitsgelegenheit wahr.

»Ich werde mich vielleicht bald bei einem Sicherheitsdienst bewerben«, sagt er.

»Vielleicht solltest du lieber eine Ausbildung machen«, schlage ich vor. »Möglicherweise könntest du sogar studieren.«

»Aber das dauert doch ewig«, wehrt er ab und drückt die Zigarette aus. Er will unabhängig sein und sich selbst versorgen. »Mein Deutsch ist auch gar nicht gut genug.«

»Kennst du den Übersetzer, der in Syrien Deutsch studiert hat?«, frage ich ihn.

»Ja, der spricht fließend Deutsch und hat einen guten Job«, sagt der Trainer. »Der hat Glück im Unglück gehabt. Ich muss halt sehen, was ich ohne Ausbildung kriegen kann«, sagt er.

»Nicht, dass du Deutschland noch Geld wegnimmst, so wie ich«, grinse ich provokativ. Er guckt mich fragend an.

»Naja, einen Großteil meines Geldes vom Jobcenter kriegt mein Vermieter, dann kriegt mein Stromanbieter noch was und den Rest gebe ich fast komplett für Lebensmittel aus. Ich war im Kinderheim, in der Schule, im Krankenhaus, beim Arzt und in Gewahrsam der Grenzschutzpolizei. Das hat Steuergeld gekostet, das in diese Jobs geflossen ist. Ich habe bisher nur ein Mal so viel Geld gespart, dass ich ein kleines Paket mit Geschenken an meine Geschwister schicken konnte. Sonst habe ich persönlich noch nie Geld außer Landes gebracht. Ich kenne mich damit nicht wirklich aus. Aber glaubst du, dass ich Deutschland ärmer mache?«

»Aber willst du ewig vom Geld des Staates abhängig sein?«

»Nein, natürlich nicht«, sage ich. »Wer will das schon? Ich finde das genauso furchtbar wie du.«

»Ich bin aber auch sehr dankbar, dass ich hier nie verhungern muss.«

»Natürlich, das bin ich auch«. Ich drehe uns aus den allerletzten Tabakkrümeln zwei Zigaretten. »Mein Kühlschrank ist allerdings gerade genauso leer wie mein Tabakbeutel.«

DIE KATZE

Wenn meine Geschwister und ich mit den Kindern aus der Nachbarschaft spielten, fragte ich mich oft, ob ich genau wie die Kinder aus Helebçe in einer fremden Familie lebte. Vielleicht hatte meine Mutter die Geschichte von meiner Geburt nur erfunden, um mich zu beruhigen?

In den Spielen stand meistens ein Kind in der Mitte, musste zwischen den Beinen der anderen Kinder entweichen, einen Ball rauswerfen oder blitzschnell versuchen, einen Platz zu erwischen, wenn die anderen Kinder ihre Positionen tauschten. Meine Geschwister waren dabei schnell und geschickt. Ich stand immer in der Mitte. Und wenn es mir endlich gelang, aus der Mitte rauszukommen, war es für das neue Kind in der Mitte ein Leichtes, meinen Platz zurückzuergattern.

Wenn mich die Spiele traurig machten, kletterte ich aufs Dach und guckte über meine Welt. Und wenn ich mich unbeobachtet fühlte, kletterte ich von unserem Dach auf das Nachbardach und von da auf das nächste. Mitunter musste ich nur eine Umrandung übersteigen, manchmal über einen schmalen Spalt springen. Gelegentlich traf ich Katzen, die genau wie ich über die Dächer turnten. Die meisten liefen ängstlich weg, aber eine kleine schwarze Katze ließ sich manchmal streicheln. Dann setzte ich mich neben sie, spürte ihren weichen Körper und das leise Schnurren unter der Kehle. Ich schaute zu, wie ihr die Augen vor Wohlbehagen zu kleinen Schlitzen zufielen.

Nach den Streifzügen kletterte ich über unser Dach zurück in den Innenhof und guckte, ob mein Vater schon zurück war. Oft saß er vor dem Fernseher und guckte Fußball. Manchmal setzte ich mich eine Weile dazu, obwohl es mich nicht interessierte.

»Kann ich dein Mobiltelefon leihen, Baba?«, fragte ich ihn dann. Sein Telefon war von Nokia, hellblau, ganz klein und modern. Wenn man es anschaltete, lief ein kleiner Film mit zwei Händen, die sich einen Handschlag gaben. Ich spielte immer ein Spiel, bei dem man eine kleine Schlange mit den Tasten über den kleinen Bildschirm bewegen konnte. Wenn ich davon genug hatte, lief ich raus zu meiner Mutter, um zu sehen, ob ich helfen konnte.

Oft saß sie zusammen mit den Nachbarinnen im Innenhof und backte Nansaji, weiches Fladenbrot. Schräg rechts vor sich hatte sie dann die Teigkugeln unter einem Tuch und direkt vor sich eine kleine Holzplatte, auf der sie jeweils eine Kugel mit einer dünnen Holzrolle zu einem Fladen rollte, den sie danach auf einem großen Kissen glatt zog, bis er ganz dünn war. Dann drehte sie das Kissen mit Schwung kopfüber auf die nach oben gewölbte metallene Halbkugel, den Sac. Unter dem Sac loderte eine Gasflamme. Das Metall war heiß und meine Mutter achtete genau auf den Fladen. Sobald er anfing Blasen zu schlagen, hob sie ihn vom Metall und legte ihn auf den Stapel links von sich, wo der Teig schnell steif wurde. Wenn wir das Brot später essen wollten, mussten wir es mit etwas Wasser besprenkeln, damit es wieder weich und geschmeidig wurde.

»Pass auf«, sagte meine Mutter. Beim Brotbacken durfte ich ihr nicht zu nahe kommen, sie hatte Angst, dass ich etwas umstoßen und mich an dem Feuer verbrennen konnte. Ich ging dann raus, um den Block. Auf den großen Straßen fuhren die Autos im ständigen Strom, es gab keine Ampeln für Menschen. Wer rüber wollte, musste auf Gott vertrauen und sich todesmutig in den Verkehr stürzen. Das durfte ich noch nicht alleine. Also ging ich durch die ruhigen kleinen Seitenstraßen um unser Haus, grüßte den Friseur und schlenderte weiter.

Einmal entdeckte ich dabei ein kleines schwarzes Fellknäuel neben einem Hauseingang unweit des Friseursalons. Meine Katze lag auf der Seite, ihre Augen starrten geradeaus. Ich fasste sie vorsichtig an, ihr Körper unter dem Fell war hart wie Stein. Ich sprang auf, lief zum Friseur und erzählte ihm von meinem schrecklichen Fund.

»Wilde Tiere leben gefährlich«, sagte er, streichelte mir tröstend über den Kopf und erklärte mir, dass einige Menschen vergiftete Köder auslegten für die wilden Katzen und Hunde der Stadt. »Geh lieber schnell wieder nach Hause.«

DER TOD

»Ich habe kürzlich zum ersten Mal einen toten Menschen gesehen«, erzähle ich dem Trainer. »Ein Freund von mir ist überraschend gestorben.«

»Und du hast ihn dann tot gesehen?«, fragt der Trainer verwundert.

»Wir waren bei der Aufbahrung im Bestattungsinstitut und haben Abschied genommen.«

»Macht man das so in Deutschland? Das wusste ich nicht.«

»Es machen wohl nicht alle so«, gebe ich weiter, was mir meine Freundin erklärt hat. »Jedenfalls denke ich seitdem viel über den Tod nach. Es gibt viele Menschen, die ich wahrscheinlich nie wieder sehen werde. Aber es ist anders, wenn jemand stirbt und du es mit Sicherheit weißt. Ich habe immer Angst, dass meine Eltern sterben und ich sie nie wieder in die Arme schließen werde.«

Er nickt.

»Früher habe ich fest an ein Leben nach dem Tod geglaubt, aber seitdem mir der Glaube abhandengekommen ist, hat Sterben eine andere Bedeutung für mich«, sage ich. »Vielleicht macht der Glaube an ein Leben nach dem Tod die Leute so fahrlässig im Umgang mit Menschenleben?«

»Ich hatte meine erste Begegnung mit dem Tod als Soldat«, sagt er.

»Wie war das?«

»Na, wie war das wohl?« Er macht sich sein Haargummi ab, streicht die Haare wieder glatt nach hinten und bindet sich einen Zopf.

»Was ist denn genau passiert?«

Er wirkt plötzlich sehr angegriffen.

»Wir haben auf die Ankunft ganz junger neuer Rekruten gewartet. Als sie nicht wie geplant ankamen, haben wir uns auf den Weg gemacht. Und da lagen sie dann, alle tot, mehr als zwanzig junge Männer, einfach erschossen. Sie sind in einen Hinterhalt geraten. Wir mussten ihre Kleidung durchsuchen nach persönlichen Gegenständen. Ich fand ein Mobiltelefon und habe damit die Familie des Jungen angerufen. Es war furchtbar.«

»Und danach bist du desertiert?«

»Nein, noch nicht. Aber ich habe immer deutlicher gemerkt, dass ich das nicht kann«, seufzt er. »Ich wusste, dass der Tag kommen würde, an dem ich selber töten müsste oder sterben. Und dann bin ich geflüchtet.«

Ich hole mein Mobiltelefon raus und lese ihm einige Kommentare unter einem Post von mir vor. »Hör dir mal an, was die geschrieben haben: ›Ach, du bist nach Deutschland geflüchtet, um nicht für dein Heimatland kämpfen zu müssen? Was bist du für ein Mann? Lässt andere für deine Heimat kämpfen und lebst solange in der Fremde ein schönes Leben. Schäm dich.‹ Oder hier: ›Ja, ich würde meinen Sohn in den Kampf schicken, wenn Deutschland angegriffen würde. Ja, ich würde auch selbst zur Waffe greifen und mein Land verteidigen. Vor allem, wenn ich ein Mann wäre, würde ich mich schämen, davonzulaufen und andere für mein Land kämpfen zu lassen.‹ Die würden sich gut mit meinem Vater verstehen.«

»Die haben garantiert noch keinen Krieg erlebt«, sagt der Trainer. »Ich hatte viel weniger Angst vorm Sterben als vor dem Töten.«

»Warum bist du dann überhaupt Soldat geworden? Wurdest du zum Wehrdienst eingezogen?«

»Nein, ich habe mich freiwillig gemeldet. Und anfangs war es auch in Ordnung. Es war drei Monate nach Beginn des Bürgerkriegs und ich hatte zuerst nur ungefährliche Dienste.« Er nimmt sein Telefon. »Willst du mal sehen?« Er sucht ein bisschen und zeigt dann Fotos. Sein Gesicht mit demselben Lachen, aber mit kurzen Haaren und Sonnenbrille vor einem Panzer, im Jeep, mit Maschinengewehr, zusammen mit anderen jungen Männern, die alle so aussehen, als wäre es nur ein Spiel.

»Der Tarnanzug stand dir doch ganz gut«, grinse ich.

Er schüttelt den Kopf und wirft einen kleinen Zweig ins Wasser. Wir schauen zu, wie er dahintreibt. »Ich war naiv. Ich wusste nach dem Abitur nicht genau, was ich werden sollte, und dachte, dass ich mich beim Militär selber finde. Aber ich habe mich beinahe verloren. Und nun sitze ich hier nutzlos rum. Manchmal träume ich, dass alles nur ein Albtraum war. In meinem Traum wache ich auf und bin in meinem hellen Zimmer im Haus meiner Eltern. Ich gehe ans Fenster und schaue im Morgenlicht über die schöne Stadt. Und ich lache, weil ich alles nur geträumt habe. Und davon wache ich dann wirklich auf und starre an die dunkle Decke meiner düsteren Wohnung.« Er inhaliert und guckt traurig über das Meer.

»Bereust du deine Flucht?«, frage ich ihn.

»Nein, sonst wäre ich jetzt wahrscheinlich tot.«

»Ich bin froh, dass du geflüchtet bist«, sage ich. »Zusammen sitzt es sich viel schöner nutzlos rum als allein.«

DIE PRÜFUNG

Am Tag meiner Einschulung spiegelte ich mich in den Fenstern aller Autos, an denen wir auf dem Weg zur Schule vorbeikamen. Ich war stolz auf mein weißes Hemd und die graue Hose meiner Schuluniform. Ich entdeckte erst einige Monate später, dass die Farben sehr unpraktisch waren.

»Warum hast du Schuhabdrücke auf deiner Hose und deinem Hemd?«

Meine Mutter sah mich ernst an, als ich von der Schule kam.

»Wir haben gespielt«, antwortete ich und wollte an ihr vorbeigehen.

»Beim Spielen kriegt man doch keine Fußabdrücke auf die Kleidung.«

Im Islamunterricht war ich der Klassenbeste. Auch die Buchstaben lernte ich schnell. Ich war wissbegierig und neugierig und oft platzte mir die Antwort auf eine Frage der Lehrer einfach raus. Trotzdem war ich das Gespött der Klasse. Das Rumsitzen langweilte mich. Ich kippelte oft mit dem Stuhl, manchmal fielen meine Schulhefte dann runter. Wenn ich sie aufheben wollte, entdeckte ich etwas Interessantes unter dem Tisch. Und wenn meine Lehrer mich dann etwas fragten, wusste ich oft nicht mehr, worum es gerade ging. Dann kicherten die anderen über mich.

Und in den Pausen lauerten sie mir auf. Sie ärgerten mich damit, dass ich eine Fehlstellung der Beine hatte und wie ein Pinguin mit den Füßen zu den Seiten ging. Sie lachten, wenn sie mich über den Schulhof trieben, denn beim Laufen sah es noch lustiger aus. Sie mussten mir meistens nicht mal ein Bein stellen. Ich fiel ganz von alleine hin und dann traten sie auf mich ein, bis meine große Schwester es sah und dazwischenging.

»Es wäre einfacher, wenn ich schneller laufen könnte«, sagte ich und guckte auf meine Füße.

»Gott hat sich etwas dabei gedacht«, sagte meine Mutter. »Gott prüft dich, du musst geduldig sein. Erinnere dich an den Propheten Ayyūb, der jede Prüfung ertrug und dafür von Gott belohnt wurde.«

Ich nickte und ging ins Haus. Ja, Gott hatte mich halt so geschaffen. Aber ich konnte nicht verstehen, was sein Plan damit war.

Ich versuchte immer, mich zu konzentrieren. Aber meine Augen, Ohren und Gedanken machten, was sie wollten. Ich bemühte mich auch, die Füße geradezubiegen, bekam sie aber genauso wenig in den Griff. Manchmal ging ich abends allein raus und übte Fußballspielen, aber ich kriegte weder meine Aufmerksamkeit noch die Füße auf den Ball gerichtet. Er flog in alle Richtungen, doch nie dorthin, wo er sollte.

In meiner Freizeit ging ich daher lieber in die Moschee als zum Ballspiel. Und als wir in den Schulferien die Möglichkeit bekamen, uns für Ferienkurse anzumelden, wählte ich ganz selbstverständlich lieber die Koranschule als den Sportkurs und kam am Ende der Ferien stolz mit meinem Zertifikat nach Hause: »Zor basha, sehr gut!«

Während der Schulzeit war der schulfreie Freitag mein Lieblingstag. Ich achtete genau auf die Uhrzeit, und sobald die Abfahrtzeit sich näherte, rannte ich aufgeregt durch das Haus und erinnerte meinen Vater und meine Brüder daran, dass sie sich für das Gebet fertig machen sollten. Meine Brüder hatten oft keine Lust mitzukommen, ich aber ließ kein Freitagsgebet in der Moschee ausfallen.

Manchmal freute ich mich so sehr darauf, dass ich mich nicht zurückhalten konnte und auf dem Weg zur Moschee laut aus dem Auto rief und Leute dazu anhielt, uns zu folgen.

In der Moschee angekommen, zog ich die Schuhe aus und stellte sie ins Regal, wusch mich gewissenhaft, betrat den Gebetsraum und stellte mich neben die Männer in die Reihe. Während des Gebets konnten meine Gedanken fliegen, wohin sie wollten, und meine Füße dahin zeigen, wohin es ihnen passte.

Niemand lachte über mich. Und der Imam mochte und lobte mich. Hier gehörte ich dazu. Denn vor Gott waren wir alle gleich.

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9783960542391
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