Читать книгу: «Alvine Hoheloh», страница 2

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Sie besuchten Theaterstücke, Opern und Kaffeehäuser im Akkord, nachts liebten sie sich ausgiebig und unweigerlich begann Dorothea bereits das Gesellschaften in Alfreds Kreisen, organisierte Teekränzchen und Abendveranstaltungen.

Ihre Schwiegereltern waren begeistert von dem kessen Energiebündel und sagten ihr kurz darauf die erste große Reise zu, die sie mit ihrem Mann, geschäftsfördernd, antreten durfte.

Sie reisten in all den Jahren ständig umher, per Schiff und Bahn, via Kutsche und zu Fuß, zu Pferde und auch auf den Rücken orientalischer Träger. Wenn sie unterwegs waren, schickten sie exotisch anmutende Geschenke an Freundschaften und Familie, und sobald sie zu Hause weilten, kamen sie kaum hinterher, allen Einladungen nachzukommen.

Ihr erster Sohn Eduard Wilhelm wurde in einem Hotel am südlichen Ende des Reiches geboren. Dann folgten zwei Fehlgeburten, ehe Karl Ludwig Hoheloh fünf Jahre später im Orientexpress das Licht der Welt erblickte.

Lange Zeit hieß es nach dieser komplizierten Geburt, Dorothea könne nun gar keinen Kindern mehr das Leben schenken. Aber sie gab nicht auf, ihrem Liebsten den Wunsch nach seiner Alwine zu erfüllen, und forderte nicht ganz uneigennützig sein fortwährendes Beiwohnen ein.

Die Zeit zog ins Land, zwei Kaiser hatte das Volk zu Grabe getragen. Ein halbes Jahr nach dem Abtritt des eisernen Kanzlers gebar Dorothea im Hause ihrer Eltern ein dünnes Mädchen, mit dunklem dichten Haupthaar, Haut, deren helles Braun einen Roséstich trug, und mit grotesk langwirkenden Fingern und Beinen. Der schusslige Provinzstandesbeamte mit der gedrungenen Schrift schrieb in die Geburtsurkunde:

Alvine Friederike Hoheloh

Erst sahen sich die stolzen Eltern um den zweiten Haken zum W betrogen, aber dann fanden sie das V doch sehr hübsch, zumal der Name ihrer Tochter in seiner Originalform schändlich in Mode gekommen war.

Familie Hoheloh zog mit der ersehnten Prinzessin in ein neues hochherrschaftliches Anwesen im reichen Westen der großen Stadt. Ihr Reichtum und Erfolg waren unermesslich und sie gehörten längst zu den angesehensten Dynastien weit und breit.

Diese großbürgerliche Tochter – das war seit ihrer Geburt sicher – würde eine Rekordmitgift in eine Ehe bringen.

Aufeinandertreffen

Mai 1910: Die Worte ihrer geliebten Gönnerin klangen in Alvines Ohren nach, als sie das Café verließ: »Wie schade, ich hätte Sie so gerne studieren gesehen.«

Sie umklammerte die gelbe Broschüre fester, es sollte ihr letztes Andenken an ihr großes Vorbild sein. Zum Glück hatten sie sich nicht im Bösen getrennt, sogar Albernheiten ausgetauscht und dann hatte sie ihr eine Widmung in ihr Werk hineingeschrieben. Es würde nun ihr Talisman sein: das Buch jener Dame, die hohe Bildung für Frauen in diesem Land möglich gemacht hatte. Wegen ihr eroberten seit zwei Jahren zwar noch wenige, aber dafür sehr vorbildliche Studentinnen die Fakultäten, und ihre guten Noten ließen die männlichen Kommilitonen erblassen.

Es war zu spüren – ein neuer Wind wehte. Jeder Frau sollte bald das Recht zugesprochen werden, zu entscheiden. Ob sie ihre traditionelle Rolle bekleiden, also unter dem Schutz des männlichen Familienoberhauptes ihre Selbstverantwortung abgeben, oder ob sie mit den Männern Seite an Seite die wirtschaftlichen und politischen Vorgänge des Reiches mitbestimmen wollte.

Alvine Hoheloh war ein Blaustrumpf. Was ursprünglich als ein abwertender Begriff für ihresgleichen gelten sollte, hatte sie sich zu eigen gemacht. Sie trug blaue Strümpfe und hatte vor, sehr großen merkantilen Erfolg zu erlangen.

Ihre Gönnerin wusste um die Natur der jungen Kämpferin und hatte ihr ihr vollstes Vertrauen ausgesprochen, all dies zu erreichen, auch ohne ein ökonomisches Fach zu studieren. Dies in ihrem Herzen zu wissen, bekräftigte sie einmal mehr.

Alvine atmete tief durch und betrat die Straße. Kaum dass sie einige Schritte gelaufen war, meldeten sich die monatlichen Krämpfe von Neuem, was ihre ohnehin schmal gesäte Geduld noch mehr strapazierte. Die Sonne knallte ihr auf den dunklen Schopf, doch sie mochte den riesigen Hut nicht aufsetzen, der ihr von ihrem Vater mitgegeben wurde.

Alfred Hohelohs Haarwuchs war dünn und so vermochte er zeit seines Lebens nicht nachzuvollziehen, dass seiner Tochter die üppig gewachsene Lockenmähne schon schwer genug wog – noch dazu, wenn sie diese hochsteckte.

Zwei Damen, ausladend behütet und mit Sonnenschirm, passierten sie und brachen sogleich in aufgeregtes Getuschel aus. Etwa wegen ihrer lohbraunen Haut? Als wäre sie die einzige feine Person, die von Natur aus mit einem dunkleren Teint gesegnet war! Doch ihr ging auf, dass sie sich wohl sich über das lachsfarbene Kleid mit dem Glockenrock und der kleinen Schleppe lustig machten, weil es aus der letzten Saison war. Sie hingegen wirkten in ihren modisch aktuellen Humpelröcken wie Enten!

Alvine drehte sich zu ihnen um, die sich gerade selbst nach ihr umsahen, und flötete zuckersüß in ihre überraschten Gesichter: »Watschelt eurer eigenen Wege!«

Eine Droschke brachte sie zur voll befahrenen Friedrichstraße, von wo aus sie das letzte Stück zu Fuß ging, um im dichten Stau der Fahrzeuge nicht ausharren zu müssen. Im Menschengewühl Unter den Linden spürte sie die ordinären Blicke und groben Zoten, die ein Fräulein auf sich zog, wenn es allein unterwegs war. Ihr Magen rebellierte vor Ärger und das verschlimmerte die Unterleibskrämpfe. Sie fragte sich unweigerlich, ob sie wohl mehr oder weniger belästigt werden würde, entspräche ihr Aussehen dem gängigen Schönheitsideal.

Würde dieses teure Kleid von einer Blondine mit roséfarbener Haut getragen, deren üppige Form durch ein raffiniertes Korsett bestens betont wäre, würde man ihr ehrerbietig begegnen? Vor allem Männer zollten ihr erst Respekt, vielmehr entwickelten sie ein fast romantisches Interesse, sobald sie ihren Namen und von dem damit verbundenen Erbe erfuhren.

Alvine war darin geübt, trotz ihrer Schmerzen, ein festes Gesicht zu machen und Unflätigkeiten an sich abprallen zu lassen. Sie trug auch heute ihre Nase demonstrativ so hoch, dass kaum einer der Männer sich ernstlich erdreistete, penetrant zu werden.

Einmal streifte eine Hand fühlbar ihre Hüfte und sogleich trat und traf sie in die richtige Richtung: Ein gedämpftes Japsen erklang, der Stimme nach gehörte es einem von den lüsternen Alten, und Alvine drängelte sich zufrieden davon.

Wüsste ihr Vater um seine sich bewahrheitete Prophezeiung, würde er ihr sofort wieder verbieten, ohne Gesellschaft das Haus zu verlassen. Ihr war diese lieb gewonnene kleine Freiheit jedoch so teuer, dass sie ihm um nichts auf der Welt davon erzählt hätte. Und Belästigungen mit unauffälligen Tritten und Zwicke zu begegnen, darin war sie geübt, schon bevor sie auf ihrem ersten Ball eine für sie gefährliche Situation hatte abwenden müssen.

Das Kronprinzenufer erstreckte sich vor ihr, und während sie am Fluss entlangspazierte, erwischte sie eine luftige Brise. Sie genoss den frischen Luftzug, der nur bedingt durch all die Stoffschichten, die ihren Körper bedeckten, drang.

Als sie die Augen öffnete, erblickte sie die leuchtend rote Haarpracht ihrer besten Freundin, die auf einer Bank saß.

»Emmi!«

Wilhelmina Wändler sah von ihrem Buch auf und lächelte sogleich hocherfreut. Sie trug ein – für ihre Verhältnisse – sehr mädchenhaftes Sommerkleid und keinen Hut auf dem Kopf, was gewiss Gift für ihre Haut war. Alvine gehörte jedoch nicht zu diesen Damen, die ihresgleichen gängelten. Wenn Emmi sich verbrennen wollte, so war es allein ihre Entscheidung.

»Wie hast du dich heute davon gestohlen?«, fragte Alvine, auf einen weiteren Gruß verzichtend und setze sich zu ihr.

»Ach, der alte Rupprecht«, antwortete die Gefragte abwinkend, »der gibt sich gar keine Mühe mehr, mich aufzuhalten.«

Alvine nickte wissend.

Als die beiden Mädchen vierzehn gewesen waren, besuchten sie dasselbe Mädchenpensionat und entdeckten bald schon die tiefe Zuneigung und Verbundenheit zueinander. Während die anderen höheren Töchter Taschentücher bestickten oder sich um einen wohlklingenden Sopran bemühten, ritten Emmi und »Winnie« hosentragend alle Pferde des Stalls müde oder ersannen Theaterstücke, die oftmals an der Grenze des guten Geschmacks einer Dame endeten. Alvine übernahm stets die Rolle eines männlichen Helden. Ihre vollen Locken wurden unter Musketierhüten versteckt oder gar festgeflochten und von ihrem Hemd verdeckt. Da sie von jeher sehr schlank und für ihr Alter groß gewesen war, wirkte es auch auf niemanden befremdlich.

Nur als sie mit fast 17 Jahren aus den Sommerferien zurückkehrte und ihr elfengleiche Rundungen gewachsen waren, da sollte es damit vorbei sein. Emmi war schon immer die burschikosere dieses Zweiergespanns gewesen. Obgleich ihre milchweiße Haut zart wie Seide war, ihr glattes Haar glänzte und ihr Körper viel früher als der der anderen weiblich anmutete, so wirkten ihre ruckartigen Bewegungen, die Art wie sie ging und saß und vor allem ihre raue Stimme erschreckend maskulin. Zudem war sie ein Hitzkopf, da nahmen sie und Alvine sich nichts.

»Was hat Frau Lange gesagt?«, fragte Emmi im Hinblick auf Alvines jüngste Begegnung.

»Mehr oder minder ist sie traurig. Das kann ich ihr wohl kaum verübeln.«

»Und … hast du dich erklärt?«

»Das war mir nicht möglich. Ich möchte nicht, dass sie sich gezwungen sieht, mich zu einer Nachprüfung vorladen zu lassen.«

Emmi sah sie scharf an. »Winnie! Du bist die klügste Frau, die ich kenne. Weshalb in Gottes Namen willst du denn nicht studieren?«

Alvine biss sich auf die Unterlippe. Sie hatte es als Wink der höheren Macht verstanden, dass ihr Vater genau dann krank geworden war, als sie sich für das Studium hätte vorbereiten sollen. Und so, was außerhalb der Familie keine*r wusste, hatte sie die Geschäfte geleitet.

Von Kindesbeinen an hatte Alfred Hoheloh sie mit in die Schuhfabriken genommen, sie unterrichtet, in Zahlen und Kalkulation, in Führung von Angestellten, in Auftreten und Haltung und so ihren Unternehmeringeist gestärkt. Und schließlich übte er mit ihr, seine Unterschrift in smaragdgrüner Tinte zu kopieren. Da diese nur 'A. Hoheloh' lautete, war es nicht einmal eine Sünde.

Gewiss hätte ihre Gönnerin darüber geschwiegen, aber Alvine hatte geschworen und ihrem alten Vater bei der Familienehre gelobt, das Geheimnis zu wahren. So war es am besten für die Geschäfte und ihre Arbeiter*innen.

»Ich will nicht noch weniger Zeit mit meinem Vater verbringen. Vor allem nicht jetzt, da er kränker wird und ich erwachsen genug bin, ihm all die Wertschätzung zu zollen, der ich mich bei ihm schuldig gemacht habe.«

Emmi sah verbissen fort. Ihr Vater, ja, auch ihre Mutter, hatten sie nie großartig wertgeschätzt. Auf die höhere Töchterschule und auf das Lyzeum hatte man sie nur geschickt, weil es ihren Wert auf dem Heiratsmarkt steigern sollte.

Ihr Weg war vorbestimmt: Sie sollte eine gute Partie machen und nur für ihre Familie da sein. Aber sie wollte Lehrerin werden und die Geister der künftigen Generationen formen. Von ihren Eltern wurde dieser Wunsch verlacht und sie hatte keine Unterstützung zu erwarten. Sie sollte heiraten, Kinder kriegen und sich zurückhalten, so verstand ihr Vater die Rolle der Frau.

Vermutlich wurde Emmi nur von Alvine gemocht, von ihrer Winnie. Und von ihrem Dienstboten, dem zwölf Jahre älteren Rupprecht, der seit ihrer frühesten Kindheit im Haus ihrer Eltern angestellt war. Die hatten damals wohl gehofft, dass sich die Kleine vor dem Jüngling mit einer Haut so schwarz wie Kohle fürchten würde. Aber sie hatte in sein Herz geblickt und gewusst, dass sie einen Verbündeten gefunden hatte.

Emmi sah Alvine nun böse an: »Du vertust die Gelegenheit deines Lebens, Winnie! Sosehr dein Vater dich auch liebt, die Fabrik und alles wird er Karl oder eher noch Eduard vermachen und dann musst du doch heiraten.«

»Meine Brüder werden mich einstellen. Wir leiten das Unternehmen zusammen, sollte es, was Gott verhüte, eines Tages so weit sein. Und wie du weißt, gehört mein alter Herr zum zähen Leder, wie jede Hoheloh. Zudem ist mir unser Schwur ernst. Ich gedenke, niemals zu heiraten!«

»Das musst du mir nicht sagen«, schnaubte Emmi verächtlich, mit Blick auf zwei passierende Soldaten in Preußischblau, die sie lüstern anlinsten. »Das Mannsvolk ist durch und durch übel und letztlich sind auch dein Vater und deine Brüder ihresgleichen, wenn sie mir jedoch die kleinsten Übel ihrer Gattung zu sein scheinen.«

»Emmi bei aller Freundschaft: Ich verbiete dir, meine Familie mit denen über einen Kamm zu scheren!«

Alvine deutete mit einem Nicken in Richtung der kleinen Garde, die sich offenbar nicht sattsehen konnte. Damit erhob sie sich und Emmi tat es ihr gleich. Sie suchten eiligst das Weite quer durch die Grünanlagen. Erst am Goldfischteich verlangsamten sie ihre Schritte. Erfahrungen, die sie bis dato mit den geilen Böcken des kaiserlichen Heeres gemacht hatten, würde sie auf ewig zu einem Gefühl des Unbehagens in deren Nähe verleiten.

Alvines Unterleib rebellierte, sie musste sich bald frisch machen. Doch ehe sie eine Toilette aufzusuchen gedachte, wollte sie das Thema mit Emmi klären. So setzte sie gleich zum Nächsten an: »Wie kannst du nur alle Männer für so einfältig halten? Das, da du weißt, dass es Ausnahmen gibt?!«

»Gerade nach den kecken Cochonnerien dieser Kommissköpfe fragst du mich das? Sie sind alle gleich. Dreiste, eitle Pinsel, die alles für sich vereinnahmen wollen«, entgegnete ihr Gegenüber.

»Es ist doch aber genauso verurteilenswert, wie die Art jener Männer, das weibliche Geschlecht als minderwertig, schwachsinnig und hysterisch abzutun!«

»Dein Vater sieht es so, nun gut. Deine Brüder auch, weil sie es ihm nachtun. Aber welcher Kerl bitte sonst?«

»Bebel!«, konterte Alvine.

»Lass den aus dem Spiel. Auf ihn kommen alle Männer des Reiches, die es nicht so sehen.«

»Nun gut, dann: Rupprecht!«

Ihr Gegenüber schwieg und lief ebenso hellrot an wie ihr Haar, das vor Hitze, Schweiß und Zug zerzaust um sie fiel. Ihre Sommersprossen gingen in dieser Färbung unter.

Alvine kam nicht umhin, ihrer Verwunderung einen Gesichtsausdruck zu schenken, der, wie Emmi nun sah, einer höchst undamenhaften Fratze glich. So starrten sie einander an und schließlich brachen sie in schallendes Gelächter aus.

Es folgte eine schwesterliche Umarmung, bei der die eine der anderen ins Ohr flüsterte: »Verzeih, du hast so recht. Deine Männer sind großartig.« Als sie sich voneinander lösten, setzte sie nach: »Ich bin gespannt, wann wir einen Weiteren treffen, der von ähnlicher Größe, sowohl in Intellekt als auch Charakter, ist.«

»Oder einen, der mich erst einmal kennenlernen will und nicht nur meine Mitgift sieht.«

Emmi lächelte zu der einen Kopf größeren Alvine hinauf. Heimlich bewunderte sie sie für die Vielzahl ihrer Verehrer. Aber wie wäre es anders zu erwarten, bei einer so reichen Tochter? Dann schnappte sie sich Alvines Hut und legte ihn ihr haltlos auf die Frisur.

»Vielleicht möchte dein Vater, dass du ihn trägst, weil du damit fast beängstigend erscheinst. Da halten wenigstens nicht die Kleinen um dich an.«

Eine Antwort verstummte unter dem wilden Hufgetrappel, das sich ihnen näherte. Selten, ja eigentlich nie, ritt man dermaßen ungebändigt durch diese Parkanlage und die Flanierer*innen sprangen erschrocken aus dem Weg.

Nur Alvine bemerkte ihn zu spät und so preschte der Reiter nur eine Elle entfernt an ihr vorbei. Ihr schwerer Hut wurde von dem Luftzug mit Leichtigkeit emporgewirbelt, sodass sie schlagartig begriff, welche Kraft dahinter gesteckt hatte und sie wohl knapp dem Tod entkommen sein mochte. Der Hut drehte sich in der Luft ein paar Mal um sich selbst, ehe er hinabpfiff und mit einem seichten Platscher ufernah im Goldfischteich landete.

»Was für ein unverschämter …«, setzte Emmi lautstark an, als ihnen und den Umstehenden gewahr wurde, dass der Gemeinte schlagartig sein Pferd gestoppt hatte und es kurzerhand ins Nass lenkte.

Wie Alvine nun sah, schien er fast zwei Meter hochgewachsen zu sein, sodass es ihm genügte, sich im Sattel sitzend hinab zum Wasser zu strecken und so mühelos eine der vielfach geschwungenen Rüschen zu erwischen. Dann wendete er das überaus hübsche braune Tier gekonnt und ritt durchs seichte Wasser zurück auf sie zu. Er setzte ab, schüttelte den Hut ungelenk aus und sah sie an. Seine bis dahin ungewöhnlich entspannte Körperhaltung zuckte bei ihrem Anblick zusammen und seine blauen Iriden hellten sich sichtlich auf. Obgleich seine Augen auffallend groß waren und sein Gesicht kindlich machten, schätzte Alvine ihn auf etwa zwanzig.

Seine Mundwinkel vibrierten merklich und er schien nach Worten zu ringen. Schließlich und endlich verneigte er sich demütig vor ihr, wobei ihm sein strohblondes, kinnlanges Haar ins Gesicht fiel. Mit einer Hand strich er sich durch seine weiche Mähne und richtete sie, ehe er sprach: »Verzeihen Sie, ich kann nicht in Worte fassen, wie unentschuldbar mein Verhalten war.«

»Da muss ich Ihnen leider recht geben. Sie hätten jemanden ernsthaft verletzen können«, erwiderte Alvine verärgert, allerdings vielmehr fasziniert von seinem auffällig ansehnlichen Gesicht.

Ihr Gegenüber lächelte scheu, bevor er antwortete: »Wohl kaum, ich habe mein Pferd fest im Griff und das habe ich mit meinem Spießrutenritt bewiesen.«

»Ihr Pferd offensichtlich. Aber wen auch immer Sie mit Ihrem Husarenstück zu beeindrucken versuchten – Sie können nie Einfluss darauf nehmen, wie Ihre Mitmenschen reagieren. Ein Kind beispielsweise hätte vielleicht entgegen dem Überlebensinstinkt gehandelt und wäre nicht vorbei, sondern Ihnen genau entgegengesprungen.«

Die Erkenntnis erhellte seinen Gesichtsausdruck und sogleich biss er sich auf die Unterlippe. Erneut senkte er demütig den Kopf und gab ihr recht: »Daran hatte ich beim besten Willen nicht gedacht.«

»Somit war Ihr Handeln nicht nur gefährlich, sondern auch höchst egoistisch, mein Herr!« Alvine konnte sich nicht erinnern, je einem Menschen eine Strafpredigt gehalten zu haben, und nun tat sie es bei jemandem, der ihr doch völlig fremd war.

»Den Hut …«, lenkte er ab, »werde ich reinigen lassen.«

»Machen Sie sich keine Umstände, ich mag ihn sowieso nicht gern.« Jetzt erst nahm sie Emmis hochgezogene Braue aus dem Augenwinkel wahr.

»Aber wie kann ich es wieder gut machen?«, fragte der Hüne höflich lächelnd.

»Ich weiß nicht … vielleicht versprechen Sie, nie mehr gefährdend zu handeln … und kaufen Sie den umstehenden Kindern Zuckerwatte«, gab sie zurück. Auch sie lächelte nun.

Ehe er antworten konnte, wurden sie erneut vom lauten Getrappel wilder Hufe unterbrochen. Eine offene Kutsche näherte sich und Emmi stöhnte auf. Auf dem Kutschbock saß Rupprecht, ein schwarzer gut angezogener Mann von Statur. Er war im Geiste Emmis großer Bruder, Strafvollzugsbevollmächtigter und Beschützer zugleich.

Genau vor ihnen hielt er, und während er abstieg und flink die niedrige Türe zu den Hinterbänken öffnete, rief er: »Liebes Fräulein Emmi, ich bin untröstlich, aber Ihr Vater bestellt Sie auf schnellstem Wege nach Hause.«

Obwohl hörbare Ergebenheit in seiner tiefen Stimme mitklang, erlaubte seine Mimik keine Verhandlung und entgegen ihrer Natur greinte die Angesprochene nicht, sondern nahm seine liebevoll dargebotene Hand und ließ sich in die Kutsche helfen.

»Du kommst doch mit, oder?«, wandte sie sich an Alvine und darauf wie ein bettelndes Kind an Rupprecht: »Nicht wahr, wir bringen erst Winnie nach Hause und dann …«

»So leid es mir tut, liebes Fräulein Emmi, ich habe den Auftrag, Sie unverzüglich heimzuschaffen«, worauf er der Gemeinten hilfreich nur den Arm anbot. »Aber ich werde Ihre Freundin danach gerne fahren, wohin auch immer sie möchte.« Er linste merklich naserümpfend auf den jungen Mann bei Alvine und machte so deutlich, dass er die beiden unter keinen Umständen alleine lassen würde.

Sie lächelte daraufhin und knickste kurz vor dem Fremden, ehe auch sie in die Kutsche stieg.

»Erfahre ich Ihren Namen?«, rief der ihr hinterher, doch ehe sie antworten konnte, ging Rupprecht, auf den Kutschbock steigend, dazwischen: »Das ist wohl kaum im Rahmen des Nötigen.« Er ließ die Peitsche knallen und die Damen entfernten sich in Windeseile aus des Fremden Blickfeld.

Alvine Hohelohs bernsteinfarbene Augen hafteten auf den blauen Iriden des Hünen, der dort noch immer stand, ihren durchgeweichten Hut umklammerte und erneut sein Herz an sie verloren hatte.

°°°

»Alvine, mein Kind, was hast du?«

Immer, wenn Dorothea Hoheloh den Namen ihrer einzigen Tochter aussprach, legte sich ein zutiefst zärtlicher Zug um ihre Lippen. Und mit ebenso viel Liebe blickte sie auf ihr Mädchen, das ihr so ähnlich sah. Die gleiche Statur, die gleichen Augen, nur etwas größer als sie. Doch im Gegensatz zu ihr war Alvine gesegnet mit der zarten rotgoldenen Haut ihres Vaters und mit seinen wunderschönen dunklen Haaren.

Natürlich war die gnädige Frau auch auf das Aussehen ihrer zwei Söhne stolz, hatte jedoch nie hinter den Berg gehalten, dass ihre Tochter eine perfekte Synthese aus Alfred und ihr war.

Das junge Mädchen saß, die langen Locken noch feucht von der wöchentlichen Pflege mit Rosenseife und Sesamöl, im lichtdurchfluteten Wintergarten, umgeben von der reichen Orchideenzucht ihrer Mutter. Sie hatte ein Buch aufgeschlagen, starrte aber schon minutenlang ins Nichts.

»Ich träume nur, Mama.«

»Das sehe ich, doch mir scheint dein Träumen heute eher quälend. Bereits seit gestern Abend bist du so abwesend.«

»Ach Mama, wie lieb, dass du dich sorgst. Vielleicht ist es von allem ein bisschen. Das Unternehmen, Frau Lange, Papa, die Arbeit …«

»Wenn es dir zu viel wird, sag es uns. Niemand verlangt von dir, einer Neunzehnjährigen, all das allein zu bewerkstelligen.«

»Es ist nicht zu viel, ich muss nur ausgiebig darüber nachdenken.«

»Pass nur auf, dass du nicht ins Grübeln gerätst. Dazu neigen wir Damen. Und Grübeln schadet der Heiterkeit.«

»Gewiss, Mama.«

»Ich gehe. Elfriede Fürstenberg lädt zum Kaffee ein.«

Alvine sah verdutzt auf: »Nur ihr beide?«

Über Dorotheas Gesicht huschte ein stolzes Lächeln.

»Oha, wie hast du das geschafft?«

»Nun, du weißt das, Kind …«, und den zweiten Teil sprachen sie gleichzeitig, »man muss die Dinge vom Ende her planen.«

Darauf lachten sie, und Alvine erhob sich und folgte der Mutter durch die weiten Flure in den prunkvollen Eingangssaal vor den breiten Spiegel, wo bereits Alma, Dorotheas Dienstmädchen, stand. Diese half der gnädigen Frau, sich straßenfein zu machen.

Dorothea richtete ihren Blick in ihres und das Spiegelbild ihrer Tochter. Die zierliche und hochgewachsene Alvine wirkte in den hohen Räumen und vor der imposanten Treppe in den ersten Stock immer etwas verloren. Vermutlich mutete aber selbst ein vierschrötiger Stallbursche unterhalb dieser überwältigenden Deckenhöhe winzig an.

Während die Herrin sich von Alma das Haar richten ließ, sagte sie: »Frau Fürstenberg ist bei Weitem nicht so kauzig und verschroben wie ihr Gatte. In unserem Gewerbe ist es üblich, dass sich alle kennen, und somit gelang es mir, sie auf verschiedenen Damenveranstaltungen stückchenweise zu bezirzen. Auf Bällen freilich habe ich mich höflich zurückgehalten, denn ihr Mann lässt sie keine Sekunde aus den Augen, sobald andere Herren in der Nähe sind.«

»Vertraut er ihr nicht?«

»Das kann ich nicht beurteilen. Vielleicht ist er schlicht ein recht eifersüchtiger Narr. Seit ich ihn kenne, schien er mir sehr schüchtern gegenüber Frauen zu sein. Das war er wohl schon, bevor dein Vater und er befreundet waren. Und unsere Hochzeit hat es offenbar zusehends verschlimmert, da es ihm nach dem Krieg schwerfiel, sich in der Damenwelt einen guten Namen zu machen.«

»Und das brachte einen Keil zwischen die beiden? Papa hat mir darauf bisher nie eine rechte Antwort gegeben.«

»Soweit ich weiß, Alvine, war er eifersüchtig, weil ihn während des Krieges eine Kugel ins Bein traf und er seither gehbehindert ist. Er wurde daraufhin aber nicht nach Hause geschickt, sondern musste in der Küche dienen. Zwei Jahre Kartoffelnschälen zerrt wohl an jedermanns Nerven.«

»Was sollen denn die kaiserlichen Küchenhilfen sagen?«, protestierte Alvine und Dorothea lachte vergnügt.

»Das mag richtig sein, aber dergleichen Ausrufe halte bitte in diesen Wänden. Und Eifersucht, mein Kind, ist ein grünes Gespenst, das sich in den Nacken setzt und irgendwann dein Herz erreicht, um von dort aus in die Knochen zu kriechen.«

»Er ist also neidisch, weil Papa NUR ein Granatsplitter traf und er seither so gefährlich aussieht mit seiner Augenklappe?«

»Eifersucht benötigt keine Basis. Das sagt doch schon das Wort: Eifersucht ist eine Leidenschaft, die mit Eifer sucht, was Leiden schafft«, reimte sie und Alma setzte ihr den riesigen hellen Rüschenhut auf, der wundervoll zu ihrem weinroten Kleid mit dem Glockenrock passte. »Soweit ich weiß, wurden von seinem Bruder damals einige Fehlinvestitionen getätigt, und als Heinrich Fürstenberg wieder das Ruder in die Hand nahm, standen die Gerbereien kurz vor dem Ruin. Bis er sich traute, um eine Frau zu werben, zogen Jahre ins Land. Er war schließlich um die 40, als er endlich heiratete.«

Alvine überkreuzte ihre Arme auf der hohen Kommode neben dem Spiegel und legte nachdenklich das Kinn darauf ab. »Und die Tatsache, dass er den chemischen Fortschritt der Gerbereitechnik nicht rechtzeitig anerkannte und deswegen horrende Einbußen erlebte, tat ihr Übriges?«

»Schlaues Kind!«

»Doch wie konntest du denn dann seine Frau für dich gewinnen?«

»Wie gesagt, sie ist bei Weitem nicht so streitsüchtig wie ihr Gatte. Ich habe eher das Gefühl, dass sie mein Werben genießt und sich gesellschaftlichen Aufstieg erhofft, wenn ich ihre Freundin bin. Ich werde sie heute erleben, wie sie sich ohne die anderen Damen um uns herum gibt. Soweit ich weiß, möchte sie mir auch ihren Sohn vorstellen. Er soll ein Schmucker sein.«

»Offenbar kommt er da nicht nach seinem alten Herrn«, stellte Alvine fest.

Dorothea lachte herzlich und tadelte danach ihre Tochter scherzhaft für ihr ungehaltenes Mundwerk, ehe sie sich mit einem flüchtigen Wangenkuss verabschiedete.

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9783752928464
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