Читать книгу: «Verletzte Gefühle», страница 3

Шрифт:

3

Kapustin atmete heftig, schob ihr den Rock hoch und fuhr mit seinen dicken Fingern ungeschickt am spitzenbesetzten Strumpfgürtel herum. Marina Semjonowa dachte schwermütig daran, wie diese widerliche Hand nun hinaufrutschen würde, sie sich entwinden und Kapustin auf die Schultern schlagen muss, und der sich dann noch drängender an sie drücken, wütend werden und alles schließlich mit einem Streit enden würde. Und Streit mit dem Oberstaatsanwalt des Gebiets brauchte sie wahrlich nicht.

»Wie bist du so widerspenstig«, zischte Kapustin in das sich rötende Ohr Semjonowas, fasste sie an ihren dichten Haaren am Hinterkopf und drängte mit seiner fleischigen Zunge zwischen Marinas erschrocken zusammengepresste Lippen.

»Warum auch nicht?«, dachte sich Semjonowa einen Augenblick lang, doch die Zunge des Staatsanwalts war derart unangenehm, kalt und dick, und es tat so weh, wie er an den Haaren am Hinterkopf nach unten zerrte, sodass sie unterdrückt stöhnte und auf einmal den Vergewaltiger mit unerwartet rasender Wut von sich stieß.

»So, also«, murmelte Kapustin beleidigt, nachdem er die Beute losgelassen und wie ein Elefant nach dem Baden geschnauft hatte, »Andrej Iwanowitsch durfte, und ich darf nicht.«

»Ich habe ihn geliebt«, antwortete Marina Semjonowa aus irgendeinem Grund, und begriff sofort, wie dumm das klang.

Kapustin wurde fröhlicher und grinste schlau: »Wie auch nicht, Marina Anatoljewna. Der Verstorbene hat Ihnen Ihr ganzes Business auf dem goldenen Tablett serviert. Sie lebten wie eine Made im Speck … wenn der Vergleich erlaubt ist.«

Er setzte sich an den Rand des Schreibtisches, direkt unter dem großen goldenen doppelköpfigen Wappen, und schaute Marina tief in die Augen, dann wanderte sein Blick auf die halbgeöffnete Seidenbluse und ihre rosigen Schlüsselbeine. Sie wusste nicht gleich, was sie antworten sollte, nahm unvermittelt den schweren Füllhalter vom Tisch, mit dem sie die Aussage unterschrieben hatte, rollte ihn in ihren feuchten Händen hin und her, legte ihn zurück und sagte erst dann: »Sehen Sie, ich konnte kein Interesse am Tod von Andrej Iwanowitsch haben. Die Überwachungskameras zeigen es eindeutig … Er ist nicht zu mir heraufgekommen.«

»Es beschuldigt Sie doch niemand irgendeiner Sache!«, versicherte Kapustin mit breitem Grinsen. »Im Gegenteil, ich fühle mit Ihnen. Wer nimmt Sie jetzt in Schutz, wenn es zu einer Hetzjagd kommt? Wer sichert Ihrer Baufirma sozusagen die Projekte zu?«

»Wir schaffen das schon«, schmollte Marina.

»Freilich«, pflichtete Kapustin bereitwillig bei. »Sie haben ja da noch diese, na, diese Schönheitsklinik ›Basilisk‹. Von den Immobilien rede ich gar nicht, die Sie erfolgreich vermieten, drei als Büros, eines als Restaurant. Sehen Sie, ich verfolge Ihre Erfolge.«

Semjonowa schlug mit der Faust auf den Tisch: »Zählen Sie etwa mein Geld?«

Ihre Nase weitete sich vor Zorn, die nach den Hyaluron-Spritzen zarten und straffen Wangen erzitterten vor unterdrücktem Weinen. Sie begriff, dass sie einen Fehler begangen hatte, dass sie Kapustin hätte freimütig küssen müssen, dass er ihr diese Abweisung nicht verzeihen würde. Da machte er sich erneut an sie heran, so als ob er ihr noch eine Chance geben wollte, und seine Hand mit den Stummelfingern betastete unsicher und lüstern jene Stelle hinten, die Ljamzin so rühmte und Marina dafür Kallipyga nannte.

»Kleine«, flüsterte Kapustin ihr lechzend an den Hals, »du wirst mit mir teilen. Fünfzig Prozent des Gewinns, und die Sache ist erledigt.«

»Erledigt?«, fragte Semjonowa ungläubig.

»Du gehst als eine unbedeutende Nebenzeugin durch. Alles ganz einfach. Unser Andrej Iwanowitsch erlitt einen Aortariss.«

Während Semjonowa ihrer einzigen Vertrauensperson, Pjotr Iljuschenko, von diesem Gespräch erzählte, sprang sie andauernd vom Sofa hoch, ging nervös im luxuriösen Salon hin und her, setzte sich, um bald darauf wieder aufzuspringen. Iljuschenko hingegen war über die Maßen entspannt, lag mehr als er saß in seiner seidenen Kutte im Lederfauteuil und hatte die Beine weit von sich gestreckt. Diese Kutte war für die echten Popen seit je ein Ärgernis, sie hielten Iljuschenko für einen dummen Hochstapler, verachteten sein Geschwätz und munkelten, dass er das Priesterseminar gar nicht abgeschlossen habe und also das Habit nicht tragen dürfe. Iljuschenko selbst zog es vor, sich als Anhänger der Ökumene zu empfehlen, und er liebte es, bei einem Glas puren Whiskeys über das filioque zu streiten, diese völlig nichtssagende und unsinnige Formel, die man endlich austilgen müsse, um so die gespaltene Kirche wieder zu versöhnen. Marina band ihn mit Geld an sich und hielt sich ihn anstatt der Freundinnen, die sie schon in der Studentenzeit verloren hatte.

»Aortariss?«, artikulierte Iljuschenko nachdenklich, wobei er ein Nuss-Trüffel-Konfekt zu sich nahm. »Ich habe was von Schläfentrauma gelesen.«

»Und?«

»Du hast doch gesagt, dass ihr am Vorabend Streit hattet.«

»Petja, willst du damit sagen, ich hätte Andrej zu einem gottverlassenen Winkel gebracht und dort seinen Kopf auf den Randstein gedroschen? Hast du sie noch alle?«

Semjonowa erhob sich wieder und rieb sich vor Aufregung die gepflegten Hände. Ihr kam plötzlich Ljamzins Rücken in den Sinn, unbehaart und mit einem kaffeebraunen Muttermal am Rumpf. Seine suchenden Pupillen und das in den Minuten der Nähe verzerrte Gesicht. Die großzügigen Geschenke, immer von einem kleinen Billett begleitet. Er ließ sie von seiner Assistentin Lena überbringen, ein langhaariges, farbloses Geschöpf mit fahlen Wimpern und feuchten, wie von Hornhautablösung erkrankten Pupillen.

Zum ersten Mal ist Ljamzin der Semjonowa vor zehn Jahren begegnet, als er noch ein knackiger Geschäftsmann war und Mitglied aller möglichen hohen Kommissionen und Beiräte. Marina lief in ihrem Baumwoll-Shirt mit einer Schar frecher, ausgelassener Aktivistinnen die Hauptstraße entlang, in den Händen glänzten Flaschen mit aus der örtlichen Fabrik stammendem süßem Sprudel. »Gönnt euch unsren Sprudel!«, hieß es auf den Plakaten. Die Brustwarzen der studentischen Aktivistinnen wippten im Takt des Laufes auf und ab, das grüne Kohlensäure-Getränk perlte ihre nackten Hälse entlang, rann in den Kragen und spritzte und zischte unter dem Kichern und Kreischen der versammelten Menge. Es war das Fest der heimischen Nahrungsmittelerzeuger. Der Triumph des Wohlstandes des Landes.

Ljamzin war der Inhaber dieser kleinen Fabrik. Noch war er nicht Minister, seine flache Nase lachte gutmütig der Menge zu, die buschigen Brauen standen nach oben. Er warf einen klebrigen, gerührten Blick auf Marina, wie auf ein gezähmtes Tier. Er nutzte die Gelegenheit und hielt ihr eine Visitenkarte hin, die sie ohne sich zu zieren mit ihren nicht sehr eleganten Fingern entgegennahm. Ein paar Tage später trafen sie sich in einem Restaurant. Er bestellte Lammnacken, sie marinierten Lachs mit rotem Kaviar. Sie tranken alten Toskaner dazu, und der Abend endete gegen Morgen, im Zimmer eines neueröffneten Hotels. Ljamzin lag auf dem völlig zerknitterten Leintuch, schwitzend und außer Atem. »Maretschka, Maretschka«, flüsterten seine matten Lippen. Er war streichweich und überwältigt von der Woge des Glücks. Marina aber lief nackt durchs Zimmer, schaute zum Fenster hinaus, sprang zum dreiteiligen Spiegel und konnte ihr Hochgefühl nicht bezähmen. Es war, als ob sie spürte, dass dieser reiche, unternehmerische Mann ihr von nun an mit Haut und Haar verfallen war.

»Ich habe ja nicht gesagt, dass du ihm den Schlag versetzt hast«, erklärte Iljuschenko mit der krachenden Nuss im Mund. »Vielleicht habt ihr euch gestritten, er ist außer sich geraten, und es hat alles so entsetzlich geendet.«

»Wir haben uns am Tag vor seinem Tod gestritten. Davor. Und nicht ich habe ihn aus der Fassung gebracht. Das waren diese verfluchten anonymen ›Hinweise‹.«

Sie hatten sich wegen der Kinderfrage gestritten. Marina wollte unbedingt eines haben, träumte davon, aber Ljamzin fürchtete sich, diese Linie zu überschreiten. Natürlich wusste seine Frau von der Dauergeliebten und ihrem üppigen Lebensstil, doch ein Kind wäre zu viel gewesen und hätte seinem gewohnten Leben mit Donnerschlag ein Ende bereitet. Noch dazu wollte Marina, dass sie heirateten. Ljamzin suchte Ausflüchte, berief sich auf seinen Sohn, der im Ausland studierte, auf die Frau, der er alles verdanke, und kaufte Marina wieder irgendein wertvolles Geklimper. Innerhalb von zehn Jahren wurde aus Marina eine feine Dame, die mit dem Bürgermeister und allen andern Würdenträgern der Stadt auf Du und Du war, Schauspieler und Sänger unter ihre Fittiche nahm, mit Hochglanzjournalen Vertraulichkeiten austauschte, einen Kosmetiksalon unterhielt und sich auf Bali für Fotoaufnahmen im Bikini räkelte. Ljamzins wurde sie dann langsam überdrüssig, doch nachts fehlte er ihr schrecklich, warum auch immer, und sie heulte ins Kissen und lief dann in ihren Salon, um sich Kollagen spritzen zu lassen und damit die Spuren der schlaflos verbrachten Nacht zu verbergen.

Semjonowa ging zum bronzegerahmten ovalen Spiegel, warf einen missbilligenden Blick zu Iljuschenko, der gerade Schokokrümel von sich wischte, und betrachtete mit Befriedigung ihr Spiegelbild. Das Gesicht straff wie ein Pfirsich. Lange Nerz-Brauen. Mandelschwung der Lider. Ein Blick, der alle in den Bann schlägt.

»Weshalb also habt ihr euch angeschrien?«, schmatzte Iljuschenko. »Hat er dir ein Kind verweigert?«

»Er hat mir ja sogar eine Katze verweigert, er hat Allergie. Das heißt, hatte Allergie«, seufzte Semjonowa.

»Katzen kommen kein einziges Mal vor in der Bibel«, warf Iljuschenko unvermittelt ein. »Hunde vierzehn Mal. Löwen fünfundfünfzig Mal. Katzen kein einziges Mal.«

»Wirklich?«, wunderte sich Semjonowa. Sie ließ sich wieder auf das Sofa nieder und nestelte an ihrem phantasievoll besticken roten Umhang herum, den ihr Ljamzin aus China mitgebracht hatte. Rot – die Farbe der Aristokraten; wer von den einfachen Leuten rot trug, dem hat man, so heißt es, den Kopf abgeschlagen …

Iljuschenko verzehrte ein Konfekt, während er den Plafond fixierte, der mit sechsflügeligen Seraphen bemalt war, die inmitten von bauschigen Wolken schwebten.

»Marina, sag mir, wozu musstest du so in Saus und Braus leben?«

»Wie?«, fragte Marina verständnislos.

»Na, das teure Essen, Glanz und Glitzer, Botox. Alle diese krummen Ausschreibungen. Ljamzin hat dir doch schon dieses Anwesen gekauft, eine Villa am Land gebaut, wozu noch eine eigene Baufirma und Immobilien? Aus Gier?«

»Jetzt geht es also los mit der Pfaffenpredigt! Als ich dir die Reise ans Meer bezahlt habe, hast du ohne Murren angenommen. Und bist schön gebräunt zurückgekommen. Was juckt dich jetzt auf einmal?«

»Erstens war das keine Urlaubsreise«, beeilte sich Iljuschenko einzuwerfen und zog die Beine ein, »ich fuhr auf eine wissenschaftliche Theologen-Konferenz. Kirchenfragen, Gesellschaft und Staat …«

»Ja, ja!«, entgegnete Semjonowa ungeduldig.

»Und zweitens will ich hier keine Moralpredigten halten, ich bin ja kein Frömmler. So wie euer Geistlicher.«

»Nicht meiner, der von Andrej Iwanowitsch.«

»Egal. Ich wollte dich nicht belehren, mich interessiert es bloß von der psychologischen Warte her. Also, wozu?«

»Wie wozu?« Semjonowa zuckte mit den Schultern und erhob sich erneut. »Ich bin ja keine fünfundzwanzig mehr, das verstehst du doch selber. Die Zellen beginnen zu altern und die Haut wird trockener …«

»Willst du damit sagen, dass du das Geld für Botox brauchst?«, unterbrach Iljuschenko. »Aber wohl nicht alles! Denk einmal vernünftig nach.«

»Das tu ich ja!«, zischte Semjonowa, die schön langsam in Wut geriet. »Weißt du, was heute eine Laser-Epilation kostet? Für eine Behandlung gehen an die Hunderttausend drauf, und die Haare sprießen trotzdem da, wo sie nicht sollen.«

»Schon gut, schon gut.« Iljuschenko legte seine Stirn in Falten.

»Und die Massagen!«, setzte Semjonowa immer aufgeregter fort. »Und das LPG-Liften? Die Laserbestrahlung für das Blut? Die Kryotherapie? Und das Plasma? Und die Füllungen? Dabei ist das erst der Anfang. Weißt du, was ein Paar anständige Stiefel kostet? Eine Burberry-Tasche? Oder ein Kleid von Dior?«

Semjonowa griff sich mit beiden Händen an den Kopf und schritt von einer Ecke zur anderen, wobei sich ihr Hausmantel öffnete und ihre unerträglich weißen Oberschenkel zum Vorschein brachte.

»Beruhige dich, Marina.« Iljuschenko erhob sich ein wenig und brachte mit einer Art hypnotisierender Handbewegung die Freundin dazu, dass sie sich wieder setzte. »Du bist aufgedreht. Ich mache dir keine Vorwürfe. Ja, es kostet ein Sümmchen, wenn sich eine schöne Frau in Form halten will. Aber hier geht es ja um Millionen. Nicht umsonst läuft dem Kapustin das Wasser im Mund zusammen. Der hat ein klein wenig Appetit bekommen.«

»Was willst du eigentlich, Petja?«, fragte Semjonowa in schon ruhigerem, versöhnlichem Ton, wobei sie den Kopf müde nach hinten auf die Sofalehne legte. Sie erinnerte sich daran, wie Ljamzin sie geradewegs hier nahm. Er kam von einer Besprechung mit dem Gouverneur zurück, strahlend und vor Freude zappelnd. Man hatte ihn vor allen Leuten als vorbildliches Beispiel gelobt. Er habe sich bei der Verwaltung von Staatsvermögen bewährt, alle bei der Importsubstitution übertroffen, das heimische Unternehmen »Horizont« und dessen Produktion von Schleifmaschinen angekurbelt.

Schon an der Türschwelle nahm er seinen Hosengürtel ab und zerrte, ohne sich die Schuhe auszuziehen, Semjonowa in den Salon (sie blieben dabei am Teppich hängen und stießen eine Porzellanvase um), drückte sie auf das Sofa, drehte sie, wie er sich auszudrücken pflegte, rittlings zu sich, schob den Rock hoch, schlug auf ihre Hinterbacken ein, bis sich kleine rote Wülste darauf abzeichneten und vögelte sie dann stürmisch durch. Ihr flimmerte das Muster des Sofas – kleine grüne Knospen und geschwungene Blumenornamente – wie wild vor den Augen, der Hintern brannte unerträglich. Wann war das? Vor einem Monat, erst vor einem Monat.

Iljuschenko setzte sich neben Semjonowa und begann bedächtig auszuführen: »Das will ich sagen: Du hast fraudulent gehandelt. Dein Liebhaber hat dir Aufträge zugeschanzt und du hast sie dir zielsicher sofort unter den Nagel gerissen. Vom Standpunkt der Deontologie ist das falsch und kriminell. Vom Standpunkt des Utilitarismus hingegen hast du vollkommen recht. Und Andrej Iwanowitsch hat recht. Und jeder Funktionär, der Schmiergeld nimmt, ist moralisch einwandfrei. Und jeder, der Schmiergeld gibt, ist frei von jeder Schuld. Konsequenzialismus …«

»Schwätz’ mir nicht den Kopf voll, Petja«, unterbrach ihn Semjonowa.

»Marischa, hör mir zu. Ich will es dir erklären. Du empfindest doch keinerlei Schuld, dass du zum Beispiel eine mehrstöckige Villa besitzt, während ein Philosophie-Professor eine Zweizimmerwohnung in einer Chruschtschowka[4] und eine Karotte im Kühlschrank hat. Dabei hast du nicht einmal fertig studiert und lebst in Saus und Braus.«

»Ich habe ein Diplom.«

»Das hast du nachträglich als Geschenk von unserer Universität bekommen. Als ›Dankeschön‹ des Rektors für das Hallenbad, das eure Firma ihm gebaut hat. Dabei hast du höchstens dreieinhalb Vorlesungen besucht.«

»Petja, hör auf damit«, bat Semjonowa ganz ohne Groll.

»Lass mich doch ausreden. Du hast keine Schuldgefühle. Im Gegenteil, du freust dich. Und Andrej Iwanowitsch, Gott hab ihn selig, hat sich gefreut. Und der Rektor, und die Arbeiter in deiner Firma, und deine Schwester und ihr Mann, und deine Mama in der Regionalverwaltung – alle sind sie glücklich. Vom utilitaristischen Standpunkt aus gesehen habt ihr also, da es euch allen gut geht, recht. Der Zweck heiligt die Mittel.«

»Und?«

»Die Mittel bestehen, wie sich zeigt, darin, dass angeblich rundherum gestohlen wird und das alles angeblich ungerecht ist. Doch letztendlich zeigt es sich, dass es zu Nutz und Frommen ist. Du hast deine Inseln und deine Massagen, deine Untergebenen haben Arbeit und kostenloses Baumaterial, Andrej Iwanowitsch hatte dich. Eine Schönheit. Und je mehr er in dich investierte, umso mehr schätzte er dich. Wertzuwachs …«

»Du gehst im Kreis, Petja …«, bemerkte Semjonowa und kaute nachdenklich an den Spitzen ihrer kastanienbraunen Locken.

»Ich will dir ja nur zeigen, Marischa, dass du völlig logisch gehandelt hast. Ganz und gar. Das ist wie beim Gefangenendilemma. Stell dir vor, du hättest dich zur Verrücktheit verstiegen, beim Korruptionskarussell nicht mitzumachen. Stell dir das vor.«

»Das hätte keinen Unterschied gemacht«, antwortete Semjonowa selbstbewusst.

»Genau! Es hätte sich eine andere gefunden, die sich die Chance nicht hätte entgehen lassen. Was ergibt sich daraus? Es nützt niemandem, die Regeln zu brechen. Erst wenn Millionen von Menschen im Land mit einem Mal übereinkämen, kein Schmiergeld zu nehmen und zu zahlen, die Budgets nicht anzuzapfen, Verwandte und Freunde nicht mit Posten zu versorgen, dann, ja dann, wäre die Herrschaft des Gesetzes angebrochen. Aber sobald nur einer anzapft, werden es alle anderen auch tun, verstehst du?«

»Warum redest du dich da so in Fahrt, Petja?«, winkte Semjonowa ab. »Was für Banalitäten und leeres Zeugs du da von dir gibst!«

Sie stand auf, ging zum geöffneten Klavier, das ihr Ljamzin zum Dreißiger geschenkt hatte, und schickte sich an, ein betont trauriges Motiv zu spielen. Offenbar »Die Beerdigung der Puppe«. Doch die Tasten wollten ihr nicht so recht gehorchen, und nach einigen falschen Tönen schlug sie den Deckel zu.

»Tschaikowski?«, vermutete Iljuschenko und machte sich erneut an das Konfekt heran. »Weißt du, dass er gestorben ist, nachdem er nicht abgekochtes Wasser getrunken hatte? Womöglich hat auch dein Andrej Iwanowitsch deswegen die Patschen gestreckt?«

Semjonowa antwortete nicht. Sie blickte zu den Gardinen, hinter denen sie an jenem Abend stand, als Ljamzin umkam. Sie hatte darauf gewartet, dass ihr Liebhaber endlich vom Hof heraufkommen würde. Und aus dem Fenster geschaut, an das wüst der Regen trommelte. In letzter Zeit hatte Ljamzin die Wochenenden immer öfter mit seiner Frau verbracht und sich auf die Berge von Arbeit ausgeredet. Semjonowa war wütend darüber. Was wollte er mit seiner Ella Sergejewna zu zweit anstellen, mit dieser wabbeligen, massiven, so unweiblichen Person? Man stelle sich vor, Schuldirektorin. Hüterin der heranwachsenden Generation. Während hier, unter den sechsflügeligen Seraphen, sie, Marina Semjonowa, auf ihn wartete, im funkelnagelneuen Gipüren-Korsett aus der Boutique, mit abnehmbaren Strapsen. Ein paar Tropfen Parfum auf den Hals, die Brust, die Handgelenke. Dichte Locken bis zu den Schultern. Und solch ein Wesen musste in Qualen auf ihn warten.

»Ich habe wo gehört«, sagte Semjonowa schließlich, dass Liebhaber der klassischen Musik weniger zu Untreue fähig sind als Anhänger des Rock ’n’ Roll.«

»Also gut«, erkundigte sich Iljuschenko, »vertraue dich mir als Beichtvater an, hast du ihn betrogen? Den Andrej Iwanowitsch?«

»Wüstling«, lächelte Semjonowa. »Nur ein Wüstling interessiert sich für so etwas. Ich stelle uns einen Tee zu.«

Sie ging in die Küche, die mit nach Art von Ofenkacheln bunt gemusterten Fliesen ausgestattet war, Sonderanfertigung. Sie füllte den elektrischen Wasserwärmer und drückte auf den Knopf. Eine Leuchtdiode zeigte an, dass das Wasser siedete.

Hat sie ihn betrogen oder nicht? Kann man diese besoffene Geschichte mit einem Untergebenen in der Firma, Stepan, Untreue nennen? Damals bei der Silvesterfeier fühlte sie sich besonders einsam. Ljamzin war mit seiner Frau ins Ausland verschwunden, zum Sohn, und sie war in der Stadt ohne Mann und ohne Wärme zurückgeblieben. Sie wusste nicht mehr, was sie an Stepan anziehend gefunden hatte. Wohl seine feurigen, leicht vulgären Trinksprüche, die sehr gut zu seinen breiten Schultern und dem betörend bäuerlichen Namen passten.

Semjonowa selbst hatte ihn in ihr Büro geführt. Betrunken stolperten sie die Stiegen entlang, und da fasste er sie unter Gelächter an der Kruppe. Sie schlugen die Tür zu, wälzten sich ohne dunkel zu machen auf den mit Tuch bezogenen Eichentisch. Er ließ die Hose herunter und im Rauscheseifer vergrub er seine Nase in ihren großen, freigelegten Brüsten. Ihr war heiß und schlecht, und sie wollte Stepan so schnell wie möglich in sich spüren. Doch sobald sein Stoßen einsetzte, er über ihr seinen zerzausten Haarschopf schüttelte und vor unendlicher Brunst wild mit seiner Zunge lechzte, verging ihr vollkommen die Lust. Nur etwas Unangenehmes drückte und wetzte in ihr, und sie musste an etwas Nebensächliches denken – an einen abgerissenen Knopf, und daran, ob es nicht besser wäre, die Augen zuzumachen, sodass Stepan nicht merken würde, dass da keinerlei Genuss ist, sondern nur ein ungelenkes Aneinanderreiben, leichte Übelkeit und draußen Straßenlärm.

Nach ein paar Wochen kam sie in die Firma, um sich Kostenvoranschläge durchzusehen, Stepan tummelte sich am Gang herum und wollte ihr unter die Augen kommen. »Ob er es etwa Andrej weitergesagt hat …«, ging es ihr durch den Kopf und sie rief ihn zu sich.

»Marina«, begann Stepan, während er vielsagend lächelte und über die Bespannung des Tisches strich, jenes Tisches, auf dem er sich damals liebestoll abgearbeitet hatte.

»Marina Anatoljewa«, korrigierte ihn Semjonowa schlicht und streng und hielt ihm ein Kuvert hin. »Für Sie, Stepan, eine kleine Prämie. Fahren Sie mit Ihrer Frau und den Kindern auf Urlaub. Sie haben es verdient als Arbeiter in der Abteilung für …«

»Beschaffungsabteilung«, ergänzte Stepan für sie; er wurde ernster und sein gesundes Gesicht verfinsterte sich ein wenig. Doch das Kuvert nahm er an und ging ehrerbietig hinaus, so wie es sich eben gehört bei der großen Chefin.

Beschaffungsabteilung … Da hat doch dieser arme Teufel gearbeitet, der unlängst den Unfall hatte. Lebensgefährliche Verletzungen. Schlampereien des Straßendienstes …

Der Wasserkocher siedete, die Leuchte blinkte. Iljuschenko kam in die Küche, er half Semjonowa, das Porzellangeschirr aus der Kredenz zu nehmen. Das metallene Kreuz baumelte auf seiner Kutte.

»Marischa, wie also hat das geendet mit Kapustin, dem Oberstaatsanwalt?«

»Ich habe ihn auf dreißig Prozent des Gewinnes heruntergehandelt.«

»Und das war’s?«

»Plus meine Aktien an der Getränkefabrik. Kontrollpaket. Andrej hat sie mir überschrieben, als er zum Minister ernannt wurde. Damit nicht alles seinem Hausdrachen zufiel.«

Sie erinnerte sich an Kapustins zitterndes Kinn. Das zitternde Kinn mit den Bartstoppeln und der gierige, gleichzeitig flehentliche, wehrlose Blick von oben. Er schaute auf das, was Marina mit ihm dort unten machte, und seine Vene pulsierte an der Schläfe wie ein Bergbächlein. In Marinas Händen war Kapustin klein und dick, wie eine Rotkappe, und nach einigen Augenblicken spritzte es herb auf ihren Gaumen, der Staatsanwalt zitterte und wich unsicheren, knieweichen Schrittes zurück. Sie nahm ein Taschentuch aus der Burberry-Tasche und wischte sich den Mund ab, damit nicht Kapustins Samen um ihre Lippen herum eintrocknete.

Бесплатный фрагмент закончился.

1 531,18 ₽
Возрастное ограничение:
0+
Объем:
242 стр. 5 иллюстраций
ISBN:
9783990471142
Переводчик:
Издатель:
Правообладатель:
Bookwire
Формат скачивания:
epub, fb2, fb3, ios.epub, mobi, pdf, txt, zip

С этой книгой читают