Читать книгу: «Die Bargada / Dorf an der Grenze», страница 5

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«Anders, ganz anders», eiferte rühmend Mutter Bice. «Dein Vater, doppelt so alt wie ich, war ein gesetzter Mann, als er mich zur Frau nahm. Keine Kindereien, keine Faxen! Nach seinem Willen und Gutdünken trug er mich über die Schwelle der Kammer, wie ein Kind. Ich fürchtete ihn … und so soll es sein.»

«Über die Schwelle trug er dich?» fragte neugierig Bellinda.

«Ja», betonte Mutter Bice, «über die hohe Schwelle, an welcher du später das Gehen lerntest. Du wolltest es alleine tun, wehrtest meine Hand ab, bis du hinfielst, eine Schramme im Kopf.»

«Da war der Vater auch schon tot», schloß Bellinda mit Grabesstimme.

Mutter Bice spürte den Spott heraus. Obschon ihr Unglück weit zurücklag, tat es ihr weh, so respektlos von der Tochter daran erinnert zu werden: «Sterben kann man, wannʼs ist. Dazu braucht man nicht alt zu sein.»

Bellinda war es nicht recht, die Mutter im Übermut verletzt zu haben. Um sie aufzuheitern, griff sie nach ihrem oft erprobten Mittel: sie bat, ihr mehr aus ihrer Kindheit zu erzählen.

«Was ist da zu erzählen?» lenkte die Alte ein. «Warst ein Kind wie alle andern, nur eigensinniger … Die Sache mit dem Luftballon … Ein Händler kam bis vor unsere Türe. Dutzende von Luftballons wallten wie eine bunte Wolke an seinem langen Stab. Du warst darüber närrisch vor Freude; wolltest einen Ballon haben. Ich mußte sparen und schlug dir den Wunsch ab. Du betteltest aber so lange und so schön, bis der Mann, ein alter bärtiger Kauz, einen loslöste und ihn dir gab, einen roten, ich weiß es noch. Ich schämte mich, das Geschenk von dem Unbekannten anzunehmen, und wollte ihn bezahlen. Er aber weigerte sich, die Batzen, die ich hervorklaubte, anzunehmen. Geschenkt sei geschenkt. Während wir noch zusammen stritten, was meinst du, was du tatest? Du öffnetest deine kleine Hand und ließest den Ballon fliegen, nicht aus Ungeschick, mit Fleiß, weil es dir gefiel, ihn in den Himmel steigen zu sehen. Du jauchztest, aber der gute Mann war böse, man sah es ihm an. Und ich schämte mich nun erst recht. Was blieb mir übrig, als das Geld wieder hervorzuziehen und es dem Manne, der es nun nahm, in die Hand zu drücken.» Bellinda kannte die Geschichte auswendig, sie hörte nur halb zu, bis Mutter Bice mit dem Satz endete: «Ja, du wirst sehen, was es heißt, ein Kind zu erziehen!»

Nun, darauf freute sich Bellinda. Es dauerte ihr nur zu lange. Sie waren schon ein Jahr und mehr verheiratet, und nichts wollte werden. Sie stahl sich in die Kirche vor das Bild der Mutter Gottes, ihr Vorwürfe zu machen, die schönen Kinder, die Bernardo in die Mitte der Zimmerdecke gemalt hatte, winkten ihr vergebens. Sie wich ihren Freundinnen aus, die sie mit neugierigen Fragen in Verlegenheit brachten. Gerne hätte sie der Mutter ihre Besorgnis anvertraut, aber Trotz oder Scheu verschlugen ihr das richtige Wort. Wenn sie, in Zärtlichkeiten, Bernardo ihre Ungeduld verriet, lachte er sie aus, ein wenig Zeit sei ihnen zu gönnen, das Leben zu genießen, bevor ihnen die Last einer Familie auferlegt werde.

Aber auch er war glücklich, als Zoe geboren wurde. Kaum war das Kind groß genug, drängte er, man möge mit ihm die Reise auf die Bargada unternehmen, es den Eltern zu zeigen, damit auch sie sich daran freuen könnten.

Zoe war auf der Reise brav. «Ein Engel!» behaupteten mitreisende Frauen, die das niedliche Ding nicht genug bewundern konnten, «ein Schatz, ein Stern! Die Rosenwänglein, die Grübchen darin, die zwei weißen Zähnchen, die Ringellöckchen und die Augen, hast du die Augen gesehen? Goldbraun mit helleren Funken darin. Ein Wunder!» Das Kind lächelte freigebig im Kreise herum und verstand es, auch die Männer für seine kleine Person zu gewinnen, sogar einen mürrischen Alten, der abweisend in seiner Ecke saß, bis Zoe mit zierlichen Fingerchen ihm in den Bart fuhr und ihn ankrähte, daß er lachte. Ein Engel, ein Schatz, ein Stern! Bellinda strahlte, und Bernardo hatte alle Mühe, unter einer würdigen Miene sein Schmunzeln zu verstecken.

Doch als er Zoe über die Schwelle der Bargada trug, fing sie an zu schreien, und je mehr Gesichter sich über sie beugten, desto wilder sträubte sie sich. Sie verlor den Atem vor Zorn, wurde blau im Gesicht und machte so zuckende Bewegungen – wie ein Fisch, fand Orsanna mißbilligend –, daß Bellinda sich mit dem Kind in eine Kammer einschließen und warten mußte, bis es schlief.

«Das kleine Ding hat Kraft, sich zu wehren», bemerkte der Vater.

«Es braucht sich doch gegen uns nicht zu wehren», ereiferte sich Or­sanna.

«Wer weiß», warf Tomaso leicht hin und sah Bernardo mit einem halben Lächeln an.

Bei jenem Besuch klagte der Vater zum ersten Male, er und die Mutter seien müde. Orsanna könne nichts Weiteres auf sich nehmen, sie trage schon genug, und die alte Giulia sei nicht mehr bei Sinnen, sie zähle nicht. Taglöhner seien teuer und schwer zu finden, zu einem Knecht lange es nicht. Er erwähnte sein und der Mutter hohes Alter und meinte, eigentlich hätten sie es verdient, auszuruhen. Bernardo hörte zu. Daß die Alten schon so betagt waren, kam ihm überraschend. Er hatte sie nie anders als runzlig und zerfurcht gesehen, nun waren sie also so alt, so nah dem Tode …, wenn man es recht bedachte. Und dann, was sollte aus dem Hof werden? Schon jetzt wurde zurückgewirtschaftet. Was sollte erst später sein? Ein Mann fehlte, ein junger Mann, der arbeiten konnte und Augen im Kopf hatte, alles zu sehen. Dieser Mann war er. Er wußte es. Wer sollte den Hof übernehmen, wenn nicht er? So verstand es auch der Vater. Es klang deutlich aus seinen vorsichtigen Reden.

Darüber geriet Bernardo in tiefste Mißstimmung. Was tun? Aber was tun? Mit Freuden hätte er nun Giovanni als Meister auf die Bargada ziehen sehen; er hätte ihn darum bitten mögen, mit erhobenen Händen. Aber es war zu spät. Es hieß, Giovanni heirate die blonde Alda, die ein Kind von ihm habe, einen Knaben. So war es mit dieser Lösung nichts. Eine andere fand er nicht. Es gab keinen Meister als ihn selbst, das war wohl klar. Und doch konnte er sich nicht entschließen, dem Vater zuzusagen, ihm zu versprechen, er trete an seine Stelle. Er wollte nicht, er wollte nicht! Und schließlich: Hatte er das Recht, Bellinda hierher zu versetzen? Was wußte sie vom Leben auf der Bargada? Sie fand es schön und gut, weil alle um sie herumtanzten, wenn sie zu Besuch kam, und es ihr schmeichelte, auf eigenem Grund und Boden zu stehen, sie, die immer nur zur Miete gewohnt hatte. Auch genoß sie es, den Augen der Mutter Bice, die nichts durchgehen ließ, entrückt zu sein. Sie ahnte nicht, und er hatte ihr nie angedeutet, daß das Leben hier schwierig war, und weshalb. Oft drängte es ihn, mit ihr darüber zu sprechen, doch wartete er wohl zu lange damit, das Wort gab sich nicht, es verdrehte sich ihm im Munde, und er sagte etwas anderes, als das, wozu er angesetzt hatte.

Aus diesen trüben Betrachtungen riß ihn bald ein Streit mit seinem Meister. Rossi war zwar mit seinem jungen Arbeiter sehr zufrieden. Er überließ ihm auch schwierige Aufträge zu selbständiger Ausführung, und es schmeichelte ihm, daß es im Städtchen hieß, wer eine heikle Maler­arbeit zu vergeben habe, müsse sich an ihn wenden. Mochte Nerina sich nur ärgern! Doch ertrug er schlecht Bernardos mangelndes Interesse für Politik. Er zwang ihn gelegentlich, mit ihm eine Versammlung zu be­suchen, schon damit ihm seine Genossen nicht vorhalten konnten, er stelle einen Flauen ein, dann, weil es ihm nicht in den Kopf wollte, jemand könne gleichgültig bleiben in einer Sache, die ihm selbst wichtig war und für die er so hinreißend zu sprechen wußte. Daß Bernardo unberührt blieb, enttäuschte ihn, regte ihn auf. Wäre er offen im gegnerischen Lager gestanden, dann hätte man wenigstens gewußt, woran man mit ihm war, aber er ging auch nicht zur Kirche. Weiß Gott, für was er sich erwärmte!

Nun war wirklich sonderbar, was Bernardo trieb, statt am Sonntagmorgen zur Messe zu gehen oder Versammlungen zu besuchen: er malte. Er versuchte richtige Bilder zu malen, auf Holz oder Leinwand, mit dünnen Pinselchen und feinen Farben aus Tuben, wie er es in Mailand Künstlern abgeguckt hatte. Die Tätigkeit fesselte ihn. Er vergaß oft darüber alles andere, so daß Bellinda sich deswegen beklagen mußte. Sie schmollte, wenn er es vorzog, mit seinen Malsachen auszuziehen, anstatt bei ihr zu bleiben und den Sonntag zu genießen.

Er hatte damit begonnen, den Brunnen am Waldrand zu malen, eine Wäscherin daneben. Es gelang nicht übel. So fuhr er fort, malte den alten Turm, den Hof, die umliegenden Matten, Bäume, Berge. Solange er an der Arbeit saß, fühlte er sich beseligt. Er tiftelte, bis jedes Blättchen, jedes Gras so aussah, wie es sich gehörte. War das Bild fertig, befriedigte es ihn nicht. Es stimmte nicht mit der Wirklichkeit überein. Das Dargestellte war auf bedrückende Art leer, hohl, so, als müsse im nächsten Augenblick etwas hineinstürzen, als wäre das Gemalte eine Kulisse, wie sie im Theater auf der Bühne stand, nichts als Rahmen für eine Geschichte, die sich darin abzuspielen hätte. Aus jedem Haus, hinter jedem Baum hervor, vom Himmel herunter konnte es losbrechen. Unzufrieden stellte Bernardo das fertige Bild fort und begann ein neues, mit dem es ihm aber nicht besser erging. Doch zweifelte er nicht daran, mit der Übung geschickter zu werden.

Nun waren Wahlen im Anzug. Der Kampf um die Kandidaten beherrschte schon seit Wochen das Leben der Männer. Rossi hatte seine große Zeit. Er warb im Lande herum mit seinen besten Reden und viel Lärm für den Mann seiner Partei. Es mußte dieses Mal gelingen, ihm genügend Stimmen zu sichern. Jede einzelne war wichtig, um jede einzelne wurde gekämpft. Um sie zu gewinnen, waren viele Mittel gut. Warum auch nicht? Der Zweck heiligte sie im voraus. Daß bei Bernardo keines dieser Mittel verfing, daß er weder auf feurige Worte noch auf Versprechungen aller Art antwortete, war stark, es traf Rossi wie eine persönliche Beleidigung. Er konnte sich das nicht bieten lassen. So nahm er sich Bernardo vor und sprach ihm ins Gewissen. Man könne doch nicht leben wie ein Tier, ohne sich für das Allgemeine zu interessieren; er müsse, wie jedermann, wissen, für wen er stimmen wolle, und da sei es doch klar, dass es für seinen Freund sei.

Bernardo war nicht so gleichgültig, wie er schien und tat. In Mailand war viel unter seinen Kameraden debattiert worden, und er hatte mit feinen Ohren zugehört, wie sie sich über den Gang der Ereignisse und wie er zu lenken wäre, heiß redeten. Selbst trug er nichts zu den Gesprächen bei. Wurde er nach seiner Meinung gefragt, wich er aus, er verstehe nichts davon. Doch ordnete er das Gehörte zu guter Übersicht. Er dachte oft, die vielen großen Worte, die da gemacht wurden, um die Welt zu verbessern, versteckten nur schlecht kleinliche Interessen, es gehe weniger um die hohen Ziele, von denen die Rede sei, als darum, sich gegenseitig zu bekriegen und die Kastanien für sich selbst aus dem Feuer zu holen. Bei Versammlungen nun, in die Rossi ihn mitschleppte, wurde ihm das noch deutlicher. Wenn die einen oder andern sich für ­Menschenrechte einsetzten, meinten sie bloß die eigenen oder die der nächsten Anhänger, und diese Rechte ließen sich, so wollte Bernardo scheinen, rasch in Zahlen ausdrücken. Der ganze Betrieb war ihm wider­wärtig und langweilte ihn.

Er fragte Rossi, wieso es klar sei, daß er für seinen Freund stimmen müsse. Er selbst habe doch mehr als einmal angetönt, der Mann habe Dreck am Stecken … Rossi war verblüfft. Konnte man so naiv sein? Er setzte Bernardo auseinander, daß das private Leben mit dem öffentlichen in keinem Zusammenhang stehe, daß sein Freund in seinem eigenen Hause und in seinem Geschäft tun und lassen könne, was ihm beliebe, daß es einzig darauf ankomme, einen Mann zu wählen, dessen Gesinnung felsenfest sei. Und das nun sei bei seinem Freunde der Fall. Hatte man ihn doch lange genug gestützt und getragen, ihm durch die Finger gesehen, seine Dummheiten gedeckt und was sonst; er war der Partei verpflichtet. Und hatte er einmal seinen Platz in der Behörde, dann …

«Dann wird er die Dienste abzahlen müssen», fiel Bernardo lachend ein.

Rossi wurde böse. Es lohnte sich nicht, mit diesem Esel da lange Sperenzchen zu machen. Er stellte es ihm kurzerhand anheim, so zu wählen, wie er es von ihm verlange, oder sich als entlassen zu betrachten.

Bernardo biß die Lippen aufeinander. Er spürte, wie sie zitterten. Doch wartete er nicht lange und sagte: «Gut, ich lasse mich morgen auszahlen.» Unwillig über die Wendung, die die Sache nahm, flüchtete Rossi sich in Zorn. Er bewarf Bernardo mit Beschuldigungen, seiner Pflicht als Bürger nicht zu genügen, sich zu drücken, zu versagen, und schloß, als dieser schwieg, mit schnöden Verdächtigungen, er halte es eben doch, als Bauernsohn, mit den Reichen, den Gegnern, den Bösewichten. Er gehöre zu ihnen, und man werde es sich merken.

Was nun? Schon längere Zeit spielte Bernardo mit dem Gedanken, sich selbständig zu machen. Er hatte etwas Erspartes. Bellinda war anspruchslos und fleißig. Sie verschwendete keinen Rappen. Mutter Bice selbst, eine Musterhausfrau, gab es zu. Ihre Erziehung trug eben doch Früchte. Bernardo durfte also den Übergang wagen. Nun kam ihm die Gelegenheit entgegen. Er mietete passende Räume im Städtchen, ließ Empfehlungskarten drucken und warf sich in das Unter­nehmen. Der Anfang war nicht leicht. Die beiden Malermeister, ­Nerina und Rossi, sahen es gleich ungern, daß sich ein Dritter niederließ. Wenn sie sich sonst bekämpften, hier begegneten sie sich, ja, sie schlossen sich zusammen, um gegen Bernardo zu hetzen: ein Fremder, ein Irgendwoher aus den Bergen, ein Junger, ein Niemand, der sich erfrechte, durch Konkurrenz ihre Existenz zu erschweren. Er würde es büßen müssen.

Sie täuschten sich aber, wenn sie annahmen, Bernardo erhalte keine Aufträge. Viele waren nur froh, weder zu Nerina noch zu Rossi gehen zu müssen. Doch, entschloß sich einer, Bernardo eine Arbeit zuzuhalten, so weigerte er sich, den üblichen Preis dafür zu bezahlen. Bernardo sei frisch etabliert, er müsse entgegenkommen. Verlange er dasselbe wie die alten Firmen, könne man ebensogut zu ihnen gehen. Andere nahmen den Preis an, doch sah Bernardo von ihnen nie einen Rappen. Sie schoben das ­Zahlen hinaus und hinaus, und Bernardo scheute sich, um nicht in Verruf zu kommen, sie schärfer zu mahnen oder gar zu betreiben. So hieß es, wollte er durchhalten, von früh bis spät und über die gewöhnliche Arbeitszeit hinaus sich tummeln, nicht nur in der Werkstatt und auf dem Arbeitsplatz, auch zu Hause, wohin er seine Rechnungen und Bücher mitbrachte, um sie nach Feierabend zu ordnen. Mit Scherzen und ­Spielen, mit dem Malen von Bildern war es aus. Und das Fleißigsein, das ­Sparen und Sorgen genügten nicht einmal. Er mußte sich drehen und wenden, freundlich tun, wo es ihm nicht drum war, sich Bemerkungen gefallen lassen; er mußte mit Leuten schwatzen, mit ihnen in der Wirtschaft sitzen, ihre Gespräche anhören und seine Meinung äußern, wobei es eben nicht seine Meinung sein sollte, sondern die des andern. Das alles fiel ihm lästig. Doch tröstete er sich damit, daß die Einnahmen, wenn auch langsam, steigen würden und er alles in allem zufrieden sein durfte.

Trotzdem, gerade in Augenblicken innerer Aufmunterung, kam es vor, daß er sich überlegte, ob er nicht ein Narr sei, hier so zu buckeln, wo er doch auf der Bargada, zwar nicht mit weniger Arbeit, niemandem etwas nachzufragen hätte. Nun, alles hatte seine guten und seine schlechten Seiten. Man sah sie nicht sofort. Sie zeigten sich erst nach und nach. Alles hatte zwei Gesichter, wer weiß, sogar das Glück.

Und er hatte Glück. Sein Geschäft kam in Schwung. Kunde um Kunde sprang ihm zu. Man sprach von ihm als von einem tüchtigen Mann, der es weit bringen werde. Er selbst glaubte es. Als drei Jahre nach Zoe Umberto zur Welt kam – man denke, ein Sohn! –, war er seiner Sache sicher. Dem Kleinen zuliebe gelobte er sich, auf dem Platze, den er selbst gewählt hatte, standzuhalten und alles daran zu wenden, um dem Sohn ein gutes Los zu sichern. An der Taufe ging es hoch her. Die nähere und fernere Verwandtschaft war geladen. Bernardo führte mit der Patin, die das schön geschmückte Kind unter dem viermal zusammengelegten Brautschleier Bellindas trug, den Zug an. Während der Zeremonie in der Kirche, der Bernardo gerührt folgte, richteten Mutter Bice und Bellinda zu Hause das Essen. Es gab nach dem Antipasto vier Gänge und viel Wein dazu. Die Gesellschaft war in bester Stimmung. Es wurde gescherzt und gesungen. Bernardo hielt eine Rede, in welche er so viele Späße einflocht, daß die Frauen kreischten und die Männer sich zu allerlei Anzüglichkeiten veranlaßt sahen. Die Hochrufe hörten nicht auf: Es lebe die Freiheit … es lebe die Liebe … es lebe das Leben! Alle fanden, so gut habe man sich seit langem nicht mehr unterhalten.

Den Brief Orsannas, in dem sie um Entschuldigung für ihr Ausbleiben bat, weil der Vater krank sei, nahm er nicht ernst. Er las über die Zeilen hinweg, die berichteten, Tomaso habe einen leichten Schlaganfall erlitten, seine eine Gesichtshälfte sei gelähmt, und er sehe sehr verändert aus. Schlaganfall? Gelähmt? Verändert? Nun, an etwas mußte man schließlich sterben. Daß ihn die Nachricht zutiefst erschüttert hatte, war Bernardo im Hochgefühl des Tages entgangen. Ganz entgangen.

III. Der Kirchturm

Eines Morgens, Bernardo trat eben zum Tor hinaus, um sich zur Arbeit zu begeben, schob der Briefträger zu ungewohnter Zeit sein Rad den Rain hinauf. Bernardo sah ihn kommen. Er blieb wartend stehen. Oben angelangt, streckte ihm der Bote einen Expreßbrief entgegen. Jetzt hat es sich entschieden, hörte Bernardo eine Stimme in sich sagen. Er nahm den Brief und hielt ihn steif in der Hand, bis der Mann nach ein paar freundlichen Worten aufgesessen und fortgefahren war. Dann öffnete er den Umschlag und las das Schreiben durch. So war es: Dem Vater ging es schlecht. Es wäre nötig, daß Bernardo käme. So war es.

Er trampte auf den Hof zurück, wo vor dem Hause Bellinda am Granittisch saß und dem kleinen Umberto aus einem Schüsselchen Brotbrocken in den Mund stopfte. Stumm stellte er sich daneben und wartete, bis sie fertig war. Bellinda fiel der Brief in Bernardos Hand auf, aber sie fragte nicht danach. Ruhig beendete sie ihr Geschäft, wischte dem Kind den Mund und schob es davon, es möge spielen gehen. Bernardo ließ sich an seinen Platz neben Bellinda nieder.

«Da, lies, ein Brief von zu Hause», brachte er hervor und hielt ihr den Umschlag hin.

«Sage mir lieber, was drin steht», erwiderte Bellinda und faltete die Hände.

«Nun, dem Vater gehe es schlecht. Ich muß heim, helfen. Mach mir das Köfferchen!»

Bald war er reisebereit. Er gab Bellinda einiges zu besorgen, Arbeiten abzusagen, Geld einzuziehen, eine Rechnung zu bezahlen.

«Wie lange bleibst du?» fragte die Frau. Er sah sie groß an. «Wie lange?» fragte er selbst, ohne zu antworten. Er küßte sie auf den Mund und dachte, wie kalt ihre Lippen doch seien. Dann ging er, ohne sich umzusehen, zum Tor hinaus.

Bellinda setzte sich auf die Mauer und schaute angestrengt gegen den Wald, in dem der Weg verschwand, als könnte sie noch etwas von dem Fortgehenden erspähen. Wann würde er wiederkommen? Sie wußte, er kehrte nicht zurück. Was sollte aus ihr werden? Würde sie auch von hier fortgehen müssen? Sie schaute sich um: der Hof, das alte Gemäuer, der Turm. Es war nichts Besonderes, aber dies alles kannte und liebte sie. Sie brach in Weinen aus. So fand sie später Mutter Bice, die von einem Gang zurückkehrte. «Was ist», rief sie bestürzt, «ist dem Kind etwas geschehen?» Doch der Kleine spielte in der Nähe mit Steinchen und sprang der Großmutter entgegen. Sie nahm ihn bei der Hand, und zusammen gingen sie zu der Weinenden. Bellinda schneuzte sich in den Schürzenzipfel. «Immer verlegt!» tadelte leise die Mutter, zog ihr Tuch aus der Tasche und reichte es der Tochter. «Bernardo hat nach Hause gehen müssen», erklärte nun Bellinda, «der Vater sei übel dran.»

Die Mutter wunderte sich, daß der voraussichtliche Tod des Alten ihre Tochter so treffe, und suchte nach Worten, um ihr zu helfen, sich mit dem Tode, der auf uns alle wartet, in ein Einvernehmen zu stellen. «Er ist alt, er ist krank, und das Leben hat keinen Wert mehr für ihn. Man geht gerne, wennʼs so weit ist.»

«Ach, ich weine nicht wegen des Vaters», klagte Bellinda, «ich bin traurig, weil Bernardo nicht mehr zurückkommt. Du wirst sehen! Und was soll ich dann unternehmen?»

Jetzt verstand Mutter Bice. Das fehlte noch, daß der Schwiegersohn, den die Tochter ihr aufgedrängt, sie ihr nun weghole, wenn möglich samt den Kindern! Das gab es nicht. Da würde man noch ein Wort dazu zu sagen haben. Sie machte sich innerlich hart. Zu Bellinda meinte sie, so weit sei man nicht, sie solle durch ihr Weinen nicht das Unglück heraufbeschwören. Bernardo werde es sich zweimal überlegen, wegen der paar wilden Wiesen dort oben hier alles fahren zu lassen, wo er doch rühme, es gehe mit seinem Geschäft vorwärts; wo er daran denke, in die neugegründete Partei einzutreten, und wo doch Zoe bald zur Schule müsse. Bellinda ließ sich trösten. Die Mutter hatte recht. So wenig sie in der letzten Zeit Bernardo manchmal verstand, so war sie doch bereit, anzunehmen, er laufe nicht einfach davon. Sie verscheuchte die dummen Gedanken und brachte es fertig, mit den Kindern zu lachen und zu spaßen. Je länger der Briefträger keine Nachricht von der Bargada brachte, um so ruhiger wurde sie. Es mußte dem Vater besser gehen, und bald würde Bernardo zurück sein.

Bernardo fand den Alten im hohen Lehnstuhl in der Küche sitzend, unkenntlich. Sein Gesicht war bis auf die riesige Nase zusammengeschrumpft. Der Mund verlor sich, ohne Zähne, samt dem Kinn gegen den Hals zu. Man sah ein kleines Bächlein Speichel heruntertropfen. Seine Hände lagen wie dürre Tabakblätter auf den Armlehnen des Stuhles. Die Frauen hatten ihn angebunden, damit er nicht herausfalle. Or­sanna bemühte sich sehr, ihm etwas einzuflößen. Die Mutter schaute mit gefalteten Händen zu, und die alte Giulia plärrte hinter dem Tisch.

«Guten Abend», sagte Bernardo, ging auf den Vater zu und wollte ihm die Hand geben. «Er kann sich nicht bewegen», kam ihm Orsanna zuvor. «Er kann auch nicht reden …, aber er versteht uns, gelt, Vater», sagte sie laut und neigte sich über den Kranken. Nur an einem Glanz im Auge war die Antwort zu lesen. «Wir haben dir geschrieben», fiel die Mutter ein, «weil es Zeit ist zum Heuen. Orsanna kommt nicht nach. Es gibt keine Taglöhner, alle Männer sind auf Arbeit in den Städten. Wir zwei, die Tante und ich, sind zu nichts mehr nutze.»

Bernardo wußte, was er zu tun hatte. Am nächsten Morgen früh war er an der Arbeit. Das Mähen kam ihn schwer an. Seine Knie zitterten, und er fuhr mit der Sense mehr als gut war in Steine und Erdbuckel. Aber bald fand er die alten Bewegungen wieder. Wie man eine Sense wetzt, konnte man das verlernen? Wie man sie ins Gras legt, ausholt und zieht? Konnte man den zirrenden Ton vergessen, mit dem die Schwade Gras umsank und sich hinlegte?

Am Abend zog er seinen Stuhl zum Vater und berichtete, was zunächst und dann weiterhin zu tun sei. Tomaso hörte aufwerksam zu und schien befriedigt. Die Mutter saß daneben und rühmte, man sehe, wie es den Vater beruhige, zu wissen, daß Bernardo zu Hause sei. Sie wartete darauf, daß der Sohn sie korrigiere, er sei wohl vorderhand zu Hause, werde aber für Heuer sorgen und wieder gehen. Doch Bernardo schwieg. Er begriff nicht mehr, daß er sich hatte wehren können, heimzukehren, da es doch nichts half. Hier war er, hier würde er sein. Einen andern Ort gab es für ihn nicht auf der Welt.

Nach den ersten heißen Tagen starb der Vater. Bernardo schickte ein Telegramm an Bellinda und wartete, daß sie komme. Am Abend traf sie auf einem Fuhrwerk, welches sie unterwegs auflud, ein.

«Wo sind die Kinder?» fragte Bernardo sofort. «Ich ließ sie bei der Mutter», antwortete Bellinda zögernd, «ich dachte … »

«Was hast du gedacht?» fuhr er sie an. «Die Kinder gehörten her. Es ist ihres Vaters Vater, der da liegt.»

«Sie sind noch so klein», entschuldigte sich Bellinda, «Umberto kaum drei Jahre alt. Was soll er da verstehen?»

«Eben, damit sie es verstehen lernen, hättest du die Kinder mitbringen sollen. Es ist nie zu früh, zu verstehen, wohin man gehört!»

Mit Verwunderung sah Bellinda den Mann an. Wie er sprach! So hatte er nie geredet. Was war in ihn gefahren?

Am nächsten Tage, nach dem Begräbnis, saß die Familie um den Tisch beim Essen. Alle schwiegen. Als Orsanna die Teller wegräumte, erhob sich Bellinda, setzte ihren Hut auf und sagte, es sei wohl Zeit, zu gehen, der Weg sei lang, sie möchte den letzten Zug erreichen, um am Abend zu Hause zu sein. Die Frauen schauten auf. Bernardo fragte, als sei er überrascht: «Du willst schon gehen?»

«Nun ja, die Kinder, die Mutter, die Arbeit», gab Bellinda als Grund an.

«Arbeit gibtʼs auch hier», lachte Bernardo ungut, «wirst sie noch kennenlernen.»

Bellinda erschrak. «Ja, kommst du denn nicht nach Hause?»

«Ich … ich bin hier zu Hause», erwiderte der Mann und machte eine weite Armbewegung. «Du fährst jetzt zurück, räumst unsere Sachen zusammen und kommst mit den Kindern her!»

Bellinda mußte sich setzen. «So schnell», fragte sie in bittendem Ton.

«Ja, je schneller, desto besser», bestimmte Bernardo. «Wir haben schon zu lange damit gewartet. Schau, wie alles verlottert ist, weil die Alten nicht mehr konnten. Das muß anders werden.»

Im Hintergrund der Küche war Orsanna still stehengeblieben. Sie horchte auf das Gespräch der Eheleute, daß ihr kein Wort verloren gehe. So standen also die Dinge, so schlimm. Von dieser Minute hing alles ab. Wenn Bellinda sich weigerte, zu kommen, wenn sie sich gegen Bernardos Zumutung auflehnte und es vorzog, uneins mit ihm zu sein, statt nachzugeben und auf die Bargada zu ziehen, dann würde der Bruder sich besinnen, es sich reiflich überlegen und zum Schluß nachgeben. Wann war die Frau nicht stärker gewesen als der Mann? Unterzog sich aber die Dumme, fürchtete sie, den Mann zu verdrießen, ihn zu verlieren, dann standen die Dinge schlecht für Orsanna. Haß regte sich in ihr gegen die Jüngere, die Fremde, die ihr mit einem Wort entwinden konnte, nach was sie ohne Unterlaß einzig gestrebt. Sie mußte sich zusammennehmen, um nicht über sie herzustürzen und sie zum Hause hinauszujagen. Ihre Finger krümmten sich im Gelüste, ihr ins Haar zu fahren, und sie spürte, wie ihre Kopfhaut sich zusammenzog. Mit der ganzen Kraft ihrer Seele suchte sie auf Bellinda einzuwirken, daß sie wegbleibe.

Bernardo schaute keine der Frauen an. Sein Blick hing lässig am Gewehr, das neben dem Kamin stand. Er nahm sich vor, es zu putzen. Er erriet aber genau, was in Orsanna vorging, und als er jetzt aufblickte und in ihr verzerrtes Gesicht sah, erschrak er nicht. So war Orsanna. Er rief ihr zu:

«Was stehst du dort und lauschest? Mach deine Sache und laß uns die unsrige!» Nach einer Weile fügte er bei: «Du wirst übrigens zu der Tante hinüberziehen. Es ist genug Platz in ihrem Hause für beide. Hier bleiben wir mit der Mutter allein.»

Da hatte der Blitz schneller eingeschlagen, als Orsanna auch in ihren verzweifeltsten Stunden je gefürchtet hatte. Sie war ratlos, betäubt. Nach den Regeln, die in der Familie galten, kam ihr kein Recht zu. Sie hatte sich zu unterziehen. Sie tat es mit tausend Verwünschungen.

Auch Bellinda blieb nichts, als zu gehorchen. Das Schwerste war, ­Bernardos Entschluß Mutter Bice beizubringen. «Aber Zoe bleibt hier», wiederholte die Alte. Davon ließ sie sich nicht abbringen. «Das Kind gehört mir», beteuerte sie, «ich habe es immer um mich gehabt, es ist meines und bleibt bei mir.» Bellinda kannte ihre Mutter; sie wußte, wie starr sie sich wehrte, von einem Wort zu lassen, das sie in Heftigkeit aussprach. Es war gescheiter, sich ihrem Wunsche zu fügen. Mit der Zeit würde sie selbst einlenken und ihr das Kind überlassen, wie es natürlich war.

Bellinda fand zudem keine Zeit, ihr Heimweh zu pflegen. Es gab zu viel Arbeit auf der Bargada, wer konnte da an anderes denken? Am Anfang erlaubte sie sich wohl, zu jammern, sich aufzulehnen und dem Manne Vorwürfe zu machen, aber als sie sah, wie unermüdlich und verbissen er daran ging, das Anwesen vor der drohenden Verlotterung zu retten, als sie seine Ungeduld zu spüren bekam, daß die Arbeit nicht rasch genug vorwärts schreite, da überwand sie ihre Sehnsucht. Bald verwuchs sie mit dem Hof. Sie lebte im Gang der Geschäfte durchs Jahr hindurch, in ihrer unumstößlichen Folge, als wäre sie nie anderswo gewesen.

Im Frühling, kaum leckte die Sonne den letzten Schnee weg, war der Dünger aufs Land zu bringen. Die Hände in die Hüften gestemmt, trugen die Frauen die schweren Hotten auf Felder und Matten und bis an die steilsten Halden, wo der fruchtbare Boden aufhört und in Wildnis übergeht, während Bernardo die glänzenden, feuchtwarmen Ballen verteilte, daß die Bargada von weitem aussah wie mit Zimt überstreut. War der Himmel freundlich und erlaubte es, die Arbeit ohne Unterbruch zu beenden, konnte ans Kartoffellegen gedacht werden. Tagelang zogen die Frauen mit ihren Harken die Furche ins Erdreich, gerade und ausgerichtet, nicht zu tief und nicht zu flach, daß die Frucht, regelmäßig hineingelegt, ungestört wachsen könne. War das getan, kam der Garten an die Reihe. Mit Umgraben, Beete anlegen, Säen und Pflanzen vergingen wieder Tage, und gleich begann der Kampf mit dem Unkraut, der den ganzen Sommer über dauerte. Gras und Klee, Nesseln und Wolfsmilch und die hundert kleinen Kräuter, die sich mit zäher Ausdauer gegen ihre Vernichtung wehrten und alles überwuchert hätten, wäre ihnen Bellinda nicht mit derselben Ausdauer zu Leibe gerückt. Wuchsen der Kohl und die Rübchen, sprossen die Bohnen zwischen ihren Stangen hervor und kletterten eifrig daran empor, breiteten sich die Rhabarberblätter üppig und prahlerisch aus, wie Überreste einer tropischen Vegetation, reiften die Erdbeeren der warmen Mauer entlang, fing der Salat zu steigen an, war der Garten also in seiner Fülle eine Herzensfreude und lud er so recht zum Verweilen und Versäumen ein, so hieß es ans Heuen gehen.

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