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SIEBZEHN

Um Punkt zehn kam sie herein. Ich holte tief Luft und befeuchtete meine Lippen. Die erste Phase des Plans lief gut, denn hinter ihr tauchten keine Stasi-Leute auf. Trotzdem konnte ich den Blick kaum von der Tür wenden.

Veronika trug einen dunkelblauen Anorak und hatte das Haar zu einem Pferdeschwanz gebunden. Sie setzte sich zu uns und knibbelte dann an ihren Fingernägeln herum. Als wüsste sie nicht recht, was sie sagen sollte. Rolf und ich wussten es auch nicht.

»Wir sollen eine Stunde hierbleiben und dann aufbrechen«, sagte sie schließlich. Also bestellten wir uns etwas zu trinken, sahen uns dann über die Gläser hinweg an und wechselten ab und zu ein paar belanglose Sätze, damit unsere Schweigsamkeit nicht zu sehr auffiel. Die Zeit verging quälend langsam, und ich konnte mich nicht enthalten, immer wieder zur Tür zu schauen. Was, wenn Wolfgang Wichser auftauchte? Er würde Veronika garantiert wiedererkennen … Ich zwang mich, für eine Minute die Augen zu schließen, atmete ruhig durch und sagte mir, dass Wolfgang nicht kommen und alles gut würde.

»Wo arbeitest du eigentlich?«, fragte Rolf, um die Stille zu durchbrechen.

»Ich arbeite … äh … habe in einer Marmeladenfabrik gearbeitet«, antwortete Veronika leise.

Rolf nickte.

»Und ihr beide?«

»Ich kann morgen auf dem Bau anfangen«, sagte ich, um einen freudigen Gesichtsausdruck bemüht, was nicht recht gelingen wollte.

»Schön.« Veronika lächelte mir zu, wandte dann aber schnell den Blick ab.

Um elf verließen wir die Kneipe. Draußen regnete es. Ich stellte den Kragen meiner Jacke hoch und schob die Hände in die Taschen. Ohne ein Wort gingen wir durch die Straßen, Veronika ein paar Schritte vor uns; sie schien den Weg genau zu kennen.

In der Kühle des Abends und mit der Aussicht, dass es bald so weit war, ließ meine Nervosität ein wenig nach.

Aber nach einer Stunde waren wir noch immer nicht am Ziel. Es kam mir vor, als bewegten wir uns im Zickzack, mal in Richtung Grenze, dann wieder davon weg. Was sollte das? Wohin führte Veronika uns? Wozu diese offensichtlichen Umwege? Ich fragte aber nicht, weil ich mir sicher war, ihr trauen zu können. Uns zu verraten, hätte sie schon früher Gelegenheit gehabt.

Nach über eineinhalb Stunden trat sie plötzlich in einen Hauseingang und legte den Finger an die Lippen. Rolf und ich folgten sofort, um nicht im Lichtkreis der Straßenlaterne zu sein. Wir standen so dicht beisammen, dass ich die nassen Haare der beiden riechen konnte.

Hier also war es. Ich wusste, in welcher Straße wir uns befanden – gar nicht einmal weit weg von zu Hause. Etwa dreihundert Meter weiter unterquerte die Straße eine Eisenbahnbrücke und endete dann an der Grenze. Das Gebäude, in dessen Eingang wir uns zusammendrängten, stand an der letzten Kreuzung vor der Grenze. Das Eckhaus gegenüber war den Bomben zum Opfer gefallen; nur noch ein mit Gebüsch bewachsener Trümmerhaufen war davon übrig.

Auf der Straße war kein Mensch zu sehen. Es hatte aufgehört zu regnen, und das Licht der Straßenlaterne in unserem Blickfeld spiegelte sich in den Pfützen. Minutenlang warteten wir, aber nichts tat sich. Es war so still, dass ich glaubte, den Sekundenzeiger von Rolfs Uhr ticken zu hören. Ansonsten waren da nur unsere Atemzüge und hin und wieder Tropfen, die vom Dach auf die Straße klatschten. Unwillkürlich überlegte ich, wie hoch der Regen das Wasser in der Kanalisation hatte steigen lassen.

Plötzlich nahm ich aus dem Augenwinkel etwas wahr. Im Gebüsch gegenüber. Eine Bewegung? Und war da nicht eben ein Lichtschein gewesen?

Auf einmal liefen zwei Personen geduckt zu dem Gullydeckel mitten auf der Straße. Mein Mund wurde staubtrocken. In meiner Wahrnehmung wurde die Strecke zwischen Hauseingang und Gully immer größer und die beiden Gestalten immer kleiner. Ich würde keinen Schritt tun können. Rolf müsste mich mitzerren … »Wir gehen als Letzte«, hörte ich Veronika flüstern, ohne recht zu begreifen, was sie meinte. Die zwei Personen – es waren Männer, wie ich nun sah – hoben gemeinsam den Gullydeckel hoch. Er entglitt ihnen und krachte auf den Boden. Die beiden erstarrten, und auch ich hielt die Luft an. Dann stieg einer von ihnen hinab, der andere machte ein Handzeichen zu dem Gebüsch hin. Zwei weitere Personen liefen los, den Bewegungen nach zu urteilen Frauen. Sie knieten sich neben die Öffnung.

Was, wenn sie uns vergaßen? Wenn der Deckel zugemacht wurde, ehe wir … Hätte ich gekonnt, ich wäre losgerannt.

Die erste der beiden Frauen machte sich an den Abstieg. Schwaches Licht kam aus der Öffnung, von einer Taschenlampe vermutlich. Einen Moment lang beleuchtete es den Deckelmann, aber zu kurz, um sein Gesicht genau zu sehen.

»Wann sind wir dran?«, flüsterte Rolf.

»Wenn er uns ein Zeichen gibt«, flüsterte Veronika zurück.

Ich ließ den Deckelmann nicht aus den Augen. Er half gerade der zweiten Frau beim Hinabsteigen. War ihm klar, dass noch drei weitere Personen – wir – warteten? Und wusste er auch, wo?

In dem Moment, als er den Arm der Frau losließ, erklangen Rufe: »Halt! Stopp! Hände hoch!«

Von zwei Seiten her kamen Soldaten gerannt. Dem Deckelmann blieb keine Möglichkeit zu entkommen. Er sah sich um, und ganz kurz streifte sein Blick uns. Taschenlampen richteten sich auf ihn, und wieder tönte es: »Keine Bewegung! Wir schießen!«

Gefangen in den Lichtkegeln, ging der Mann in die Hocke. Eine Sekunde lang sah ich Panik in seinen Augen, dann war er auch schon in den Gully gesprungen. Die Gewehrsalve kam zu spät.

Die Soldaten hatten den Gully erreicht – sie waren zu viert. Einer leuchtete hinein, ein anderer kniete sich hin und feuerte mehrmals in die Kanalisation. Das Echo der Schüsse klang hohl. Die beiden anderen hoben ihre Lampen, um die Umgebung abzusuchen.

»Nichts wie weg!«, zischte Rolf und versetzte mir einen Stoß.

Schlagartig löste sich meine Starre, und ohne eine Sekunde zu überlegen, rannte ich los. Die Soldaten schrien uns eine Warnung zu.

Ich zog beim Rennen den Kopf ein, aber es fiel kein Schuss. Adrenalin pulste durch meine Adern, verlieh mir eine ungeahnte Ausdauer. Ich rannte, rannte, rannte – ohne jede Ahnung, wohin.

ACHTZEHN

»He!« Eine Stimme dicht hinter mir.

Ich rannte noch schneller.

»Mensch, warte doch!«

Es war Rolf.

Ich nahm das Tempo ein wenig zurück. Rolf holte mich ein und griff nach meinem Arm.

»Wir haben sie abgehängt!«, keuchte er. »Bleib stehen!«

Ich gehorchte, aber in meinen Beinen kribbelte es so, dass ich kaum stillstehen konnte.

»Wir haben sie abgehängt«, wiederholte Rolf. Er packte meine Schultern und rüttelte mich durch.

Ich starrte ihn an, ohne ihn zu sehen. Mein Herz hämmerte so wild, dass es in der Brust wehtat.

»Rolf! Die haben geschossen!« Ich konnte es einfach nicht fassen. »Die haben wirklich geschossen!«

Ob sie den letzten Mann getroffen hatten? Das dumpfe Knallen hallte noch in meinen Ohren. Da unten prallten die Kugeln vermutlich an der Wand ab. Selbst wenn er gleich losgelaufen war, hatte ihn eventuell ein Querschläger erwischt. War es feige von uns gewesen, einfach davonzurennen? Und wo steckte Veronika? War sie uns gefolgt? Oder woandershin gelaufen? Fragen über Fragen …

»Komm, wir müssen weiter.« Rolf zog mich mit.

Ich versuchte, meine Schritte seinem Rhythmus anzupassen, um mich zu sammeln und um die Bilder im Kopf loszuwerden.

Wir gingen die Schönhauser Allee entlang, unter der Eisenbahnbrücke der U-Bahn durch und weiter. In Richtung Süden, knappe fünfhundert Meter von der Grenze entfernt. Nein, jetzt nicht an die Grenze denken! Als wir unter der Brücke durchgingen, fühlte ich mich ein wenig geschützter. Dabei war uns die ganze Zeit kein Mensch begegnet, auch kein Auto oder Moped.

Die Laternen warfen fahle Lichtkreise auf den Bürgersteig. An den Geschäften auf der anderen Straßenseite waren die Läden heruntergelassen. Hinter keinem Fenster in den Wohngeschossen brannte Licht.

Bis zu Rolf war es noch ein Stück Weg. Schweigend gingen wir nebeneinander her, immer weiter weg von der Grenze. Und ganz langsam beruhigte sich mein Herzschlag.

Möglichst leise schloss Rolf die Wohnungstür auf, und wir gingen sofort in sein Zimmer. Er knipste die Nachttischlampe an, und ich ließ mich auf sein Bett fallen. Das Zimmer wirkte ungewöhnlich aufgeräumt.

Rolf bemerkte meinen Blick.

»Ich hab alle persönlichen Dinge weggeworfen«, sagte er heiser. »Damit der Stasi möglichst wenig in die Hände fällt.«

Ich konnte immer noch nicht fassen, was passiert war: Die Soldaten hatten geschossen! Es stimmte also, dass man auf Republikflüchtlinge schoss. Im Westradio hatte ich es gehört und Berichte darüber gelesen, und der eine oder andere hatte davon gesprochen. Aber so richtig geglaubt hatte ich es bisher trotzdem nicht. Nun aber wusste ich es aus eigener Erfahrung: Sie schossen auf unbewaffnete Menschen, die nichts verbrochen hatten.

Rolf ging in die Küche hinüber. Ich warf einen Blick auf den Wecker auf seinem Nachttisch. Viertel nach zwei. Mit einem Mal fühlte ich mich unendlich müde. Die Anspannung der letzten Stunden hatte alle Energie aus mir herausgesaugt. Und immer noch hörte ich die Schüsse, weit weg und gedämpft, wie durch einen Wattepfropf im Ohr.

Dann kam Rolf wieder ins Zimmer, eine Flasche Wodka und zwei kleine Gläser in den Händen. Er schenkte ein. Etwas sagte mir, ich sollte jetzt besser keinen Alkohol trinken, aber mit einem tüchtigen Schluck brachte ich die innere Stimme zum Verstummen.

Rolf setzte sich mit seinem Glas neben mich aufs Bett.

Ich wollte etwas sagen, aber mir schien jedes Wort überflüssig.

Ob ich geschlafen habe, weiß ich nicht. Ich weiß nur, dass ich nicht richtig wach war, als das Morgenlicht durchs Fenster fiel und ich die leere Wodkaflasche auf dem Tisch sah. Ich war auch nicht richtig wach, als ich aus der Küche Geräusche hörte und es nach Kaffee roch. Richtig wach wurde ich erst, als Rolf sagte: »Musst du heute nicht deine neue Stelle antreten?«

Da sprang ich auf und stürzte in der Küche eine Tasse von dem Kaffee hinunter, den Alex aufgebrüht hatte.

Draußen schwang ich mich auf Rolfs Fahrrad und raste nach Hause, um meine Arbeitskleidung zu holen.

Verfluchter Mist! Der Tag hätte für mich nicht hier beginnen dürfen. Nicht auf dieser Seite der Mauer.

Das ganze Ausmaß der Misere begriff ich erst an der letzten Straßenecke vor unserem Haus. Denn dort ging mir schlagartig auf, dass die Stasi von unserem Fluchtversuch gewusst haben musste. Ich bremste abrupt.

Jemand hatte den Plan verraten! Doch wohl nicht Veronika? Wohin war sie überhaupt gelaufen? Hatten die Soldaten sie womöglich erwischt? Sie kannte meinen Namen und …

Ich spähte die Straße entlang, hielt Ausschau nach einem wartenden Auto, nach Männern vor unserer Haustür, die mich abpassen wollten.

Nichts dergleichen zu sehen.

Vielleicht waren sie oben in der Wohnung? Angestrengt blickte ich zu unseren Fenstern, ob da jemand hinter der Gardine stand. Der Gedanke, dass ich meine Eltern in Gefahr gebracht hatte, schnürte mir die Kehle zu. Aber mir blieb keine Wahl: Ich musste ins Haus.

Ich traf Mutter allein an. Vater war schon zur Arbeit gegangen und Franziska in die Schule. Alles war wie immer.

»Julian, du? Ich dachte, du hast heute deinen ersten Arbeitstag?«, sagte Mutter verwundert.

»Hab meine Arbeitskluft vergessen«, murmelte ich, ihrem Blick ausweichend, und hastete in mein Zimmer, um die Sachen zu holen.

Mutter wandte sich wieder ihrer Bügelwäsche zu. Gott sei Dank ahnte sie nicht, was in der Nacht passiert war. Besser gesagt, was nicht passiert war.

Ich verabschiedete mich mit einem Kuss, rief »Bis heute Abend!« und rannte die Treppe hinunter.

Wo die Baustelle war, auf der ich mich vor einer Stunde hätte melden sollen, wusste ich zum Glück auswendig.

NEUNZEHN

Die nächsten Tage vergingen, ohne dass jemand von der Stasi bei uns zu Hause oder an meiner neuen Arbeitsstelle auftauchte. Nichts deutete darauf hin, dass ich beschattet wurde, und – soweit ich das mitbekam – horchte keiner meine Eltern oder Franziska über mich aus. Alles ging seinen gewohnten Gang. Bald hatte ich wieder das Gefühl, die Tage verliefen wie immer: Aufstehen, Arbeiten, Essen, Lesen, Schlafen, Aufstehen, Arbeiten, Essen, Kartenspielen, Schlafen, Aufstehen, Arbeiten … Erst wollte ich nicht zulassen, dass die eintönige Routine mich einlullte und jeden Gedanken an etwas anderes erstickte. Aber die Alltagsmaschinerie war mächtig, so mächtig, dass ich nicht dagegen ankam und bald anfing, wieder in den gewohnten Mustern zu denken, und mein Leben als normal empfand.

An einem Mittwochabend ging ich mit meinen Eltern in das ehemalige Gemeindehaus unseres Viertels, wo Franziskas FDJ-Gruppe ihre monatlichen Zusammenkünfte hatte. Diesmal sollte Franziska von ihrem Ernteeinsatz berichten, und das wollte Mutter auf keinen Fall verpassen. Vater und ich begleiteten sie, ich ziemlich widerwillig, er vermutlich genauso ungern. Ich hatte keine Lust, mir stundenlang politisches Gerede und Kampflieder anzuhören, aber Mutter bestand darauf, dass wir zu dritt hingingen. »Wir müssen Franziska zeigen, dass es uns interessiert, was sie so macht. Vor allem du, Julian, tätest gut daran, sie etwas mehr zu unterstützen, zu dir als großem Bruder schaut sie auf. Als sie vom Ernteeinsatz zurückkam, hast du kaum zugehört, was sie erzählt hat.«

Ich hatte die Augenbrauen hochgezogen und etwas erwidern wollen, aber da hatte Mutter sich schon weggedreht. Ich war mir sicher, dass es nur einen Grund gab, weshalb Franziska sich über mein Kommen freuen würde: weil sie genau wusste, dass mir dieser ganze FDJ-Zirkus auf die Nerven ging und ich nur gezwungenermaßen da war.

Im Saal war es nicht sonderlich voll, aber trotzdem warm und stickig. Vorn war ein kleines Podium aufgebaut, und an der Wand dahinter hing ein großes blaues Tuch mit gelb bemalten Buchstaben aus Styropor: Das Vaterland ruft! Schützt die Republik! Zu beiden Seiten prangte die blaue FDJ-Fahne mit dem gelben Emblem der aufgehenden Sonne. Auf dem Podium selbst standen drei Stühle und ein Rednerpult. Daneben eine niedrige Turnbank und davor optimistisch viele Stühle. Die ersten zwei Reihen waren bereits von FDJlern belegt, alle piekfein in Uniform. Vater setzte sich in die vorletzte Reihe, und ich nahm neben ihm Platz. Ich sah Mutter an, dass sie lieber weiter vorn gesessen hätte, aber um des lieben Friedens willen schwieg sie. Außer uns waren noch einige weitere Erwachsene da – Eltern vermutlich, und eine Handvoll Lehrer, die aber längst nicht alle vorhandenen Plätze füllten. Der Saal würde wohl zur Hälfte leer bleiben. Die Tür rechts neben dem blauen Tuch stand einen Spalt offen. Hin und wieder spähte ein Mädchen hindurch, sichtlich aufgeregt. Hoffentlich kam Franziska fast um vor Nervosität …

Das Programm begann um Punkt acht. Eine Gruppe Mädchen kam herein. Sie trippelten zur Turnbank und bildeten Reihen, eine darauf und eine davor. Zwei Männer in Anzügen mit gut sichtbarem Hammer-und-Zirkel-Anstecker am Revers und Ledermappen unterm Arm nahmen auf dem Podium Platz.

Die junge FDJ-Leiterin trat ans Rednerpult: »Ich entbiete euch den Gruß der Freien Deutschen Jugend: Freundschaft!«, rief sie in den Saal. Die FDJler in den ersten Reihen sprangen auf und riefen ebenfalls »Freundschaft!«

Nach dieser Begrüßung fuhr die Leiterin fort: »Vor Kurzem hat die Partei uns, der Freien Deutschen Jugend, einen Kampfauftrag erteilt. Einen Auftrag, für den Frieden einzutreten und die Grenzen unseres Landes zu sichern. Aufzustehen gegen die faschistischen Kriegstreiber und die Ungerechtigkeiten des Kapitalismus. Jetzt ist es an uns, alle Kräfte zu bündeln! Das Wohl der Arbeiterklasse ruht auf unseren Schultern! Vierundzwanzig Mitglieder unserer Einheit verstärken inzwischen die Grenztruppen. Sie versehen ihren Dienst hier, in Berlin, am antifaschistischen Schutzwall, der unsere Republik vor dem verderblichen Einfluss des Kapitalismus schützt. Sie gehören nun zu den bewaffneten Kräften der Deutschen Demokratischen Republik und damit zu den unbesiegbaren Streitkräften des sozialistischen Lagers, an deren Spitze die stärkste Armee der Welt, die ruhmreiche Armee der Sowjetunion, steht. Diese Streitkräfte werden jedem imperialistischen Aggressor, der versuchen sollte, die Deutsche Demokratische Republik anzutasten, einen tödlichen Schlag versetzen!« Sie sprach, als stünde sie vor einem ganzen Stadion voller Zuhörer. Ihre Augen leuchteten, und ihre Stimme klang laut und sicher. »Aber auch an anderen Fronten tragen wir das Unsere bei. Der Ernteeinsatz, an dem fünf aus unseren Reihen teilgenommen haben …«

Ich hörte nicht weiter hin. Reden wie diese hatte ich schon zur Genüge im Radio gehört. Stattdessen beobachtete ich, wie sich beim Gestikulieren immer wieder andere Teile ihrer blauen Uniformbluse spannten. Auf wundersame Weise betonte das Kleidungsstück, das an Franziska wie ein Lappen wirkte, ihre Körperformen. Ich schätzte, dass die Bluse gut zwei Nummern zu klein war, denn ihr Busen zeichnete sich voll und rund unter dem Baumwollstoff ab. Und sie hatte – vermutlich mit Bedacht – die oberen Knöpfe nicht geschlossen, sodass der Spalt zwischen ihren Brüsten gut zu sehen war. Jetzt hätte ich doch gern ein paar Reihen weiter vorn gesessen. Dann könnte ich sehen, wie die Schweißtropfen von ihrem Hals Rinnsale bildeten, die langsam in den Ausschnitt sickerten.

Ihre Einleitung war aber zu Ende, ehe ich mir Gedanken machen konnte, ob sie einen BH trug oder nicht. Sie setzte sich auf den dritten Stuhl auf dem Podium, und die Mädchen auf und vor der Turnbank, die den Chor bildeten, stimmten ein Kampflied an.

Danach berichteten mehrere FDJ-Mitglieder von ihrem Engagement. Ein achtzehnjähriger Junge, der sich als Freiwilliger zu den Grenztruppen gemeldet hatte, den Kampfauftrag als persönlichen Appell sah und stolz war, als »Soldat des Volkes« zu dienen. Ein Mädchen, das für sein großes Wissen über heimische Tiere und Pflanzen mit einer Medaille ausgezeichnet worden war. Und schließlich Franziska, die erstmals als Erntehelferin ihrer sozialistischen Pflicht nachgekommen war.

Mutter setzte sich aufrechter hin, als Franziska ans Pult trat. Sie hatte ihre Rede auswendig gelernt – die letzten Tage hatte ich sie immer wieder üben hören, wenn ich an ihrem Zimmer vorbeiging. Selbstsicher blickte sie in den Saal und schilderte mit beredten Worten ihren Einsatz. Man merkte deutlich, dass die Leiterin ihr Instruktionen gegeben hatte, aber mir schien auch, dass die Sache ihr wichtig war, dass sie aus Überzeugung sprach. Franziska war gern bei der FDJ, weil sie das Zusammengehörigkeitsgefühl genoss, das wusste ich.

Plötzlich wurde mir klar, dass ich sie genau darum beneidete. Dass ich deshalb ungern zuhörte, wenn sie zu Hause von ihren Erlebnissen erzählte, und dass ihr Eifer mich nervte. Im Grunde ging es gar nicht um die Werte, die Franziska propagierte, sondern darum, dass sie Teil einer Gruppe war und ich nicht. An dem Tag, an dem ich bei Reitmann & Sohn anfing, hatte ich mich selbst ins Abseits gestellt. Ins politische und gesellschaftliche Abseits. Ich war ein Ausgestoßener. Die Schulkameraden von früher hatten sich von mir abgewandt. Nach ihrer Zeit bei der FDJ hatten sie sich Arbeit in ostdeutschen Betrieben gesucht, sie gingen mit ihren ostdeutschen Kollegen in die Kneipe, hatten ostdeutsche Freundinnen und schimpften auf die Profiteure im Westen. Und ich wiederum hatte auf sie herabgesehen und mir jenseits der Grenze Freunde gesucht.

Die Rede meiner Schwester war beendet, und Mutter applaudierte ebenso begeistert, wie Franziska vorgetragen hatte. Ich klatschte automatisch mit, bis der Chor wieder zu singen begann.

Manchmal hatte ich das Gefühl, die Mauer enge nicht Berlin ein, sondern mich. Ich hatte keinen Zugang mehr zu meinem alten Leben, fand aber auch keinen zu dem in der DDR.

Die Leiterin stand auf und kündigte einen weiteren Liedvortrag an. Ein etwa sechsjähriges Mädchen betrat das Podium und fing an zu singen, ganz ohne Begleitung. Eine zarte Melodie mit zarter Stimme.

Ich könnte mich doch auch hier verlieben, dachte ich. Ein Mädchen wie Heike müsste auch in diesem Teil der Stadt zu finden sein. Und nach einiger Zeit würden die Leute vergessen, dass ich je Grenzgänger gewesen war. Ich würde mit meinen Ostkollegen in Ostkneipen gehen – alles ganz normal –, schließlich war ich Ostler. Genau das hatte Paula angesprochen, und auch Heike war es gleich aufgefallen. Vielleicht hatte ich mir die ganze Zeit etwas vorgemacht und gehörte doch hierher. Auf Dauer konnte ich mich ja nicht nach etwas Unerreichbarem sehnen, damit machte ich mich nur unglücklich. Viel einfacher wäre es zu tun, was von mir verlangt wurde, zu denken, was man zu denken hatte, und auf etwas Erreichbares zu hoffen. Vielleicht wäre ich auf diese Weise irgendwann, so wie Franziska, davon überzeugt, dass genau das richtig für mich war.

Die Kleine bekam viel Beifall. Die Leiterin nahm sie kurz in den Arm und schickte sie dann an ihren Platz zurück.

Zum Abschluss erhoben sich alle FDJler von ihren Plätzen, riefen »Freundschaft!« und sagten dann den Schwur auf, der zum Aufruf der Partei gehörte: »Wir sind bereit und entschlossen, unsere sozialistische Republik, die friedliche Arbeit ihrer Bürger, das unbeschwerte Lachen der Kinder und die glückliche Zukunft der jungen Generation mit der Waffe in der Hand zu verteidigen. Jeder junge Bürger unserer Republik ein Bürge für ihre Sicherheit! Der Frieden muss bewaffnet sein!«

Könnte mein Leben nicht auch so aussehen? Im Osten, wo ich nun einmal verwurzelt war. Auch wenn hier nicht alles perfekt war … aber das war es im Westen ja auch nicht, oder?

Die Chormädchen, die Männer, die Leiterin und auch Franziska verschwanden durch die Tür, und schon redeten und riefen alle durcheinander. Mutter wollte auf Franziska warten, doch die sah offenbar keinen Anlass sich zu beeilen.

»Ich hole sie rasch«, bot ich an.

Mein höfliches Klopfen hörte keiner, darum öffnete ich die Tür einen Spalt und steckte den Kopf durch.

»Was wollen Sie?« Die Leiterin stand vor mir.

»Ich wollte nur fragen, ob meine Schwester fertig ist. Franziska Niemöller …«

Sie hatte noch einen weiteren Blusenknopf aufgemacht. Ich musste schlucken und hob rasch den Blick weg vom Busen zu ihrem Gesicht. »War ein schöner Abend«, sagte ich. »Sie haben sehr gut gesprochen. Ich wollte, ich könnte das auch.« Und als sie eine freundlichere Miene machte, fügte ich hinzu: »Sehr inspirierend.«

»Danke.« Sie hielt den Kopf ein wenig schräg. »Franziska hat auch Talent, eine gute Sprecherin zu werden. Ich habe ihr für den Vortrag ein paar Tipps gegeben.«

»Franziska bewundert Sie sehr.« Ich hatte keine Ahnung, ob meine Schwester je etwas dergleichen gesagt hatte.

»Ja, sie will auch synchronschwimmen, so wie ich.« Sie drehte eine Haarsträhne um den Zeigefinger.

»Synchronschwimmen! Ein faszinierender Sport! Davon hat sie noch gar nicht erzählt.«

Die junge Frau lächelte geschmeichelt.

»Wir trainieren jeden Donnerstagabend im Stadtbad Mitte«, sagte sie. »Vielleicht haben Sie ja Lust, mal zuzuschauen?« Bevor ich etwas antworten konnte, tauchte auch schon Franziska auf.

»Du hättest nicht auf mich zu warten brauchen«, sagte sie patzig und drängte sich an mir vorbei.

»Mutter wollte warten!«, rief ich ihr nach, sagte rasch »Auf ein andermal« zu der Leiterin und folgte meiner Schwester.

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