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DREI

Die Erinnerung an den Sonntag am See trug mich durch die Woche. An Paula versuchte ich nicht mehr zu denken. Zugegeben: Es war feige von mir, ihr auszuweichen, aber letztlich war ich ihr keine Rechenschaft schuldig, war sie es doch, die sich aufdrängte. Und was für Gefühle hegte ich für Heike? Hatte ich mich von der romantischen Stimmung hinreißen lassen, oder war da mehr im Spiel?

Walter stieß mich an, als wir unsere Kellen sauber machten. »Ich glaube, du hast Besuch.« Er grinste.

Am Bauzaun stand Heike. In einer kurzen Hose und einer weißen Bluse.

Ziemlich unsicher ging ich auf sie zu. Wie sollte ich sie begrüßen? Mit einem einfachen »Hallo«? Oder mit einem Kuss?

Sie nahm mir die Entscheidung ab, indem sie mich umarmte und auf den Mund küsste. Ich spürte Walters Blick im Rücken.

»Na du?«, sagte sie munter. »Fertig mit der Arbeit?«

Ich sah mich um. Walter machte mir ein Zeichen, dass ich gehen konnte.

»Ja, gerade eben.«

»Fein, dann mal los. Im City läuft ein klasse Film.« Sie nahm meine Hand.

Ich wechselte im Bauwagen schnell die Kleider und ließ mich nur zu gern mitziehen. Das City war eines der Grenzkinos mit ermäßigtem Eintritt für Ostberliner. Dort liefen amerikanische Streifen, die in der DDR nicht gezeigt wurden, und europäische Filme waren im City viel früher zu sehen als bei uns. Vorab kamen immer die Nachrichten der Woche, aus westlicher Sicht, versteht sich.

Mein Stolz ließ es nicht zu, den Ostpreis zu zahlen; ich holte mein Westgeld aus der Tasche und kaufte zwei Karten. Wie der Film hieß und wovon er handelte, hatte ich schon am Abend, als ich über die Grenze ging, vergessen. In deutlicher Erinnerung dagegen blieb mir, dass Heikes Arm die ganze Zeit den meinen berührt hatte. Haut an Haut.

Heike gegenüber hatte ich keinerlei Gefühl des Fremdseins. Es war viel eher so, als würden wir uns seit Jahren kennen und wären uns ebenso lange vertraut. Sie holte mich öfter von der Arbeit ab, und dann aßen wir zusammen in der Stadt oder gingen mit Walter und der Clique in die Kneipe. Ost-West-Politik war kein Thema zwischen ihr und mir, stattdessen sprachen wir über Filme, Musik und unsere Zukunftspläne. Ich stellte fest, dass wir in vielem übereinstimmten.

Heike arbeitete als Stenotypistin in der Bestellabteilung eines großen Möbelhauses. Sie erzählte mir von der grässlichen Kollegin am Schreibtisch gegenüber und von ihrem Chef, der dauernd anzügliche Scherze machte. Wenn sie merkte, dass ihre Geschichten mich amüsierten, vergaß sie den Ärger und brach selbst in Lachen aus. Und wir überlegten uns Dutzende Arten, wie man es dem Abteilungsleiter heimzahlen könnte.

Paula hatte mittlerweile einen anderen an der Angel und dachte nicht mehr an mich. Wenn sie mit ihm unterwegs war, ging ich abends mit Heike nach Hause, die dann für uns beide kochte. Irgendwann kam die unvermeidliche Frage: »Wann nimmst du mich mal mit in den Osten?«

Bisher hatten wir uns immer im Westen getroffen, und mir fiel wieder ein, dass sie beim Kennenlernen gesagt hatte, sie sei noch nie in Ostberlin gewesen.

VIER

Als Walter sein Kofferradio ausschaltete, wusste ich, dass die Arbeit für heute beendet war. Statt noch ein paar Worte zu reden wie sonst, ging ich rasch in den Bauwagen und zog mich um. Ich hatte meine Levi’s und ein weißes Hemd mitgenommen. Heike sollte von einem schick gekleideten Julian abgeholt werden. Dass ich in dieser Aufmachung jenseits der Grenze auffallen würde, war mir egal. Ich schlüpfte in meine feuerroten Westschuhe und packte die Arbeitskleidung und meine Sicherheitsschuhe in die Tasche. Walter, der dabei war, ein paar Sachen wegzuräumen, rief ich einen Gruß zu und machte mich auf den Weg. Die Sonne schien, und ich pfiff einen Song von Elvis, der vorhin im Radio gelaufen war.

Heike erwartete mich bereits an der Wohnungstür. Sie trug einen weiten Rock und ein kurzes Jäckchen, hatte die Haare hochgesteckt und Lippenstift aufgetragen – wie um groß auszugehen. Ein klein wenig ähnelte sie der jungen Marilyn Monroe.

»Bist du bereit für einen Besuch im sozialistischen Paradies?«

Einen Moment lang meinte ich, Zweifel in ihrem Blick zu erkennen, dann aber lächelte sie und hielt mir den Arm hin. Ich hakte sie unter wie ein echter Gentleman, und wir gingen zusammen die Treppe hinab.

Draußen ließ sie meinen Arm wieder los.

Wir nahmen einen anderen Grenzübergang, weil ich nicht wieder Wolfgang Wichser über den Weg laufen und mich vor Heike von ihm schikanieren lassen wollte.

Der Grenzer ließ sich unsere Ausweise zeigen, verglich die Fotos mit unseren Gesichtern und gab sie dann wortlos zurück.

»Tasche aufmachen!«, forderte er mich barsch auf.

Heikes Augen wurden groß, und sie holte tief Luft.

Lässig reichte ich dem Mann meine Tasche und summte dabei die Melodie, die mir noch immer durch den Kopf ging. Er sah mich irritiert an, zog den Reißverschluss auf, warf einen raschen Blick auf den Inhalt und machte die Tasche wieder zu. »In Ordnung. Weitergehen«, brummte er.

Als wir ein paar Meter von ihm entfernt waren, griff Heike nach meiner Hand. »Du, das war ein Elvis-Lied!«

Ich schritt zielbewusst aus. Am Morgen hatte ich mir genau überlegt, welche Strecke ich mit Heike gehen wollte.

Als Erstes sollte sie den Alexanderplatz sehen. Und danach noch so manches andere, von dem ich glaubte, es würde ihr Eindruck machen. Als sie aber neben mir durch die düsteren schmucklosen Straßen ging, die so ganz anders waren als jene im Westen mit ihren Leuchtreklamen, kamen mir Zweifel, und ich schämte mich für die heruntergekommenen Häuser, deren Putz von den Mauern bröckelte, und die unkrautüberwucherten Trümmerhaufen dazwischen. Die Kleider der Leute, die uns entgegenkamen, musste Heike als hoffnungslos altmodisch empfinden.

Wir kamen zum Gendarmenmarkt, und mit einem Mal sah ich den Platz mit ihren Augen. Den Französischen Dom mit seinen hohen Säulen und dem runden Turm hatte ich bisher immer als imposantes altes Bauwerk empfunden. Jetzt aber stach es mir viel mehr in die Augen, dass die Kuppel fehlte und das Dach des Nebengebäudes schadhaft war. Ich ließ die Schultern sinken. Was hatte ich Heike eigentlich zu bieten? Unsere wenigen Sehenswürdigkeiten nahmen sich mehr als bescheiden aus.

In den neueren Stadtteilen betrachtete sie scheinbar interessiert die Denkmäler von Stalin und anderen kommunistischen Führern und bewunderte pflichtmäßig die in sozialistischer Zeit entstandenen großen Wohnblocks. Über die Warteschlangen vor den Läden und deren leere Schaufenster verlor sie kein Wort und zuckte auch beim Anblick politischer Parolen auf Plakatwänden nicht mit der Wimper. Dennoch wurde ich das Gefühl nicht los, dass sie enttäuscht war. Darum schlug ich den Weg zum Park ein. Bäume, Rasen und Bänke waren schließlich in Ost und West gleich, unabhängig vom System.

Im Volkspark Friedrichshain atmete ich erleichtert auf. Dort schoben Mütter Kinderwagen vor sich her, spielten Jungen Fußball und saßen Mädchen kichernd im Gras. Die Fontänen des Märchenbrunnens spien Wasser empor und rundeten das harmonische Bild ab. Wir standen vor den Steinskulpturen am Beckenrand, die Märchenfiguren darstellten.

»Hast du ein Lieblingsmärchen, Julian?«, fragte Heike.

Darüber hatte ich noch nie nachgedacht. Heike dagegen schon. Sie schwärmte für Dornröschen. Ihre Großmutter, erzählte sie, habe auch ein Spinnrad besessen. So kamen wir von Märchen auf Großmütter, auf Winterabende im Advent mit Lebkuchenduft und andere Kindheitserinnerungen. Wir redeten und lachten, und darüber vergaß ich meinen gescheiterten Versuch, ihr zu beweisen, dass auch Ostberlin viel Schönes zu bieten habe.

Schließlich standen wir von unserer Parkbank auf, denn ich hatte zu Hause versprochen, Heike zum Abendessen mitzubringen. Mir passte das zwar nicht sonderlich, aber ich wollte Mutter nicht enttäuschen.

Dass Heike nervös war, merkte ich daran, dass sie auf der Treppe zu unserer Wohnung mehrmals ihren Rock glatt strich. Ich nickte ihr aufmunternd zu und hoffte, dass mein Vater nicht allzu schlecht gelaunt sein würde.

Wir waren keine fünf Minuten zu spät, trotzdem saß er bereits wartend am Tisch.

Heike begrüßte ihn höflich, er dagegen ließ nur ein Knurren hören. Mutter kam aus der Küche und wischte sich die Hände an der Schürze ab. Auch ihr war die Nervosität anzumerken.

Sie hatte sich mächtig ins Zeug gelegt und einen köstlichen Schmortopf gekocht. Heike lobte das Essen, und meine Mutter errötete – etwas, das ich noch nie an ihr gesehen hatte. Ansonsten verlief das Tischgespräch ziemlich gezwungen. Aber wenigstens sah mein Vater davon ab, Heike ins Kreuzverhör zu nehmen. Und meine kleine Schwester Franziska war nicht allzu vorlaut, jedenfalls nicht zu Anfang.

»Ich bin bei der Freien Deutschen Jugend«, legte sie bald darauf los. »Uns geht es darum, die Freundschaft mit der Sowjetunion zu vertiefen und alle Völker der Welt im Kampf gegen den Imperialismus zu unterstützen.«

Ich verdrehte die Augen, Heike jedoch lächelte, nickte und schien sich nicht an Franziskas belehrendem Tonfall zu stören. Fieberhaft suchte ich nach einem anderen Thema, doch mir wollte nichts einfallen. Über das Wetter hatten wir bereits geredet …

»Darf ich Ihnen noch einmal auftun?«, fragte meine Mutter Heike.

»Sehr gern, danke. Es schmeckt wunderbar«, sagte Heike freundlich. »Das Gericht erinnert mich an Irish Stew. Falls Sie mal nach Irland …« Sie brach ab.

Wie sollte meine Mutter je nach Irland kommen und dort Irish Stew essen?

»Wir waren im Volkspark«, versuchte ich, die peinliche Situation zu überspielen. »Ganz schön viele Leute dort.«

Heike pflichtete mir sofort bei: »Ja, und der Märchenbrunnen mit seinen Figuren ist eine Pracht.«

Meine Mutter nickte, dann herrschte Schweigen.

Ein bedrückendes Schweigen. Es war deutlich zu spüren, dass jeder, den Blick auf seinen Teller gerichtet, angestrengt überlegte, worüber man noch sprechen könnte.

Erst als alle satt waren und Mutter sich ans Tischabräumen machte, wurde die Stille durchbrochen, wenngleich nur von Geschirrklappern.

Dann klopfte es.

Ich stand auf und ging zur Wohnungstür.

Es war unsere Nachbarin Frau Schulze. Ihr Mann und ihre drei Söhne waren im Krieg umgekommen. Sie selbst hatte sich danach von einer überzeugten Nationalsozialistin zur ebenso überzeugten Kommunistin gewandelt, hörte den ganzen Tag DDR-Radio und ging abends in der Nachbarschaft herum, um allen das Neueste zu erzählen.

Noch ehe sie etwas sagen konnte, stand meine Entscheidung: Ich würde Heike sofort zur Grenze bringen. Dass Vater mir hinterher wegen des überstürzten Aufbruchs Vorhaltungen machen würde, war mir egal. Die Schulze sollte auf keinen Fall mitbekommen, dass ich eine Freundin im Westen hatte. Sie behandelte mich ohnehin schon wie Abschaum. Außerdem hatte ich Heike nicht hergebracht, damit sie sich in einem fort DDR-Propaganda anhören musste.

»Das junge Fräulein hat aber ausgefallene Kleider an«, hörte ich sie noch sagen, bevor ich die Wohnungstür hinter uns zuzog.

Wir gingen nicht gleich zur Grenze, sondern schlenderten noch eine Weile durch meinen Teil der Stadt, während in ihrem die Sonne unterging. Ich hatte nicht mehr den Drang, Heike irgendwelche Sehenswürdigkeiten zu zeigen, und sah die Umgebung auch nicht mehr mit ihren Augen, sondern genoss einfach unser Zusammensein. Ohne viel zu reden, gingen wir Hand in Hand.

Als Heike fröstelte, legte ich meinen Arm um sie, und als es dann noch kühler wurde, machten wir uns zur Grenze auf.

Dort verabschiedeten wir uns.

»Es war schön, Julian«, sagte Heike.

Ich zog die Augenbrauen hoch. Schön? Diese hässliche Stadt?

Die mühsame Unterhaltung bei Tisch? Franziskas Arroganz?

»Jetzt verstehe ich dich besser«, fügte sie hinzu.

Ich wollte protestieren, doch sie legte mir den Finger auf die Lippen.

»Ich weiß, dass du anders denkst als deine Schwester. Und dass du dich in der DDR nicht zu Hause fühlst, auch wenn sie dein Land ist. Es war mutig von dir, mir das alles zu zeigen. Es war … ehrlich. Danke dafür.«

Nach diesen Worten küsste sie mich leicht auf die Wange.

FÜNF

Als es klingelte, schielte ich mit einem Auge zum Wecker. Sie waren viel zu früh dran – typisch für meinen Schwager Hermann. Wir wollten doch erst um elf zu unserer Datsche ein Stück außerhalb der Stadt aufbrechen.

Stöhnend drehte ich mich um und zog mir die Decke über den Kopf, hörte aber trotzdem die schnellen Schritte von Marthe und Florian im Flur.

»Tag, Oma!«, rief Marthe. »Ich hab heut Geburtstag!«

Als wüsste das nicht jeder in der Familie.

Heike und ich waren gestern mit Marthe im Zoologischen Garten gewesen, quasi als verfrühtes Geburtstagsgeschenk. Dort hatte die Kleine zu allen möglichen Leuten »Morgen werde ich sooooo viel Jahre« gesagt und dabei vier Finger hochgehalten.

Die Wohnungstür schlug zu. Meine ältere Schwester Gudrun sagte etwas. Was, konnte ich nicht verstehen, aber ihre Stimme klang aufgeregt. Und auch Hermann sprach ungewöhnlich laut. Was war da los?

Als ich ins Wohnzimmer kam, saß Vater vor dem Radio. Mutter, Gudrun und Hermann standen neben ihm, lauschten angestrengt und starrten den Apparat an, als könnten sie ihm dadurch mehr Informationen entlocken. Weil die Nachrichten schon fast zu Ende waren, begriff ich nicht, worum es ging.

Vater stellte den amerikanischen Sender RIAS ein.

»… Senat und Bevölkerung von Berlin erwarten, dass die Westmächte energische Schritte bei der sowjetischen Regierung unternehmen werden«, tönte die Stimme des Westberliner Bürgermeisters Willy Brandt.

»Was ist los?«, fragte ich, und erst jetzt bemerkten die anderen mich.

»Sie machen die Grenze dicht.«

»Die Grenze dicht? Warum das?«

Gudrun zuckte mit den Schultern. »Keine Ahnung. Jedenfalls heißt es im Radio, dass sie Stacheldraht spannen und keinen mehr durchlassen.«

»Für wie lange?«

»Wer weiß das schon? Für immer?«

Wie konnte das sein? Gestern noch hatten wir zweimal die Grenze passiert, um in den Zoo zu gehen. Dabei war uns nichts aufgefallen; alles war wie immer gewesen.

»Ich seh mir das an!«, rief ich, bereits im Flur, um die Schuhe anzuziehen.

»Sei vorsichtig«, mahnte Mutter. »Wenn die Russen …«

Aber ich hörte schon nicht mehr hin.

Draußen rannte ich los. Es waren jede Menge Leute auf der Straße. Nicht das übliche Sonntagmorgenvolk, wie mir auffiel, als ich Männer in Hemdsärmeln überholte und Frauen, die ihre Babys auf dem Arm trugen, statt sie im Kinderwagen zu schieben. Man sah, dass sie in aller Eile vom Frühstückstisch aufgebrochen waren. Und die Aufregung war regelrecht zu spüren. Wie von einem riesigen Magneten angezogen, strebten alle in dieselbe Richtung: zur Grenze.

Was Gudrun gesagt hatte, wollte ich erst glauben, wenn ich es mit eigenen Augen sah. Die Grenze dicht machen, womöglich auf ganzer Länge – das war doch ein Unding! Das konnten sie einfach nicht machen! Berlin war eine Stadt, wenn auch in Ost und West geteilt.

Die Leute vor mir – inzwischen wahre Massen – bogen ab, folgten dem lauten Gehämmer. Und dann blieben plötzlich alle stehen. Ich drängte mich nach vorn, so gut es ging.

Gudrun hatte recht.

Unmittelbar vor der Kreuzung mit der Bernauer Straße rammten Bauarbeiter Betonpfähle in den Boden. Hinter ihnen lagen große Stacheldrahtrollen, das Ganze bewacht von Volkspolizisten mit Maschinenpistolen. Mit starrem Blick standen sie da, als würden sie uns gar nicht wahrnehmen.

Ich war wie versteinert, konnte keinen klaren Gedanken mehr fassen. Nur noch entgeistert hinschauen. Das Dröhnen der Presslufthämmer, mit denen die Straße aufgebrochen wurde, betäubte mich geradezu. Mir war, als sähe ich einen Film, nicht ein reales Geschehen.

Auch drüben, auf der Westberliner Seite, hatte sich eine Menschenmenge eingefunden. Die Leute standen ebenso regungslos da wie wir. Nur dass sie nicht von bewaffneten Polizisten in Schach gehalten wurden. Eine eisige Kälte befiel mich. Sie schlossen tatsächlich die Grenze, und zwar nicht nur für ein paar Stunden, wie das schon öfter der Fall gewesen war. Diesmal war es ernst, todernst.

Heike!, zuckte es mir durch den Kopf. Heike wollte doch mit uns zur Datsche! Meine Gedanken überschlugen sich. Wie spät war es? Wie lange waren die Bauarbeiter schon zugange? Hatte sie es noch geschafft, nach Ostberlin zu kommen? Vielleicht mit der U-Bahn? Gut möglich, dass die Bahnen noch fuhren … Ich musste schleunigst nach Hause, wahrscheinlich wartete sie dort auf mich. Kaum dass ich den Vopos den Rücken zukehrte, löste sich meine Starre, und das Blut pulsierte wieder. Ich rannte los, weg von der Grenze. Unterwegs hielt ich Ausschau nach Heike. Ich sah etliche blonde Mädchen, nicht aber sie.

Völlig außer Puste kam ich zu Hause an. Im Wohnzimmer saß mein Vater noch immer vor dem Radio. Florian und Marthe tobten herum. Mutter und Gudrun besprachen etwas, was nicht einfach war, weil die Kinder einen Höllenlärm machten.

Mein Kommen nahm keiner wahr.

»He! Hört mal zu!«, rief ich laut.

Erst da sahen sie mich.

»Ist Heike gekommen?«

Mutter schüttelte den Kopf. Ihre Miene wurde mitleidig, als ihr klar wurde, was das bedeutete.

»Ach, Julian …«, sagte sie leise.

Ich biss mir auf die Lippe. Vielleicht kam Heike ja noch. Bestimmt war sie auf dem Weg hierher.

»Onkel Julian, bist du fertig?« Florian zupfte mich am Ärmel.

»Wir wollen doch zur Datsche!«, ergänzte Marthe.

Ich ging nicht auf die beiden ein.

»Wir haben uns entschlossen, doch zu fahren«, sagte Gudrun leise. »Schon der Kinder wegen. Hier können wir ja nichts ausrichten.«

»Aber wenn Heike …«

»Ach, Julian …«, sagte meine Mutter wieder. »Die Grenze …«

»Ein bisschen warten können wir wohl noch!«, fiel ich ihr ins Wort.

Vater löste den Blick vom Radio. »Was habt ihr vor?«, fragte er wie geistesabwesend.

»Wir fahren zur Datsche«, sagte Gudrun. »Es hat keinen Sinn hierzubleiben. Wenn es zu Kämpfen kommt …«

Ich schüttelte entschieden den Kopf. Solange ich nicht wusste, was mit Heike war, konnte ich unmöglich mitgehen.

Franziska kam ins Zimmer, mit Sonnenbrille und einem grotesk großen Strohhut auf dem Kopf. »Gehen wir?«

»Heike ist noch nicht da!«, fuhr ich sie an.

»Die kann jetzt sowieso nicht mehr mit.« Sie reckte das Kinn in die Luft.

Gudrun legte mir die Hand auf den Arm. »Du verstehst doch, Julian, dass es sinnlos ist, hier herumzusitzen. Und wir wollen doch Marthes Geburtstag feiern. Die Kinder freuen sich so darauf.«

Ich nickte, ohne weiter hinzuhören. »Dann geht. Ich bleibe hier.«

Ich blieb mitten im Wohnzimmer stehen, und sie gingen an mir vorbei, ohne dass ich es so recht registrierte. Wie eine gestrandete Boje im ablaufenden Meerwasser kam ich mir vor.

»Aber mach keine Dummheiten«, sagte Mutter noch, bevor sie die Tür hinter sich zuzog.

Als ihre Schritte auf der Treppe verhallten, war es still in der Wohnung. Minutenlang stand ich da und lauschte auf die Türklingel. Aber da war nur ein Dröhnen in meinem Kopf, das Dröhnen der Presslufthämmer.

Ich schaute auf meine Armbanduhr. Heike hätte längst hier sein müssen. Vielleicht sollte ich noch einmal zur Grenze gehen. Womöglich stand sie inzwischen dort, auf der anderen Seite.

Es klopfte.

Ich rannte zur Tür und riss sie auf.

Es war mein älterer Bruder Rolf.

Enttäuscht ging ich wieder ins Wohnzimmer, und Rolf folgte mir. »Habt ihr es schon gehört?« Sein Gesicht war gerötet.

Ich nickte düster. »Die anderen sind zur Datsche gefahren.«

»Zur Datsche? Wo hier …« Rolf sah mich ungläubig an.

Ich zuckte mit den Schultern. »Gudrun wollte nicht in der Stadt sein, wenn ein neuer Krieg ausbricht.«

Rolf setzte sich auf die Sofakante. »Glaubst du auch, dass es Krieg geben wird?«

Wieder zuckte ich mit den Schultern. »Die Amerikaner werden nicht so einfach hinnehmen, dass Westberlin komplett abgeriegelt wird.«

»Die Russen sind darauf eingestellt«, meinte Rolf. »Ich hab auf dem Weg hierher ihre Lastwagen gesehen. Panzer nicht, aber sie behalten alles genauestens im Blick.«

Ich schluckte. Sollten sie wirklich wieder einen neuen Krieg anzetteln? So kurz nach dem letzten?

»Machen sie die Grenze denn auf der ganzen Länge dicht?«, fragte ich.

Jetzt war es an Rolf, mit den Schultern zu zucken. »Ich weiß nur, was ich im Radio gehört habe.« Er seufzte. »Die Partei will uns im Osten halten. Mit Stacheldraht …«

»Ich gehe zur Grenze«, sagte ich. Hier herumzusitzen und zu grübeln, ob es Krieg gab oder nicht, brachte uns nicht weiter. »Kommst du mit?«

»Nein, ich …«

Ich wartete Rolfs Antwort nicht ab. »Meine Freundin Heike wollte mit uns zur Datsche. Vielleicht ist sie gerade noch rübergekommen.«

»Wohl eher nicht. Aber wenn du auf Nummer sicher gehen willst, dann häng einen Zettel an die Tür.«

An diese Möglichkeit hatte ich überhaupt nicht gedacht.

Liebste Heike,

bin in der Stadt. Warte bitte hier auf mich.

Die anderen sind zur Datsche gefahren. Bin bald wieder da.

Gruß

J

Ich klebte den Zettel an die Wohnungstür. Dann ging ich zum zweiten Mal an diesem Tag die Treppe hinunter, holte mein Fahrrad aus dem Keller und fuhr in Richtung Westen. Wenn die Amerikaner etwas gegen die Grenzschließung unternehmen würden, dann bestimmt am Brandenburger Tor.

Vor acht Jahren war es zu einem Aufstand gekommen. Ein Bauarbeiterstreik hatte sich zu einer umfassenden Protestbewegung ausgeweitet. Die Russen hatten mit Panzern dagegengehalten. Und die Vopos hatten die Demonstranten unter Beschuss genommen. Ob es heute wieder so sein würde?

Ich trat kräftiger in die Pedale. Mir fiel auf, dass jetzt noch viel mehr Leute auf der Straße waren. Und auch mehr Polizei. Ein Lastwagen mit Soldaten überholte mich.

Am Pariser Platz angekommen, sah ich, dass von einem Aufstand nicht die Rede sein konnte. Ganz im Gegenteil: Es herrschte Grabesstille. Die Vopos bildeten mit gezückten Waffen eine undurchdringliche Reihe vor den Stacheldrahtrollen. Jenseits des Brandenburger Tors drängten sich jede Menge Westler und verfolgten das Geschehen mit unverhohlener Neugier. Auf sie waren keine Waffen gerichtet, nur ein paar Polizisten standen dort herum, mit den Händen in den Taschen. Auf unserer Seite waren inzwischen nicht nur Wasserwerfer, sondern auch Panzer aufgefahren worden. Eine überflüssige Maßnahme, wie es schien, denn keiner traute sich an die Grenze heran.

Wo blieben die Amis? Wo ihre Bulldozer, um den Stacheldrahtverhau platt zu walzen?

Die Hand am Fahrradlenker, ging ich an der Grenze entlang. Ein Stück weiter sah ich Leute aufgeregt miteinander reden. Ich steuerte auf sie zu, vielleicht wussten sie ja mehr.

Plötzlich kam Bewegung in die Menge der Westberliner auf der anderen Seite.

»Kommt rüber!« Ein paar von ihnen gestikulierten heftig, andere begannen, am Stacheldraht zu zerren. »Los, wir reißen den Zaun ein!« Und ehe ich mich’s versah, hatten auch schon drei Ostler die Barriere überwunden.

Sollte ich auch … in meinem Kopf überschlugen sich die Gedanken. Einfach das Rad hinwerfen und rüber … in den Westen, zu Heike? Alles zurücklassen? Ich hatte nichts bei mir, würde auch nicht Abschied nehmen können.

Aber da war die Gelegenheit schon vorbei. Die Grenzwächter hatten Verstärkung herbeigerufen und Bauarbeiter, die den Stacheldraht wieder richteten. Zwei Vopos postierten sich davor, die Waffe im Anschlag, um uns auf Abstand zu halten.

»Manfred!« Eine Frau neben mir rannte auf die Grenze zu. Ein Mann – ihr Liebster? – auf der anderen Seite setzte sich ebenfalls in Bewegung, wurde aber von Westberlinern zurückgehalten, die auf ihn einredeten, um ihn von der Rückkehr abzubringen.

»Manfred, ich komme auch!« Die Frau hatte den Stacheldraht erreicht und wollte darüberklettern, blieb aber mit der Jacke hängen. Sie wurde von den Vopos gepackt und, erbärmlich schluchzend, weggeschleift. Niemand unternahm etwas dagegen. Mir wurde innerlich eiskalt. Man hatte nicht nur mitten durch meine Stadt Stacheldraht gezogen, sondern auch mitten durch mein Leben. Schon jetzt hatte ich das Gefühl, mir die Hände daran aufgerissen zu haben. Benommen ging ich weiter.

Überall das gleiche Bild. Schweigende Menschen beiderseits der Grenze, die einander so ungläubig anstarrten, als wären sie gerade aus einem tausendjährigen Schlaf erwacht. Vopos mit unbewegten Mienen. Und dazu der Lärm der Bautrupps.

Als ein britischer Jeep mit drei Soldaten auftauchte, hielten alle den Atem an. Aber sie fuhren nicht einmal bis an die Grenze heran, sondern sahen sich nur um, zuckten mit den Schultern und verschwanden wieder. Ihr Interesse an unserer Lage schien nicht sonderlich groß zu sein.

Widerstand leisteten einzig eine Handvoll westdeutsche Jungs um die siebzehn in schwarzen Lederjacken und mit Schmalztollen. Sie kamen auf ihren Mopeds angebraust, beschimpften die Vopos und warfen Steine auf eine Gruppe Männer mit Parteiabzeichen am Revers. Aber ehe die Situation eskalieren konnte, wurden sie von westdeutschen Polizisten zurückgedrängt: »Keine Provokationen!«

Ich wollte mich abwenden und gehen, brachte es aber nicht fertig. So wie Unfallzeugen eigentlich nicht sehen wollen, was passiert ist, sich aber auch nicht von dem schrecklichen Anblick losreißen können.

An der Kreuzung Friedrichstraße / Unter den Linden hatte sich ein Menschenauflauf gebildet. Neugierig ging ich hin. Mehrere junge Leute standen auf Obstkisten, einer von ihnen hatte ein Megafon am Mund: »Ist das unser Staat, der den Frieden wahren will? Frieden kann man nicht mit Panzern verteidigen! Alle Bürger haben das Recht auf Freiheit! Macht die Grenze wieder auf! Berlin ist eine Stadt!«

Zwei, drei Männer mit versteinerten Mienen versuchten, die Menge zu zerstreuen und Neuankömmlinge daran zu hindern, sich zu der Gruppe zu stellen. »Weitergehen, weitergehen!«, zischten sie.

Die Leute machten ängstliche Gesichter, wussten sie doch, dass die Männer von der Staatssicherheit waren, und mit denen wollte keiner Schwierigkeiten.

Ich ging, wie sie, weiter. Auch andernorts war der Widerstand eher verhalten und spielte sich hauptsächlich jenseits der Grenze ab. Vom Westen aus rief man Schimpfwörter und skandierte Parolen. Die Vopos ließen sich davon nicht beeindrucken, standen mit regungslosen Gesichtern und Maschinengewehren im Anschlag da. Sie behielten uns Ostler scharf im Auge und bedrohten alle, die der Grenze zu nahe kamen, mit der Waffe. Die Leute standen in kleinen Gruppen beisammen, machten besorgte Mienen, ereiferten sich flüsternd, unternahmen aber nichts – absolut nichts.

Und von den Alliierten kam die ganze Zeit über keine Reaktion. Sie ließen uns im Stich, ließen zu, dass die Partei uns einsperrte. Weil sie keinen neuerlichen Krieg riskieren wollten. Unsere Freiheit kümmerte sie einen Dreck.

Zu Hause angekommen, sah ich, dass der Zettel noch an der Tür hing. Ich riss ihn ab und zerknüllte ihn.

In der Wohnung war niemand.

Erst jetzt merkte ich, wie müde ich war. Ich setzte mich aufs Sofa, schloss die Augen und massierte mir die Schläfen. Mein Kopf war so übervoll mit Bildern, dass kein weiterer Gedanke mehr darin Platz hatte.

Schließlich stand ich auf und begann schon auf dem Flur, mich auszuziehen. Es war noch hell draußen, darum zog ich den Vorhang zu und legte mich dann in Unterwäsche aufs Bett.

Als meine Eltern und Franziska wiederkamen, schlief ich längst.

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9783825161958
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