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Читать книгу: «Der böse Trieb», страница 3

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»Herr Rabbiner«, übernahm Unmüßig wieder, und der Respekt in seiner Stimme klang irgendwie schmierig. »Wir ermitteln in alle Richtungen. Aber bevor wir es dazu kommen lassen, dass die Weltpresse den Blumenacker in Inzlingen belagert, arbeiten wir mit Wahrscheinlichkeiten. In der Pressemitteilung über den Mord haben wir erklärt, dass ungeachtet der Zugehörigkeit des Toten zum Judentum ein antisemitisches Motiv kaum in Betracht kommt, sondern im privaten Umfeld ermittelt wird. Das hat mir vom Landeskriminalamt einen kräftigen Rüffel eingebracht, weil es angeblich Tatsachen vorwegnimmt, die überhaupt nicht gesichert seien. Aber genau deshalb will ich, dass wir hier in Lörrach diesen Fall bearbeiten. Denen in Freiburg oder gar in Stuttgart ist es egal, wenn unsere Stadt plötzlich in Israel und den USA als Nazi- oder Islamistennest präsentiert wird, ohne dass es dafür auch nur irgendeinen Hinweis gibt. Solcher Druck verkompliziert nur die Ermittlungen, und die sind schon schwierig genug. Aber«, sagte er unvermittelt, »zurück zu Frau Ehrenreich. Wie Sie wissen, war sie verreist, als der Mord geschah.«

»Ja«, sagte Klein. »Genau deshalb verstehe ich nicht, warum Sie dauernd nur von ihr sprechen.«

»Sie wissen womöglich auch, wo sie war.«

»Vietnam, sagte sie mir.«

»Sie sind wirklich ausgezeichnet informiert, Herr Rabbiner.«

Wieder ein geräuschvoller Schluck aus der dampfenden Tasse.

»Womöglich wissen Sie auch, warum sie nach Vietnam gefahren ist.«

»Nein. Keine Ahnung. Ehrlich.«

Warum hatte er »ehrlich« gesagt?, fragte er sich im selben Moment. Fühlte er sich schon so in die Ecke gedrängt, dass er Angst hatte davor, man würde ihm nicht glauben, wenn er etwas verneinte?

»Sie haben sie nicht gefragt?«

»Ich bin schließlich nicht die Polizei. Ich fuhr zwei Tage nach ihrer Rückkehr zu ihr, um ihr etwas seelsorgerlichen Halt zu geben, nicht um sie auszufragen.«

»Nachvollziehbar«, sagte Anke Frowein, und ihr Chef nickte bedeutungsschwer.

Es herrschte ein Moment Schweigen.

»Ja, und warum ist sie hingefahren?«, fragte nun Klein ungeduldig.

»Fragen Sie sie«, sagte Unmüßig.

Klein war stinksauer, aber er spürte eine starke Hemmung, sich weiter mit Unmüßig anzulegen.

»Das Einzige, was ich weiß, ist, dass sie früher als geplant zurückkam.«

Unmüßig rutschte ruckartig auf seinem Stuhl nach vorne und stützte die Ellbogen auf den Tisch.

»Das ist interessant. Das wissen Sie also. Wissen Sie auch, wie viel früher?«

»Nein. Sie sagte, sie sei etwas früher als geplant zurückgekommen. Aber nicht, wann sie die Rückkehr ursprünglich geplant hatte.«

»Auch gut.«

»Was heißt, auch gut? Das alles klingt für mich danach, dass Sie da einen monströsen Verdacht gegen Sonja Ehrenreich aufbauen, ohne auch nur im Geringsten Anhaltspunkte dafür zu benennen.«

»Ein Verdacht ist nie monströs. Monströs ist allenfalls die Tat«, erklärte Unmüßig in belehrendem Ton und lehnte sich wieder in seinem Stuhl zurück. »Wir bauen auch gar nichts auf. Aber es gibt Ungereimtheiten, Unklarheiten. Wir werden dafür bezahlt, ihnen nachzugehen. Und dass wir nicht alle unsere Erkenntnisse mit Ihnen teilen, das muss ich Sie freundlich bitten zu akzeptieren.«

»Aber Sie können sich doch nicht im Ernst vorstellen, dass jemand wie Frau Ehrenreich mit einer Pistole nach Hause kommt und ihren Mann niederstreckt. Bleiben da nicht überhaupt Partikel auf der Haut, wenn jemand geschossen hat? Das müsste man doch als Erstes untersuchen.«

»Sie meinen Schmauchspuren. Glauben Sie, das LKA hätte daran nicht gedacht? Aber wie Sie vielleicht wissen, trägt Frau Ehrenreich seit Jahren durchgehend Handschuhe, zu Hause, bei der Arbeit, überall. Und lange Ärmel. Angeblich eine Kontaktallergie oder so was. Jedenfalls, Handschuhe lassen sich, im Gegensatz zur Haut, leicht entsorgen. Und glauben Sie mir: Jeder, absolut jeder ist in bestimmten Situationen zu so etwas fähig. Aber wenn Sie jetzt meinen, dass vielleicht eine Verhaftung von Frau Ehrenreich kurz bevorstünde, dann irren Sie sich. Es gibt eben … Ungereimtheiten. Und wir haben gedacht, vielleicht können Sie uns da ein bisschen weiterhelfen.«

»Was offenbar nicht der Fall war«, sagte Klein gereizt.

»Noch nicht«, sagte Unmüßig. »Aber wir würden Sie gerne bitten, künftig ein bisschen genauer hinzuhören, wenn Sie mit Frau Ehrenreich zu tun haben. Da Sie nun wissen, dass es Ungereimtheiten gibt, und Frau Ehrenreich vermutlich indirekt darauf ansprechen werden, fallen Ihnen vielleicht Dinge auf, die uns noch nicht aufgefallen sind.«

»Ich soll Frau Ehrenreich aushorchen?«

»Wieso aushorchen? Sie sollen darauf achten, falls sich das aus den Gesprächen mit ihr ergibt, ob die Ungereimtheiten sich verdichten. Und uns das melden. Wir haben den gesetzlichen Auftrag, Viktor Ehrenreichs Ermordung aufzuklären. Das ist doch unser aller Ziel und Aufgabe, nicht wahr?«

Unmüßig griff in eine Schublade und schob eine Visitenkarte über den Tisch. Klein steckte sie zögernd ein.

Sofort änderte Unmüßig wieder den Ton, wurde leutselig wie vor Beginn des Gesprächs und begann einen ziemlich langen Sermon darüber, welcher Kampf es gewesen sei, denen da in Freiburg Paroli zu bieten und in dieser Mordsache nicht von den Technofuzzis in der Zentrale, sondern hier vor Ort, natürlich mit der notwendigen Unterstützung aus dem Hauptquartier, ermitteln zu lassen. Das sei wohl vor seiner Pensionierung noch die letzte große Kiste, und er werde alles tun, um es denen zu zeigen, den Großkopfeten, die sie hier in Lörrach zu Bußzettelverteilern degradieren wollten. Man würde dem Landeskriminalamt schon noch zeigen, dass Kenntnis von Ort und Leuten mindestens so wichtig seien wie irgendwelche hypermodernen Laboratorien. Natürlich, die nähmen sie auch in Anspruch, aber alles in Maßen. Er habe in Freiburg hingegen schon Verhören beigewohnt, dass sich Gott erbarme …

»Herr Unmüßig, ich muss«, sagte Klein und tippte leicht auf seine Uhr.

»Oh natürlich, ich halte Sie schon viel zu lange auf. Tut mir übrigens wirklich leid, dass ich Ihnen die Rückfahrt im Jaguar Ihres Bekannten vermasselt habe. Frau Frowein bringt Sie zum Lift. Und auch wenn es selbstverständlich ist: Über den Inhalt dieses Gesprächs bewahren Sie bitte unbedingt Stillschweigen.«

Klein wollte sagen, er finde allein hinaus, rückte aber davon ab, da er das Gefühl hatte, Frau Frowein damit zu beleidigen.

»So, diesmal schaff ich’s«, sagte sie denn auch, bevor er in den Lift trat, und streckte ihm mit einiger Anstrengung ihre Hand entgegen.

Weil unser Land so voller Reichtümer ist, sind wir so arm.

Wer hat das gesagt?

Jemand, den ich im Kongo kennengelernt habe. Einer, der zu kämpfen versucht. Vor allem für die Kinder.

Man hört viel Schlimmes von dort.

Ja, aber da ist viel Schwarz-Weiß-Malerei. Ausbeuter und Ausgebeutete. So einfach ist es nicht. Die Kernaussage stimmt trotzdem: Die Leute sind arm, weil das Land reich ist.

Und dieses Gesundheitszentrum, wie funktioniert das?

Das hat Anschel Fink gegründet. Oder sagen wir zumindest initiiert. Sie wissen wahrscheinlich, dass seine Kanzlei eng mit der Gaia Group in Zug verbunden ist.

Also agiert er mitten im Reich der Rohstoffe.

Ja, das Unternehmen ist dort schon sehr präsent. Natürlich noch viele andere, Chinesen vor allem. Aber dennoch, Gaia ist ein Faktor in dieser Gegend von Katanga.

Katanga sagt mir nichts.

Ist ja auch egal. Da liegen die größten Rohstoffvorkommen. Anschel war einige Male dort, er sah, wie dort gearbeitet und gelebt wird, und er hat mir gesagt, dass er sich kaum mehr heimgetraut hat, so nahe ging ihm das. Er hat sich überlegt, wie man am effektivsten die Bedingungen verbessern kann, ohne die Leute zu entmündigen oder ihnen die Basis ihrer Existenz zu entziehen, die nun mal Rohstoffe sind. Also kam er zum Schluss, der Gaia den Bau eines Gesundheitszentrums vorzuschlagen. Wer für die Gaia oder einen ihrer Subunternehmer arbeitet, bekommt eine Magnetkarte, mit der er das Zentrum aufsuchen kann. Und dort kann er für einen symbolischen Betrag alle Standardleistungen beziehen. Nicht grade Operationen am offenen Herzen oder Hirnchirurgie, aber einfachere Eingriffe schon. Und eben auch Zahnmedizin.

Und das sind alles Leute wie Sie, die da ein paar Wochen im Jahr dafür hergeben?

Viele gehen da länger hin. Jüngere Ärzte vor allem. Für ein paar Jahre. Viele Europäer.

Klingt wie Médecins sans frontières mit besserem Lohn.

Die Infrastruktur ist ausgezeichnet, die Löhne halt ans Landesniveau angepasst. Die werden vom Staat bezahlt. Sie brauchen die Ergänzung durch Ehrenamtliche wie mich. Eigentlich wollten sie einheimische junge Ärzte, und Gaia hat einigen die Ausbildung in Belgien bezahlt, aber die sind wenn immer möglich in Europa geblieben, nachdem sie ausgebildet waren. Jetzt zahlt die Firma keine Ausbildungen mehr. Dafür haben sie auch kaum mehr Chancen auf inländische Kräfte.

Entwicklungshilfe ist immer kompliziert.

Ich sehe es nicht als Entwicklungshilfe. Es ist Gesundheitsversorgung für Mitarbeiter. Die sonst keine hätten.

Hat es Ihr Leben verändert, dort mitzumachen?

Ja. Es hat mein Leben verändert.

4

Als Klein seiner Frau berichtete, er habe nach der Beerdigung noch einen Termin im Polizeirevier gehabt, fragte Rivka diskret nach. Ob es eine Spur gebe. Ob er denen etwas Neues habe sagen können. Er verneinte beides, sie sah ihn an wie jemand, der Gedanken liest, und sprach von etwas anderem.

Klein wusste nicht, wie er es anstellen sollte, Sonja über ihren Aufenthalt in Vietnam zu befragen, und noch rätselhafter war ihm, wie er etwas über ihre frühzeitige Rückkehr herausfinden sollte. Er war in keinem Fall bereit, sie bei der Polizei anzuschwärzen. Hätte er Unmüßigs Karte nicht eingesteckt, dann hätte das die Polizisten nur misstrauisch gemacht. Immer wieder verdrängte Klein die Vorstellung, Sonja könnte tatsächlich etwas mit dem Tod ihres Mannes zu tun haben. Alles sprach doch dagegen. Trotzdem begann er jede ihrer Regungen und Bemerkungen zu Viktors Tod zu hinterfragen. Gespielte Trauer an jenem Abend bei ihr zu Hause? Die Arroganz der unentdeckten Täterin zu Beginn des Begräbnisses? Anfälle von schlechtem Gewissen, die sie nach der Beerdigung zusammenbrechen ließen? Alles bekam ein anderes Gesicht, wenn man sich auf Unmüßigs »Ungereimtheiten« einließ.

Doch in den nächsten Tagen verschwand Viktor Ehrenreichs Tod vorübergehend aus Kleins Horizont. Der Grund waren verfaulte Etrog-Früchte. Mit dem Neujahrsfest Rosch Haschana rückte auch das zwei Wochen später beginnende Sukkot, das Laubhüttenfest, näher. Für das Aufstellen der Laubhütte ließen sich manche Juden – sofern sie einen Garten oder einen unbedeckten Balkon besaßen – aufwendige Sonderanfertigungen schreinern, deren jährliches Wiederaufstellen allein zwei bis drei Fachleute einen Tag lang beschäftigte, während andere sich mit einfachen Anfertigungen aus Metallstangen mit darum gespannten Tüchern und penibel angepasstem Bambusdach behalfen, die man günstig im Internet bestellen konnte. Doch nicht nur die Laubhütten prägten das sieben Tage lange Fest, sondern auch die Feststräuße, bestehend aus den Arba Minim, den sogenannten vier Arten, deren sichtbarste ein Palmzweig, der sogenannte Lulaw, und deren bei Weitem teuerste der Etrog, die prächtige, wohlriechende Zedrat-Zitrone war. Wenn jeweils kurz vor Sukkot die vier Arten in einem jüdischen Gemeindezentrum verkauft wurden, sah man die fast durchwegs männliche Kundschaft mit Kennerblick den Lulaw auf die Dichte seiner Blätter prüfen, vor allem aber wurden die Etrogim mit Lupen auf das kleinste Fleckchen untersucht, denn es galt als besonders schöne Erfüllung des Gebots, einen makellosen Etrog zu erwerben, der entsprechend auch einer besonderen Preisklasse angehörte.

Und nun dies: Die Schiffsladung mit den den für die Schweiz bestimmten Etrogim war aufgrund schlechter Lagerung fast vollständig verfault. Natürlich war die Ware versichert, aber eben nur zu ihrem Wert, und nicht zum Wert der Mehrkosten, die nun entstanden, wenn man die teuren Früchte kurzfristig zu gestiegenem Marktwert erstehen musste. Zudem waren nun schnellere und teurere Transportwege notwendig, um die Früchte noch rechtzeitig, also vor dem Sukkotfest, auf den Markt zu bringen. »Etrogim nach Sukkot« waren im Judentum der sprichwörtliche Inbegriff eines Gegenstands, der jeden Wert verloren hatte. Doch als in die jüdische Öffentlichkeit durchsickerte, die Etrog-Früchte würden dieses Jahr aufgrund eines Lieferproblems (so genau wusste kaum jemand, worin es bestand) womöglich das Doppelte kosten, vielleicht bis zu hundert Franken für das einfachste, leicht stockfleckige Exemplar, ging ein Sturm der Entrüstung los. Jahrelang aufgestaute Aggressionen gegen die Importeure, Krugmann und Companie, brachen sich Bahn: Man zahle hier schon seit jeher viermal so viel wie in Israel, immer noch mindestens doppelt so viel wie in Frankreich, und nun werde sich dieser Preis nochmals erhöhen. Es wurde auf ärmere orthodoxe Familien mit vielen Kindern verwiesen, die sich kaum mehr die Arba Minim leisten können würden, in der Cultusgemeinde begannen immer mehr Leute zu erklären, dieses Jahr werde es halt ohne Arba Minim gehen müssen (denn wenn eine der Arten fehlte, konnte man die anderen auch gleich weglassen, so etwas wie drei Arten gab es nicht). Plötzlich waren Preispolitik, Monopol und Abzocke das alles überragende Thema, das teure Fleisch, die teuren koscheren Milchprodukte, alles stand auf dem Prüfstand, es fühlte sich nach einem gigantischen Aufstand der religiöseren Schweizer Judenheit gegen die Lebenskosten an, es drohten Kaufboykotte, massenhafte Ausweichmanöver in Koschermärkte des benachbarten Auslands, bei manchen sogar eine Lockerung der Befolgung der Rituale überhaupt.

In dieser schwierigen Lage meldeten sich die Gemeinden zu Wort und boten an, die Preisdifferenz bei den Arba Minim zugunsten der Konsumenten ausnahmsweise mit Eigenmitteln auszugleichen. Dabei wäre es wohl geblieben, hätte nicht der gefürchtetste Querulant des Schweizer Judentums, der Anwalt Sven Kahane aus La Chaux-de-Fonds, einen Brandartikel in der Jüdischen Woche platziert, in dem er die Gemeindeoberen zu Bütteln einer Preismafia erklärte, die sich auf Kosten der Steuergelder ihrer Mitglieder Ruhe erkaufen wollten. Kahane endete mit den Worten: »Dieses Jahr wird als dasjenige in Erinnerung bleiben, in dem die verfaulten Etrogim die verfaulten Strukturen unserer altehrwürdigen Gemeinden ans Tageslicht gebracht haben.« Nun brodelte es erst recht, zwischen Befürwortern und Gegnern der Etrog-Subvention gingen jahrzehntelange Freundschaften in die Brüche.

Klein wusste, dass eine rasche Lösung des Etrog-Problems für das Schweizer Judentum existenziell war. Er tat, was er sonst lieber anderen überließ, und berief eine dringliche Sitzung der Schweizer Rabbiner ein. Es wurde beschlossen, eine Delegation nach Israel zu schicken, die sich nach billigeren Lösungen erkundigen sollte. Die Gruppe bestand aus Klein selbst, dem neuen Basler Rabbiner Itamar Diamant, der in Israel bestens vernetzt war, und Rabbiner Goldfarb von der streng orthodoxen Gemeinde Zürichs, damit auch ja keiner behaupten könnte, die Etrogim erfüllten irgendeine religiöse Vorgabe nicht.

Die Reise endete im Fiasko. Als Krugmann und Companie davon erfuhren, wandten sie sich mit einem Brief an den Israelitischen Gemeindebund. Darin machte der Importeur unmissverständlich klar, dass er erstens nicht gedenke, die drei zusätzlichen Arten des Sukkot-Feststraußes anzubieten, wenn die Rabbiner tatsächlich eine alternative Etrog-Bestellung aufgäben. Zweitens werde er die Gemeinden, die offenbar das Vorgehen der Rabbiner deckten und für deren Etrogim hätten in Vorlage treten müssen, beim Gericht der Europäischen Rabbinerkonferenz verklagen. Jedermann in den Gemeinden verstand, was diese Klage bedeutete. Das rabbinische Gericht sollte intervenieren, um eine Zivilklage vor einem Schweizer Gericht zu verhindern. Ob eine solche Klage auch nur die mindeste Aussicht auf Erfolg gehabt hätte, interessierte niemanden. Nur die Vorstellung, dass sich Gerichte mit einem Streit zwischen einem Etrogim-Importeur und jüdischen Gemeinden beschäftigen sollten, dass interne Streitereien nach außen und im schlimmsten Fall an ein Schweizer Zivilgericht getragen werden könnten, versetzte die Gemeindeleitungen in äußersten Aufruhr. Die Folge war, dass Klein am dritten Tag des Aufenthalts der drei Rabbiner, just nachdem sie sich mit einem kleinen Kibbuz, der einen Teil seiner Etrogim selbst lagerte und vertrieb, auf faire Bedingungen geeinigt hatten, einen Anruf von Tobias Salomon erhielt, der ihn anwies, den ganzen Handel sofort zu stoppen.

»Herr Salomon, das kommt nun doch etwas überraschend. Wir haben heute Morgen mit einem Lieferanten abgeschlossen.«

»Das ist ungeschickt, Herr Rabbiner, sehr ungeschickt. Wissen Sie, niemand weiß Ihren Einsatz für unsere Gemeinde, ja für das Schweizer Judentum insgesamt mehr zu schätzen als ich, aber das war nun doch etwas … sagen wir, ungestüm. Sie müssen aus der Nummer raus, so rasch wie möglich.«

»Aber können Sie mir den Grund verraten? Die Gemeinden haben uns doch bei dieser Reise unterstützt.«

»Wir haben die Strategie geändert. Die Gemeinden werden nun doch die Preisdifferenz zugunsten der Kunden übernehmen.«

»Aber Sie haben schon noch den offenen Brief von Sven Kahane im Ohr.«

»Ich bitte Sie, Herr Rabbiner. Seit wann diktiert uns Sven Kahane die Agenda?«

»Dann lassen wir schon lieber Krugmann und Companie diktieren, nicht wahr?«

Statt als strahlende Helden des Schweizer Judentums kamen die drei Rabbiner wie begossene Pudel aus Israel zurück. Für Klein hatte die Reise immerhin den Ertrag gehabt, dass er einen Abend mit Dafna hatte verbringen können. Das Abendessen, zu dem er sie in ein Restaurant eingeladen hatte, verschlang sie in einer Gier, die er bei ihr nicht kannte, und darauf angesprochen, dass sie wohl abgenommen hätte, meinte sie, ihre Freundinnen in derselben Institution hätten sämtlich zugenommen, weil sie sich nur noch von Bissli und Bamba ernährten, so ungenießbar sei dort das Essen. Dennoch machte Dafna einen sehr glücklichen Eindruck, und sie schickten Rivka das obligate gemeinsame Selfie.

Der andere Lichtblick dieser ansonsten desaströsen Reise waren die Kontakte zu den beiden Rabbinerkollegen gewesen. Goldfarb, den Klein in Zürich nur todernst und immer etwas gehetzt erlebt hatte, war, wie sich in den unvermeidlichen israelischen Autobahnstaus erwies, eine unerschöpfliche Quelle und ein begnadeter Erzähler jüdischer Witze. Und Itamar Diamant erwies sich als besonders angenehmer Zeitgenosse, der seine Aufgabe in der fast bankrotten, schrumpfenden Basler Gemeinde mit Enthusiasmus und Zuversicht angetreten hatte. Nachdem sich der frühere, allseits beliebte Basler Rabbiner Bezalel Sommer, den Klein sehr gemocht hatte, von seinem Burnout nie mehr richtig erholt und schließlich die Stelle aufgegeben hatte, waren viele skeptisch gewesen, wie Diamant, der kaum die Sprache beherrschte, sich in diesem schwierigen Umfeld bewähren würde. Doch er lernte schnell, sowohl was die deutsche Sprache als auch was die Mentalität anging.

Nach Salomons Anruf waren alle drei geknickt, Rabbiner Goldfarb suchte in seinem Tel Aviver Hotelzimmer Trost darin, sich in eine schwierige Talmudstelle zu vertiefen, die ihn schon lange umtrieb, und Klein und Diamant beschlossen, sich noch ein wenig die Füße zu vertreten. Sie gingen zur Promenade am alten Hafen, wo sich ein kleines Zentrum aus touristischen Läden und Restaurants gebildet hatte, und tranken auf der Kaimauer sitzend ein Bier, die Beine über den groben Steinen baumeln lassend, an denen das Meer leckte.

Klein war müde, der Frust der vergeblichen Anstrengungen der letzten Tage, der Brüskierung durch Tobias Salomon und des sehr peinlichen Widerrufs des Vertrags mit dem Kibbuz mischte sich mit dem Alkoholdunst, den das kühle, aber etwas fade Goldstar-Bier in seinem Kopf verbreitete.

»Was ich dich die ganze Zeit über fragen wollte«, sagte da unvermittelt Diamant, »du hast diesen Zahnarzt gekannt, der da in Inzlingen ermordet worden ist, nicht wahr? Ehrenreich. Er hat mir mal von dir erzählt.«

»Ja«, antwortete Klein, halb abwesend. »Ich habe auch seinen Hesped gehalten. Bei welcher Gelegenheit hat er denn von mir gesprochen?«

»Er ist ein paar Mal an Werktagen nach Basel in den Gottesdienst gekommen und hat sich mir vorgestellt. Da haben wir uns etwas unterhalten. Verrückte Geschichte, oder?«

»Erschütternd.«

Klein trank seine Flasche aus und machte sich zum Aufstehen bereit.

»Hatte Ehrenreich eine Wohnung in Basel?«, fragte Diamant.

»Nicht dass ich wüsste, nein. Wie kommst du darauf?«

»Na ja, ich besuche ja an zwei Abenden in der Woche einen Deutschkurs im Sprachenzentrum der Universität. Neben dem Unispital, beim Rhein unten. Ein paarmal, als ich aus dem Kurs kam und auf das Tram wartete, habe ich ihn dort gesehen. Er ist vor einem Haus gegenüber der Haltestelle vom Rad gestiegen, und dann ist er hineingegangen.«

»Na ja, er wird jemanden besucht haben.«

»Danach sah es eben nicht aus. Er hat die Haustür selbst aufgeschlossen. Als würde er dort wohnen.«

»Ja, aber er wohnte nicht dort. Er wohnte ja in Inzlingen mit seiner Frau, nach wie vor.«

»Eben, das dachte ich auch.«

»Und du bist sicher, dass er es war? Ich meine, hat er dich gegrüßt?«

»Gegrüßt nicht, er hat mich gar nicht gesehen. Und ich habe ihn auch nicht gerufen, so nah waren wir uns nicht. Aber dass er es war, daran kann kein Zweifel bestehen.«

Jäh war die Müdigkeit von Klein abgefallen. Einen Moment lang überlegte er, ob er Diamant nicht auffordern sollte, das der Polizei zu erzählen, da dieser selbst offenbar nicht auf diese Idee kam. Doch er verkniff es sich. Wenn ihm Unmüßig schon Ungereimtheiten vorenthielt, auf die er angeblich gestoßen war, dann wollte er auch die weiteren möglichen Ungereimtheiten, falls es wirklich welche waren, selbst ergründen. Ohnehin musste er sich gleich nach seiner Rückkehr bei Sonja melden, das alles war durch die Aufregung um die Etrogim in der letzten Woche völlig untergegangen. Er wollte erfahren, was es mit Vietnam auf sich hatte, und auch noch einiges über Unmüßigs andere Andeutungen. Und dabei würde er vielleicht auch noch etwas darüber herausfinden, was Viktor in Basel in der Nähe des Sprachenzentrums zu tun gehabt hatte.

»Würdest du mir gelegentlich mal zeigen, wo Ehrenreich da reingegangen ist?«

»Wenn du nach Basel kommst, gern. Wieso interessiert dich das so? Denkst du, es hat etwas …«

»Weißt du, ich bin in Kontakt mit Ehrenreichs Witwe und helfe ihr beim Abwickeln aller Dinge, die mit ihrem Mann verbunden waren. Und wenn da noch ein Schlüssel zurückgegeben werden muss … Ich möchte das erledigen, ohne sie mit Fragen zu löchern.«

»Ich verstehe«, sagte Diamant und erhob sich schwerfällig. »So, Zeit in die Federn zu kommen. Teilen wir uns ein Taxi zum Hotel?«

»Gern«, sagte Klein. Das Bier in seinem Kopf richtete einigen Wirbel an. Und vielleicht war es nicht nur das Bier.

Weiße Handschuhe! Können Sie sich vorstellen, mit jemandem zu leben, den Sie nie mehr ohne weiße Handschuhe sehen? Ich meine: nie mehr!

Und warum tut sie das? Hat sie eine Hautkrankheit? Kontaktallergien?

Weiß ich es? Sie trägt sie. Immer. Auch im Bett. Vor dem Brotsegen wäscht sie sich auch die Hände nicht mehr, um sie nicht mehr ausziehen zu müssen.

Halachisch kein Problem.

Halachisch kein Problem! Diese Handschuhe bedeuten aus meiner Sicht: Ich rühre nichts mehr an, was mich mit dir verbinden könnte. Ich breche das Brot nicht mehr mit dir, ich möchte keinen Körperkontakt mehr mit dir. Zuweilen kommt es mir so vor, als wären wir nicht Sonja und Viktor, sondern Alice und Edgar.

Entschuldigung, das sagt mir gar nichts.

Das Paar in Strindbergs Totentanz.

Kenne ich nicht.

Sollten Sie aber, Herr Rabbiner. Weltliteratur. Übrigens das Stück, das Sonja und ich damals in Wien angesehen haben.

Diese Zadek-Inszenierung?

Ich sehe, Sie hören sich die Aufnahmen der früheren Gespräche tatsächlich an.

Und was ist mit denen? Alice und Edgar, meine ich.

Eine Ehehölle. Was von der Liebe übrig ist, reicht noch, um den Hass zu nähren. Und es ist vor allem ihr Hass auf mich. Ich liebe sie nämlich immer noch.

Warum hasst sie Sie?

Vielleicht, weil wir in Inzlingen leben, wo keine jüdische Maus sich hinverirrt? Weil sie mich dafür verantwortlich hält, dass wir keine Kinder haben? Weil ich nicht Feuer und Flamme bin, ein Kind zu adoptieren? Weil sie mir nicht abkauft, dass ich wirklich ein gläubiger Jude bin, und mich für einen Fake hält? Weil sie meine Reisen in den Kongo als große, verlogene Humanitätsshow betrachtet? Weil sie mich für ihre Melancholie verantwortlich macht? Vielleicht fallen Ihnen noch ein paar Gründe ein.

Und warum lieben Sie sie?

Ja, warum liebt man einen Menschen? Lieben Sie Ihre Frau?

Ich liebe meine Frau. Aber meine Frau liebt mich auch. Das macht es einfacher.

Schlafen Sie noch mit ihr?

Entschuldigung?

Ich meine, das ist doch auch part of the game.

Aber nicht part of your game. Mich interessiert mehr, ob Sie Ihrer Frau auch zu verstehen geben, dass Sie sie lieben.

Wie stellen Sie sich das vor?

Wie soll ich mir das vorstellen? Kleine Geschenke, nette Worte, gemeinsame Unternehmungen, das Übliche halt. Vielleicht auch mal eine Eheberatung anstreben.

Wissen Sie, was es heißt, mit einem Menschen zu leben, von dem Sie heute nicht wissen, in welcher Verfassung er morgen aufwacht?

Aber das heißt auch, dass sie Sie nicht immer hasst. Nur an schlechten Tagen.

Die werden mehr. Im letzten Frühjahr habe ich noch Hoffnung gehabt. Seit dem Sommer haben wir kaum noch gute Momente. Am Ende wird der Totentanz unser Schicksal sein.

Gott behüte! Wie kann ich helfen?

Sie hören zu, mehr kann ich nicht verlangen. Und im Alltag versuche ich mich an die Mussar-Regeln zu halten. Mich befreien von den bösen inneren Regungen. Meine freie Wahl erlangen. Wissen Sie, dieses ganze Tora-Lernen, das Rabbi Salanter so hochgehalten hat, kriege ich ja nicht hin, da fehlt mir einfach die Vorbildung und der Zugang. Aber jeden Tag eine Viertelstunde Maimonides-Lektüre, das hilft wieder auf die Beine.

Maimonides?

Der Führer der Verirrten. Dass der Mensch im Ebenbild Gottes geschaffen ist, bedeutet gerade nichts Körperliches, sondern steht umgekehrt für die Fähigkeit des Menschen, wie Gott abstrakt zu denken. Das Ebenbild in der Auflösung des Bildlichen. So was haut mich um.

Viktor, haben Sie die Schöpfungsgeschichte mal aufmerksam gelesen?

Na ja, ich halte es mehr mit der Evolution. Diese sieben Tage, das ist ganz interessant, aber vom Rationalen her …

Darum geht es nicht. Es geht um den Wortlaut. Um das, was das Judentum in diesem Wortlaut erkennt. An jedem Schöpfungstag heißt es mindestens einmal über Gott »und er sah, dass es gut war«, nicht wahr?

Soweit ist es mir bekannt. Ich fand das schon immer sehr nett. Gott sitzt beim Feierabendbier, zieht eine positive Bilanz und geht schlafen.

Bleiben wir mal beim Text, Viktor. Es gibt nur eine einzige Textstelle in der Schöpfung, nämlich nach der Schöpfung des Menschen, da steht geschrieben: »Und er sah, dass es sehr gut war.« Warum plötzlich sehr gut?

Das kann man sich wirklich fragen. Vor allem, nachdem Gott einige Generationen später bereute, den ganzen Laden überhaupt aufgebaut zu haben und eine Sintflut schickte.

Jetzt sind wir erst mal bei der Schöpfung. Die Rabbinen im Midrasch haben gemeint: Das Wörtchen »sehr« steht für den bösen Trieb. Ohne den bösen Trieb würden Menschen keinerlei Initiative ergreifen: nicht heiraten, nichts pflanzen, keinem Erwerb nachgehen – nichts. Geben Sie Ihrem bösen Trieb mehr Raum, sperren Sie sich nicht mit der Maimonides-Übersetzung oder Ihren Mussar-Büchern ein. Sich nur zu beklagen, dass man nicht geliebt wird, reicht nicht. Sie haben mehr zu bieten.

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