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Was sind Yamas und Niyamas?


Die Yamas und Niyamas werden auf Stufe 1 und 2 des Achtfachen Pfades beschrieben, der die Kapitel 2 und 3 der Yoga-Sutren miteinander verbindet. Dieser Pfad ist ein didaktischer Stufenplan, beginnend bei den moralischen Verhaltensregeln bis hin zum Ziel des Yogaweges, einem Zustand von großer Tiefe und Ruhe (Samadhi).

Die Yamas sind moralische Verhaltensregeln gegenüber anderen Personen. Sie sind aber weit mehr als das: Es sind grundlegende Baupläne davon, wie wir die Welt ein Stückchen besser gestalten könnten. In diesem Sinne sind sie visionär.

Für P. Y. Deshpande sind Yamas grundlegende existenzielle Imperative, harte Tatsachen, die verstanden werden müssen.29 Mahatma Gandhi nutzte sie als ein Mahavrata, ein großes Gelübde. Ein Gelübde ist ein feierliches Bekenntnis, privat oder öffentlich, jedenfalls ein ganz starkes moralisches Versprechen in der Hoffnung auf ein geglücktes Ende der Verantwortungsübernahme, auf die man sich einschwört. Ich persönlich empfinde die Yamas wie innere Leuchttürme, die oft in starkem Nebel verschwinden und mir dann wieder, so unvermutet wie eben Licht im Nebel auftaucht, Orientierung und Klarheit geben.

Vielleicht werden sie ein wenig unterschätzt, weil sie am Anfang des Stufenweges liegen und weil alle Übenden dazu tendieren, sich auf die lichtvollen Prozesse beim Hinaufsteigen, in Richtung Erkenntnis, Erleuchtung, Samadhi auszurichten. Damit fokussiert sich ganz automatisch das Interesse am Yoga auf Fragen der spirituellen und nicht der ethischen Praxis. Vielleicht liegt es auch daran, dass uns einige der Yamas sehr bekannt vorkommen: nicht lügen, nicht stehlen, immer die Wahrheit sagen … Drei von fünf Yamas sind zumindest auf den ersten Blick identisch mit drei von zehn christlichen Geboten. Ist das nicht nur eine Wiederholung von altbekannten, sittenstrengen Vorschriften, mit moralinsaurem Beigeschmack, ohnehin nicht einlösbar und einfach nicht zeitgemäß? Wozu halten wir uns mit sozialen Verhaltensregeln auf, wenn der Yoga doch ein Weg der Verinnerlichung ist, wo ich ganz alleine für Erfolg und Tempo maßgeblich bin?

Die Antwort ist simpel: Weil wir die moralische Basis brauchen – inhaltlich und auch methodisch.

Die Niyamas sind heilsame Verhaltensempfehlungen für die eigene Selbstentfaltung im Hier und Jetzt. Es sind Verhaltensempfehlungen, die uns innerlich bestärken, unsere Selbsterforschung unterstützen und uns so im sozialen Engagement auch vor dem Ausbrennen schützen können. Denn eine Vision kann uns leiten und zum Aufbruch motivieren, ist aber kein Schutz vor Überforderung. Die Moral (Yama) bestärkt uns, lässt uns achtsamer in Beziehungen agieren, ist aber auch keine ganzheitliche Methode, um uns selbst zu erforschen und heilsame Ressourcen aufzubauen. Die fünf Niyamas hingegen wirken wie Selbstfürsorgetipps. Sie können uns helfen, unbeschadet durch einen Verantwortungsprozess zu kommen.

Gerade bei der Übernahme von Verantwortung ist es wichtig, gut bei sich zu bleiben und auf die eigenen Bedürfnisse Rücksicht zu nehmen. Burnout ist besonders bei helfenden Berufen und in Bereichen mit großem Engagement häufig zu finden. Denn je begeisterter und idealistischer man an eine Sache herangeht, desto eher verdrängt man die eigenen Bedürfnisse. Unser Körper und unser Geist brauchen aber auch Ruhe, äußere und innere Pflege als Ausgleich. Dafür braucht man sich nicht zu schämen. Im Gegenteil: Im Sinne des Yoga sind wir dazu sogar moralisch verpflichtet!

Für den Soziologen Emile Durkheim, dessen Kriterien von Moralität ich an späterer Stelle vertiefend zitieren werde, hatten solche Regeln im Jahre 1903 keinen moralischen Wert: »Es hat nichts Moralisches, auf meine Gesundheit und meine Bildung zu achten; meine Tat wechselt aber die Natur, wenn ich auf die Gesundheit meiner Mitmenschen achte, wenn ich ihr Glück oder ihre Bildung im Auge habe.«30 Vielleicht würde Durkheim das heute auch etwas differenzierter sehen. Für mich als Yogapraktizierende sind Gesundheitsbewusstsein und Selbsterforschung jedenfalls zutiefst moralisch. Denn die spirituelle Entwicklung ist im Yoga ebenso wichtig wie die Entwicklung im Außen. Wir rechnen das nicht gegeneinander auf, sondern schätzen die sich gegenseitig fördernden Wirkungen.

Im Unterschied zu den Yamas, wo ich die Möglichkeit erkenne, mich auf eines von fünf zu spezialisieren und mein soziales Engagement ganz einem Thema zu widmen (zum Beispiel Einsatz gegen Gewalt, Einsatz für Pressefreiheit, Engagement für achtsamen Konsum) verstehe ich die Niyamas viel mehr als ineinandergreifende Prinzipien, die einen Weg bzw. einen Prozess der Selbsterkenntnis beschreiben – vom Abstandnehmen und Ankommen im Yoga bis zur Hingabe aller Gedanken und Anspannungen. Es ist jedenfalls sinnvoll, sie der Reihe nach zu erforschen und sich allen fünf zu stellen. Die Abfolge ist nicht zwingend, auch wenn Saucha zum Start im Sinne von Abstandgewinnen sicher am meisten Sinn ergibt. Jedenfalls braucht es alle fünf Niyamas, um sich auf dem Übungsweg Yoga weiterzuentwickeln.

Das Übungsfeld abstecken


Beginnen wir mit den Niyamas, denn es ist wesentlich leichter, diese in einem Übungsfeld zu verorten. Da sie Empfehlungen für einen Erfahrungsweg im eigenen Spüren sind, womit wir auch unsere inneren Ressourcen erschließen können, empfiehlt sich ein klassisches Yogasetting. Wir praktizieren meist auf einer ca. 180 x 80 cm großen Matte, eventuell noch unterstützt von einem Sitzkissen und einer Decke, wir haben den Raum vorher gelüftet, üben alleine oder gemeinsam in einem Kurs. Für Selbsterforschung und weitere Inspiration kann es nützlich sein, sich mit ein paar guten Büchern zu umgeben sowie Bleistift und Papier für Notizen und tiefergehende Überlegungen in Reichweite zu legen.

Unter welchen Bedingungen aber können Yamas, die moralischen Grundwerte, geübt werden? Wie kann ich dafür ein Übungsfeld abstecken? Was braucht es, um Moral eine Struktur zu geben, entlang der ich dann konkrete Überlegungen anstellen kann? Ich weiß, wie ich seriöse Asanapraxis anleiten kann, aber welche Ansprüche stelle ich an mein moralisches Denken, um von einer allzu großen Beliebigkeit wegzukommen?

Exemplarisch hierfür ist die Arbeit der Soziologen Andreas Hajdar und Dirk Baier. Sie haben 2004 eine Studie publiziert, in der sie die Übernahme von sozialer Verantwortung an Chemnitzer Jugendlichen beforschten.31 Dafür brauchten sie Klarheit über die »Beschaffenheit moralischen Denkens« aus einer soziologischen Perspektive. Sie bedienten sich dabei der Vorarbeiten des französischen Soziologen Emile Durkheim und seiner Definition von Moralität.

Durkheim gilt zwar als Gründungsvater der Soziologie, hat aber ebenso leidenschaftlich Pädagogik unterrichtet. Erziehung war für ihn ein wichtiger Teil der Soziologie, eine soziale Tatsache.32 In einer Vorlesungsreihe 1902/03 an der Sorbonne versuchte er, die ausschließliche laiische Moralerziehung, die Frankreich damals seit zwanzig Jahren verfolgte, durch eine reine vernunftmäßige moralische Erziehung, »der jede Anleihe auf die Prinzipien untersagt ist, auf denen die offenbarten Religionen beruhen«,33 weiter zu untermauern. Er suchte also nach dem Grundlegenden und Wiedererkennbaren, das in jeder Moral zu finden sein muss, und trug drei Elemente der Moralität vor:

1. Element der Moralität »Der Geist der Disziplin«: Dieser besteht erstens aus Regelmäßigkeit, also aus festen Gewohnheiten, und zweitens aus einer Autorität, die man respektiert. Welche Autorität ist aber damit gemeint? Gott ist es nicht – ist es ein:e einzelne:r Lehrer:in? Für Durkheim ist es die Autorität der Kollektivität34 und der kollektiven Meinungen: »Das Individuum muss derart wesend sein, dass es die Höherwertigkeit der moralischen Kräfte fühlt und sich vor ihnen beugt.«35 Sich-Beugen heißt, sich selbst Grenzen zu setzen, heißt auch, zu verzichten. Diese internalisierten kollektiven Meinungen wirken also nach Durkheim wie ein:e Lehrmeister:in: »Denn durch sie lernen wir jene Zurückhaltung der Wünsche, ohne die der Mensch nicht glücklich sein könnte.«36 Als fortschrittlicher Pädagoge war ihm klar, dass dies nur bedeuten kann, Menschen zu ermutigen, sich entsprechend ihrer Individualität und ihrer eigenen Natur zu entwickeln. Verzicht braucht es trotzdem, weil der Mensch einfach ein begrenztes Wesen ist. Kritik darf angebracht werden, der Verzicht, den Durkheim meint, basiert auf einer inneren Erkenntnis.

2. Element der Moralität »Anschluss an die soziale Gruppe«: Moral existiert nur in einem Kollektiv, wodurch der Mensch lernt, das Kollektiv in die Handlungsplanung zu integrieren. Hier wird eine Idee formuliert, die Iris Marion Young etwa hundert Jahre später auch einfordert, wenn sie schreibt, dass strukturelle Ungerechtigkeit nur im Kollektiv gelöst werden könne.37 Moral ist also per se sozial.

Der Yoga sieht das naturgemäß anders: Moralische Entwicklung ist im Yoga auch in der Isolation, auf dem Weg einer inneren Erfahrung, möglich. Da ich diese Moralitätskriterien nur auf die Yamas anwenden möchte, entsteht hier aber kein Widerspruch.

3. Element der Moralität »Geist der Autonomie«: Moral kann nur dann kollektiv verbindlich werden, wenn sie als individuelle Freiwilligkeit erlebt wird. Und dafür braucht es Wissen: »Das ist keine Autonomie, die wir fertig von der Natur bekommen, die wir bei der Geburt unter unseren Grundeigenschaften vorfinden. Wir machen sie uns selbst in dem Maß, wie wir die Dinge nach und nach besser begreifen.«38 Für Durkheim als Pädagogen hieß das, Moral nicht zu predigen oder einzutrichtern, sondern zu erklären.39

Interessant finde ich, dass hier schon Yogabegriffe durchschimmern, die wir folglich auch noch bei den Niyamas wiederfinden werden: Tapas, die Regelmäßigkeit; Samtosha, die Zufriedenheit trotz Verzicht; Svadhyaya, die Selbsterforschung und das lebenslange Lernen. So können Niyamas also auch auf unser Engagement rückwirken: indem sie uns helfen zu verstehen, was Moral ausmacht.

Ich möchte noch ein viertes Element für Moralität hinzufügen: die Zukunftsorientiertheit bzw. die Vision für eine enkeltaugliche Zukunft. Das haben wir ja aus der Geschichte der sozialen Verantwortung gelernt: Es braucht den Blick in die Zukunft!

Nun können wir unser Feld entlang dieser vier Elemente aufspannen und Yoga-Moral konkret durchdenken. Ich bezeichne diesen Prozess als »Moralitäts-Check«.

Der Moralitäts-Check


Ein Yama im Kontext von sozialer Verantwortungsübernahme …

… fordert Verzicht ein. Welche Grenzen man sich setzt, muss jede:r selbst entsprechend der individuellen Anlagen und Talente bestimmen. Wenn man unterstützend das Modell von Iris Marion Young40 heranzieht, könnte das heißen: Je nach individueller Position (Macht/Privileg/Interesse) in einem (globalen) sozialen System wird dieser Verzicht unterschiedlich ausfallen können. Am Beispiel der Anti-Sweatshop-Bewegung: Markenmodeerzeuger:innen haben Macht und können auf Gewinne verzichten, Mittelklasse-Konsument:innen sind Profiteur:innen, die auf ungewöhnlich billige Schnäppchen verzichten können. Arbeiter:innen in den Sweatshops selbst aber könnten nur auf die Arbeit selbst verzichten, was nicht zumutbar, aber auch nicht völlig ausgeschlossen ist (wenn sie stattdessen zum Beispiel den Arbeitskampf wählen).

… verortet sich in einer Gemeinschaft und strebt Verbundenheit zwischen Mensch, Tier und Natur an. Soziale Verantwortung entsteht durch Teilhabe an einem (globalen) System der strukturellen Ungerechtigkeit. Nachhaltige Verbesserungen können nur im Kollektiv erreicht werden sowie in dem Ausmaß, in dem kollektive Fähigkeiten entwickelt und genutzt werden können.

… basiert auf Freiwilligkeit. Wir sind als Einzelpersonen entsprechend unserer Position im System verantwortlich, aber wir sind nicht zu einem sozialen Engagement gezwungen, und wir können auch nicht für unser Nicht-Engagement zur Rechenschaft gezogen werden. Die Verantwortungsübernahme ist ein bewusster Akt, die freiwillige Entscheidung dafür ein politischer Erkenntnisschritt. Eine Idee aktiv im Kollektiv mitzutragen bedingt, dass wir davon überzeugt sind. Bildung ist eine wichtige Voraussetzung dafür.

… ist zukunftsorientiert, im besten Falle visionär. Wir suchen also primär nicht rückwärtsgewandt nach einem Schuldigen, sondern nach zukünftigen Lösungen, wie wir gemeinsam strukturelle Ungleichheit und daraus resultierendes Leid mindern oder sogar abschaffen können.

Ich werde in Kapitel 4 bei jedem Yama diesen »Moralitäts-Check« durchdenken. Es ist aus meiner begrenzten Sichtweise auf das Leben heraus geschrieben und erhebt keinen Anspruch auf Vollständigkeit. Es wird individuelle Unterschiede geben, gerade bei den Kriterien Verzicht und Freiheit. Hier beginnt also schon das individuelle Üben!

Die Eigenschaften einer zeitgemäßen Yoga-Moral


Die Bereitschaft zur Verantwortungsübernahme wird durch moralische Motive sowie durch das Erleben eigener Kompetenz begünstigt. Deshalb ist es gut, unsere moralischen Leitlinien und unsere Kompetenzen auszubauen und uns ihrer bewusst zu sein. Ebenso können wir für andere Menschen Bedingungen schaffen, unter denen es ihnen leichter fällt, moralische Ziele zu entwickeln und zu vertreten, sowie ihre eigene Kompetenz weiterzuentwickeln und dieser zu vertrauen.

Elisabeth Auhagen41

Ich habe großen Respekt vor der Yoga-Tradition und ihren tiefen Wurzeln in der indischen Philosophie, Mystik und Kultur. Trotzdem muss ich als Yogalehrende im Westen, genauer im deutschsprachigen Österreich, meinen eigenen Weg finden, muss für mich klären, was der Yoga mir bedeutet. Alles andere ergibt für mich keinen Sinn. Darum versuche ich hier eingangs möglichst klar zu definieren, wie ich Yoga-Moral auslegen möchte.

Die Yamas und Niyamas aus den Yoga-Sutren bilden ein moralisches Baukastensystem mit folgenden Eigenschaften:

Yoga-Moral wirkt gründend und ist visionär gleichermaßen. Yogapraxis ohne moralische Verwurzelung ist für mich nicht vorstellbar. Beim Durchdenken von Yama und Niyama geht es immer wieder darum, eine feste, stabile Basis zu finden, sich also in einer Überzeugung zu gründen, und dabei auch sich selbst zu ergründen. Denn die Stärke der eigenen Haltung und die Tiefe der eigenen Überzeugung erschließt sich nur über das Klären der eigenen Denkfehler.

Die Moral ist die Basis, auf der die nächsten Stufen aufbauen können. Yoga ohne ethische Reflexion droht zu einer sportlichen Selbstdarstellung zu werden. Die zunehmende Energie und Kraft, die aus der Praxis entstehen, brauchen eine gute Richtung und eine Vision – zum Wohle der Menschen, zum Wohle der Tiere und zum Wohle der Natur.

Yoga-Moral ist prozessorientiert. Die Yamas und Niyamas sind moralische Handlungsempfehlungen, aber keine Gebote. Sie sagen nicht »Du sollst« bzw. »Du sollst nicht« und stellen auch keine Strafe oder Verdammnis in Aussicht. Das, was wir uns vergeben, wenn wir nicht auf diese wohlgemeinten Ratschläge hören, ist vielmehr eine heilsame Entwicklung, sowohl unserer eigenen Persönlichkeit, als auch eine heilsame Entwicklung in unseren Beziehungen und der Gesellschaft, an der wir mitwirken können. Insofern ist diese Moral prozessorientiert. Es geht nicht nur um den Akt des Tötens, Stehlens oder Lügens, sondern um eine lange, ja vielleicht sogar lebenslange Entwicklung von Achtsamkeit in unseren Beziehungsmustern. Wo beginnt Gewalt, wo die Lüge; und wo ist der Punkt, an dem wir in heilsamer Weise eine Wendung zum Besseren erreichen können? Was verstehe ich unter Gewalt, und was du? Was bedeutet für dich Wahrheit, beziehungsweise erkennst du überhaupt, dass meine Wahrheit eine andere ist als deine? Wo liegt das Verbindende zwischen uns?

Wir müssen uns viele Fragen stellen, dialogfähig und respektvoll, um diese Yoga-Moral umzusetzen. Wenn unsere Beziehungen dann friedlicher, fröhlicher und entspannter werden und die Lösungsvorschläge kreativer, dann zeigen sich die ersten positiven Wirkungen. (Anmerkung: Ein solcher gemeinschaftlicher Prozess darf allerdings nicht bedeuten, sich im Konsens über belegbare Fakten und Erkenntnisse oder über Grundwerte, wie etwa die Menschenrechte, hinwegzusetzen.)

Yoga-Moral ist spirituell. Yogapraxis bringt mich in Verbundenheit, mit meinem Körper sowie mit meinem Atem, meinen Gedanken und Emotionen. Die Verbundenheit zu mir selbst zu stärken und dabei auch mein Geistfeld (Chitta) zu klären ist eine gute Voraussetzung dafür, im Alltag die Verbundenheit zu Menschen (im Du und im Wir), zu Tieren und zur Natur tiefer zu erfahren. Verbundenheit zu spüren, ist ein Hinweis darauf, dass wir auf einem spirituellen Weg sind. Das Gegenteil davon ist das Getrenntsein, im Extremfall der Krieg. Verbundenheit wird besonders stark erfahrbar, wenn sie als Grenzüberschreitung erlebt wird, wenn sich zum Beispiel körperliche Blockaden auflösen und Energie wieder fließen darf. Für mich ist es auch eine Erfahrung von Transzendenz, wenn Menschen alte Beziehungsmuster überwinden und neue heilsame Begegnungen möglich werden. Jede:r kann das täglich probieren. Wir können dort beginnen, wo wir täglich gefordert sind, im Einfachen und im Naheliegenden. Es hat keinen Sinn, Situationen anzustreben, die uns total überfordern.

In diesem Buch werde ich keine Anleitung für Asana- oder Pranayamapraxis geben, allerdings im Kapitel 5 jedem Niyama vier Stilleübungen zuordnen. Damit möchte ich Möglichkeiten aufzeigen, wie man dieses Üben von Moral und das Nachdenken über soziale Verantwortungsübernahme auch in eine spirituelle Praxis einbetten kann. Das bewusste Hinspüren zum eigenen Atem wird in jeder Übung der Einstieg in die Verbundenheit sein. Ich nenne diese Passagen ausdrücklich Stilleübungen und nicht Meditation, weil der Begriff Meditation inzwischen so inflationär verwendet wird, dass damit jahrelange Praxis und Einkehr, aber auch nur eine fünfminütige Powerpause gemeint sein kann. Ich mag die Stille. Sie gibt Kraft und Ruhe. In der Stille zu üben ist heilsam.

Yoga-Moral ist säkular. Yoga wurzelt in der indischen Kultur und hat ein starkes kulturelles Näheverhältnis zum Hinduismus und eine Nähe zum Buddhismus. Immerhin übte sich Buddha, bevor er seine Gemeinschaft gründete, in Yoga und extremer Askese. Heute ist Yoga über die ganze Welt verbreitet. Auch Christen, Muslime und Menschen ohne Religionsbekenntnis praktizieren Yoga.

Denn der Yoga ist als Methode so intelligent, dass er auch ohne religiösen Kontext funktioniert. Natürlich braucht es dafür eine gewisse Deutungsfreiheit. Ich möchte die Sutren so formulieren, dass sie für alle spirituell suchenden Menschen im Westen verständlich sind. Gottsuche steht für mich auch für die Suche nach dem Sinn des Lebens, und religiöse Praxis befriedigt die tiefe Sehnsucht nach Verbundenheit, Hingabe und Vertrauen. All das können wir auch in einem säkularen Yoga üben.

Moralische Regeln, wie sie jede religiöse Dogmatik beinhaltet, sollten ohnehin für alle Menschen verständlich weltweit funktionieren. Wenn Moral nämlich nicht das Gemeinsame, sondern das Trennende aufzeigt, dann ist sie noch nicht tief genug gegründet. Wenn, wie es noch immer passiert, Menschen aufgrund anderer Moralvorstellungen als der eigenen hingemetzelt werden, dann stimmt etwas nicht. Wenn Liebespaare unterschiedlicher Glaubensrichtungen nicht für ihre alle Grenzen überschreitende Liebe geehrt und gefeiert, sondern dafür ermordet werden, dann stimmt etwas nicht. Dann ist die moralische Argumentation noch nicht tief genug und spürbar gefestigt, dann lässt sie sich benutzen für Egointeressen jeglicher Art, oder ist überhaupt nur ein Vorwand. Gerade deshalb sind die Yoga-Sutren auch eine Chance für einen weltweiten Diskurs – weil sie an die Wurzel gehen, an die erfahrbare Basis dessen, was wirklich bedeutsam ist.

Yoga-Moral ist zeitgemäß-existenziell. Moralische Prinzipien sind nur dann sinnvoll, wenn sie für uns heute relevant sind, also praktisch anwendbar. Wir können uns über sexuelle Enthaltsamkeit oder Armutsgelübde unterhalten, aber für die meisten von uns sind das Vorgaben, die nur mit dem Eintritt in ein Kloster praktizierbar wären. Ethik soll uns helfen, unseren Alltag besser zu bewältigen und wichtige Lebensentscheidungen zu treffen. Wir wollen mitten im Leben stehen. Wir wollen keine Sonntagsreden hören, wir wollen die Welt wirklich verbessern. Wichtig ist nur zu erkennen, worin der unveränderbare Kern der Ethik liegt, jener Bereich, der keine verwässerte Interpretation zulässt.

Dafür braucht es diese Denkarbeit des „Bis-an-die-Wurzeln-Grabens«, dafür braucht es diese erfahrungsbasierte existenzielle Rückbindung. Sri Desphande beschreibt die Yamas als »fünf existenzielle Imperative«: »Sie sind keine Ideen oder Ideale, denen man mit halbem Herzen folgen kann. Sie sind vielmehr harte, grundlegende Tatsachen, die erkannt und verstanden werden müssen.«42 Sri Despande war übrigens politischer Mitarbeiter von Mahatma Gandhi, bevor er sich für ein spirituelles Leben entschied und sich dann mit den Yoga-Sutren im Rahmen eines persönlichen, inneren Erfahrungsweges auseinandersetzte. Gandhi wurde berühmt dafür, dass er die Prinzipien Satya und Ahimsa mit aktuellen sozialen und politischen Motiven verknüpfte. Er trug das Feuer weiter und nicht die Asche. Der hagere Mann mit der Nickelbrille und den einfachen Sandalen verwendete Begriffe und eine Symbolik, die für breite Bevölkerungsschichten verständlich waren. Gleichzeitig war seine Auslegung revolutionär, und seine Umsetzung getragen von kreativem Aktionismus.

Yoga-Moral ist übersichtlich. Wir haben fünf Yamas, die unser Handeln im Außen regeln, und fünf Niyamas, die uns die Begegnung mit uns selbst, den inneren Weg, lehren. Natürlich könnte man diese Lehrsätze durch Postulate ergänzen, die jetzt im 21. Jahrhundert im Kontext von sozialer Verantwortung wichtig wären: Solidarität und Gleichberechtigung oder die Einhaltung der Menschenrechte zum Beispiel.

Ich versuche einen Spagat: Einerseits möchte ich unbedingt bei diesen Sutren und ihrer Nummerierung bleiben, wie sie vor ca. 2.000 Jahren von Patanjali aufgezeichnet worden sind. Andererseits möchte ich all das hineinformulieren, was mir für eine heutige Diskussion, auch im Kontext von sozialer Verantwortung, wichtig erscheint. Der Kompromiss kann also nur in der Auslegung zu finden sein. Ich möchte die Sutren großzügig für möglichst viele Anwendungsfälle öffnen, damit sie wirklich ein nützliches moralisches Gerüst für meine Handlungen werden können.

Yoga-Moral ist spürbar. Wie haben die meisten von uns Moral im eigenen Fühlen bisher erlebt? Möglicherweise nur im Kontext von Schuld. Jede:r von uns hat wahrscheinlich schon einmal ein schlechtes Gewissen verspürt oder sich bei etwas Unerlaubtem ertappt gefühlt. Wenn die Beschämung so peinlich wird, dass der Atem flacher und die Durchblutung verstärkt wird, treibt es uns sogar die Schamröte ins Gesicht. Vielleicht ist deshalb das Thema Moral auch nicht besonders sexy. Wir haben einfach keine so guten Erinnerungen daran. Der Achtfache Yogapfad ist ein Weg der Selbstbefreiung, und er beginnt mit der Moral. Damit ist aber eine Moral gemeint, die Grenzen überwindet, die uns beflügelt und nicht beschämt. Eine Moral, die uns zu strahlenden Held:innen und nicht zu armen Sünder:innen machen will.

Ich bin immer wieder fasziniert, wie sich die Philosophie des Yoga durch sprachliche Ansagen, die ich meinen Schüler:innen für ihre Asanapraxis gebe, so wandelt, dass sie körperlich spürbar wird. Unser Geist ist kreativ, klar. Wenn ich im Schulterbereich mobilisieren und Anspannungen lösen kann, wird meine Stimmung friedvoller, gleichmütiger. Ahimsa, die Gewaltfreiheit, beginnt zu wirken, spürbar. Oder ich übe eine kräftigende Asanaabfolge und stehe dann, sozusagen als Höhepunkt der Stunde, in einer Held:innen-Position. Die Arme sind ausgebreitet, der Atem strömt tief in die Seite, ich übe mich in Standfestigkeit, Tatkraft und Entscheidungsfreude. Ich übe mit Tapas. So einfach? So einfach! Körperhaltungen erzeugen Gefühle, und Gefühle entwickeln sich zu Lebenseinstellungen. Wir üben auf der Matte für das Leben.

Um das Spüren anzuregen, stelle ich den Teilnehmer:innen Fragen: Wie fühlt sich die gedehnte, rechte Rumpfseite an im Vergleich zur linken, ungedehnten? Wie strömt der Atem nach einer intensiven Praxis im Vergleich zu vorher, welche Gefühle zeigen sich? Auch wenn wir Yoga-Moral üben, ist es sinnvoll, die Methode des Fragens und Spürens einzusetzen.

Eine Moral, die zu einer inneren Befreiung wird, weil sie uns große Klarheit bringt, muss hinspürend und hinterfragend sein dürfen. Die konkreten Fragen muss sich jede:r von uns natürlich selbst stellen. Ich kann also nur mir meine Fragen stellen, beispielhaft. Zu jedem Yama gibt es daher vier Beispiele, das sind in diesem Buch zusammen zwanzig kurze Geschichten aus meinem Leben. Ich hoffe, das sind genügend Vorlagen, um zu verstehen, wie diese Selbstreflexion gemeint ist. Denn ich will niemandem meine eigenen Gedanken überstülpen, sondern ich möchte Lust darauf machen, das fragende Hinspüren selbst auszuprobieren. Yoga ist eine Erfahrungswissenschaft und keine Glaubensfrage.

Yoga-Moral ist faktenbasiert (also nicht postfaktisch). Auch wenn jetzt viel vom eigenen Spüren die Rede war, schließt das nicht die Verpflichtung aus, bei moralischen Unklarheiten ein Mehr an qualifizierter Information zu recherchieren. Im Zweifelsfall haben wir also die Pflicht zur Informationsbeschaffung. Moralische Dilemmata darf man nicht mit Glaubenssätzen lösen, sie erfordern vielmehr einen Nachdenk- und Rechercheprozess, ein sorgsames Abwägen aller Fürs und Widers, oft auch eine begriffliche Klarstellung. Gefühle sind wichtig, aber das Leugnen von Tatsachen entspricht nicht dem Yoga-Prinzip Satya, der Wahrhaftigkeit. Wir brauchen die Dialogfähigkeit und innere Stärke, unseren Gefühlen und Werten treu zu bleiben und trotzdem die Wahrheit nicht zu verleugnen bzw. sie zu ertragen.

Yoga-Moral ist authentisch. Aus den vorhergehenden Eigenschaften ergibt sich diese letzte wie von selbst: Moralische Anforderungen, die wir mit Lebendigkeit und Freude an der Sache in unser Leben integrieren, stärken unser Gefühl von Authentizität. Man könnte sagen, die Moral fühlt sich dann gut und echt an. Ich tue etwas, weil ich davon überzeugt bin und weil es meine Sache ist. Keine Scheinmoral also. Man tut, so viel man kann, und man tut es gerne und freiwillig.

In diesem Sinne sind auch die schon angesprochenen Beispiele aus meinem Leben zu verstehen. Damit meine Beispiele so authentisch wie möglich sind, beschreibe ich selbst erlebte Situationen. Ich möchte damit den Versuch machen, vorzuzeigen, wie es sich anfühlen könnte, moralische Fragen durchzuspüren. Ich könnte natürlich eine Figur erfinden, etwa die Frau Andrea Möchtegut, und sie durch ein fiktives Leben spazieren lassen. Das wäre dann reine Erfindung, was noch kein prinzipielles Problem ist. Aber ich fürchte, es wäre auch nicht realistisch. Denn meine Haltung und meine Vorurteile als Schreibende würden unbewusst trotzdem mitschwingen. Darum bleiben wir besser gleich bei mir, meinen Gefühlen, meinen Gedanken und meinen Entscheidungen.

Ich versuche auch im Yogakurs möglichst persönliche Beispiele zu geben. Authentizität und Ehrlichkeit sind mir wichtig. Es stärkt auch die Verbundenheit zwischen mir und den Menschen, die zu mir zum Yogaüben kommen. Außerdem ist es mir ein Anliegen, dass jede:r – so groß die Probleme dieser Welt auch sein mögen – erkennt, dass man nur bei sich, erst im Spüren und dann mit Handlungen im eigenen Wirkungskreis, anfangen kann. Raus aus der Ohnmacht, hin zu Selbstermächtigung und den ersten Schritt setzen! Und sei er noch so klein.

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