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Ein Fass Zaubertrank
„Manchmal war ich mir selbst ein Rätsel“

Materialakribie bis zum Exzess – ja, okay. Körperliches Training bis zum Erbrechen – ja, das machen vielleicht „viele“ andere auch. Was Experten, Trainer, Fans und Konkurrenten aber am meisten an Marcel bewundern, ist seine mentale Stärke. Sie ist für viele der wahre Grund, warum Marcel auf der Ergebnisliste fast immer über allen anderen stand. Aber woher kommt diese mentale Stärke? „Sie ist ein Geschenk, das man sich nicht kaufen und auch nicht antrainieren kann. Man hat sie oder man hat sie eben nicht.“ Es ist sozusagen das goldene Geschenk, das Marcel vom lieben Gott mitbekommen hat. „Wir wissen ja: Es gibt Trainings-Weltmeister und es gibt Weltmeister. Es geht gar nicht darum, dass der eine oder andere besser Ski fährt. Da gibt es oft keinen großen Unterschied. Es geht darum, es im Rennen zu zeigen. Und ich hab das Glück, ein echtes Rennpferd zu sein. Das war ich schon als Kind.“ Es ist quasi Marcels Erfolgsmedizin, sein Zaubertrank. Und wie Obelix dürfte auch der kleine Marcel in diesen Zaubertrank hineingefallen sein und dabei genug für ein ganzes Leben davon getankt haben. „Da war ein Fass, das ich aufmachen konnte, wenn ich wollte und wenn ich es unbedingt brauchte.“ Ein Fass, in dem sich auch der Schalter für den „Rennmodus“ befand. „Wenn ich wollte, konnte ich diesen Schalter umlegen. Und der hat mir dann die paar zusätzlichen Prozente gebracht.“ Ein Fass, in dem sich auch eine gesunde Portion Zorn befand. „Alle sagen immer, dass die Freude das Wichtigste ist. Stimmt schon. Aber nicht in der einen Minute, in der es um alles geht. Da musste ich zornig sein. Da brauchte ich diesen Druck, den ich mir teilweise auch selbst bewusst gemacht habe.“ Das Fass kann Marcel aber nicht nur auf der Skipiste öffnen. Marcel erinnert sich auch an CrossFit-Einheiten. „In meiner Karriere waren beim Bankdrücken meist hundert Kilogramm das Maximum. Eines Tages haben da beim CrossFit ein paar Burschen 130 Kilo gedrückt. Mir war’s in dieser Situation wichtig, das auch zu schaffen. Die Stimmung hat gepasst und ich hab auf einmal 130 Kilo drücken können … Wenn ich’s wirklich wollte und gebraucht hab, war da etwas, auf das ich zurückgreifen konnte.“

Und was waren – neben dem Durchgehen des Kurses – meist die allerletzten Gedanken im Starthaus? – „Ich MUSS gewinnen. Ich MUSS alles auf die Ski bringen, was ich draufhabe.“ Schon wenige Wochen nach dem Rücktritt denkt sich Marcel beim Anschauen des einen oder anderen Husarenritts in seiner Karriere: „Mit welchem Einsatz und mit welcher Intensität ich Ski gefahren bin, ist wirklich unglaublich. Hätte ich keine Handschuhe angehabt, hätte ich mich mit den Fingernägeln am Berg festgekrallt, um ja nicht auszuscheiden und so schnell wie möglich im Ziel zu sein. Ganz ehrlich: Manchmal war ich mir selbst ein Rätsel, wie ich das alles geschafft habe … Und diese Intensität, mit der ich das Ganze betrieben habe, ist auch der Grund, warum ich jetzt nicht mehr dabei bin. Das war einfach nur eine begrenzte Zeitspanne durchführbar.“

Die Stuhlalm

Raus aus dem Auge des Orkans. Raus aus den verrücktesten Tagen in Marcels Karriere. Entschleunigung. Wir landen im Jahr 1984 im Salzburger Land, wo die damals 28-jährige Niederländerin Sylvia während ihres Winterurlaubs, den sie mit Schwester und Schwager in Annaberg verbringt, unfreiwillig zur Entschleunigung gezwungen wird. Eine Autopanne. Skilehrer Ferdinand eilt zu Hilfe und erledigt wie ein echter Gentleman das Anlegen der Schneeketten. Es ist, wenn man so will, die Geburtsstunde dieses Ski-Märchens. Nach zwei Jahren Fernbeziehung gibt Sylvia ihren Job in einem Krankenhaus in Den Haag auf und zieht nach Annaberg, wo sie als Kellnerin arbeitet und freundlich aufgenommen wird. Im März 1989 kommt das erste Kind zur Welt: Marcel. Zwei Monate später ziehen die Hirschers für den Sommer auf den Berg, genauer gesagt auf die Stuhlalm, die oberhalb von Annaberg auf 1500 Meter Seehöhe liegt. Ferdl erfüllt sich dort den Traum vom Leben als Hüttenwirt. 15 Saisonen lang betreiben die Hirschers dann von Mitte Mai bis November die Hütte. „Eigentlich dachte ich mir, dass ich als Hüttenwirt in den Bergen mehr zum Klettern komme. Aber ich hab die Arbeit massiv unterschätzt. Das waren sechs Monate Arbeit, Tag und Nacht.“

Für den kleinen Marcel wird die Stuhlalm zu seiner zweiten Heimat. Auch heute kehrt er noch immer wieder dorthin zurück. „Das gehört jeden Sommer zu meinem Pflichtprogramm. Dann gibt’s Kaiserschmarrn. Und sofort kommen die Erinnerungen wieder, so schmeckt Kindheit.“

Wahrscheinlich würden heute viele gestresste Menschen eine Menge Geld bezahlen, um so wie Marcel, fernab des Trubels, für ein paar Tage oder Wochen auf einer solchen Hütte zu leben. Klingt doch irgendwie romantisch. „Ja, klingt vielleicht romantisch“, sagt Marcel. „Aber jede Romantik, jede Schönheit verblasst, wenn die Familie vor lauter Arbeit fast erschlagen wird. Das war schon auch eine harte Probe für uns alle.“ In den ersten paar Jahren haben die Hirschers nicht einmal warmes Wasser. Die Sommer sind sehr intensiv, die Gäste oft bis spät in der Nacht wach und feierwütig. Nicht selten kommt es vor, dass ein Gast ein Bier zu viel tankt, sich zu später Stunde in der Tür irrt und nicht in der Toilette, sondern im Zimmer der Kinder Marcel und Leon steht.

Dass die Kids angesichts der Fülle an Arbeit ein wenig zu kurz kommen, liegt auf der Hand. „Aber das ist in vielen, vielen anderen Gastronomiefamilien nicht anders“, weiß Marcel. Fußballspielen war natürlich möglich. „Aber wenn ich einmal zu fest geschossen hab, hat’s einen 15-minütigen Fußmarsch gebraucht, um den Ball wieder zu holen.“ Deshalb fährt Marcel oft mit dem Rad hinunter ins Dorf auf den Sportplatz oder ins Schwimmbad. Danach geht’s eine Stunde lang bergauf wieder zurück nach Hause! „Ich sehe die Phase auf der Stuhlalm als eine sehr lehrreiche Phase“, erzählt Marcel. „Ich schäme mich keinesfalls, wie ich aufgewachsen bin, ganz im Gegenteil. Aber man muss schon sagen, dass ich die Sommer in wahnsinnig ungewöhnlichen Verhältnissen verbracht habe.“ Sicher ist das einer der Hauptgründe, warum Marcel auch mit derart viel Ruhm im Gepäck immer geerdet und bodenständig geblieben ist. „Das müssen andere beurteilen, ob ich geerdet geblieben bin oder nicht. Ich denke aber schon. Ich weiß, was es bedeutet, für jeden Cent hart arbeiten zu müssen. Und ich weiß sehr gut zu schätzen, was ich erreichen durfte und was wir jetzt erleben dürfen.“ Gibt’s eines Tages eine Rückkehr auf die Stuhlalm als zweite Heimat? „Um kein Geld der Welt!“

Der Ferdl-Faktor

Niemand kennt den Skifahrer Marcel besser als sein Papa, Ferdinand Hirscher. „Unsere Füße empfinden gleich“, sagt der berühmteste Schnauzbart im österreichischen Sport. Damit ist eigentlich fast alles gesagt. Schon als Zweijähriger steht Marcel auf den Ski. Sein Gleichgewichtssinn und die Art, wie er schon als kleiner Knirps mit Schnuller im Mund bremst, sind für sein Alter „nicht normal“. Marcel steht im Winter nur dann nicht auf den Ski, wenn er in der Schule ist oder schläft. „Aber wir dachten keine Sekunde daran, dass er ein Profi-Rennfahrer werden könnte“, sagt Ferdl.

Nach einer kurzen Nachdenkpause gesteht der Papa aber: „Es war unwahrscheinlich, wie schnell der Bub skigefahren ist. Es war unglaublich. Marcel hat Rennen oft mit zehn Sekunden Vorsprung gewonnen.“ In diesem Zusammenhang fallen Ferdl vor allem die österreichischen Schüler-Meisterschaften in der Kombination in Turnau ein. Bei der Besichtigung macht Ferdl Marcel auf einen Hügel aufmerksam, warnt ihn vor zu viel Risiko an dieser Stelle. „Er ist trotzdem drüberradiert und in den Wald gefahren. Marcel fuhr vom Wald zurück auf die Piste und fuhr weiter ins Ziel. Bei der Siegerehrung haben sie ausgerufen: ‚Staatsmeister in der Kombination: Marcel Hirscher!‘ Was da für ein Wirbel war, alle dachten, dass das unmöglich sei, der Hirscher ist ja im Wald gestanden. Aber er war trotzdem der Schnellste.“ Aber denkt man sich als Papa nicht spätestens dann: Okay, aus dem könnte wirklich einmal ein Großer werden? Doch Ferdl dachte und denkt ganz anders: „Nein! Man muss sich doch nur anschauen, wie viele Talente es NICHT ganz nach oben geschafft haben. Wie oft hört man in allen möglichen Sportarten: Wahnsinn, da kommt ein Talent daher! Aber ein Kreuzbandriss reicht und die Sache kann erledigt sein. Wir haben immer den Ball flach gehalten, waren immer zurückhaltend. Wollten nie, dass Marcel als Kind mit irgendwelchen großartigen Ski-Team-Austria-Rennanzügen herumläuft. Uns war immer nur wichtig: eine solide technische Ausbildung, die Basis muss passen, das Rüstzeug. Der Rest ist nicht immer steuerbar, nicht vorhersehbar.“

Außerdem gibt es auch viele Tage, an denen nicht alles so lustig ist. „Wenn der kleine Bub stürzt und vielleicht sogar blutet, dann denkst du dir: Was tust du dem Kind eigentlich an?“ Und auch die Belastungen, denen Marcel im Laufe der Jahre durch seinen Ruhm und seinen Bekanntheitsgrad ausgesetzt ist, sind für die Eltern natürlich nicht immer schön mitanzusehen. „Schwierig, wenn man derart fremdbestimmt leben muss. Der war beleidigt, der war beleidigt. Da dachte sich Marcel oft: Okay, dann mach ich halt das auch noch. Mit derartigen Begleiterscheinungen war natürlich niemals zu rechnen. Wir haben das Rennfahren ja aus Spaß an der Sache gemacht!“ Unterm Strich: „Würdest du alles wieder so machen, Ferdl?“ Die Antwort: „Ich weiß es nicht. Das Drumherum ist schon sehr zäh. Da werden einige sagen: ja, was jammert der denn, der verdient einen Haufen Geld damit. Aber wir haben das wegen unserer Leidenschaft fürs Skifahren und für die Bewegung in der Natur gemacht! Und nicht wegen irgendeinem Geld. Auf der anderen Seite: Ja, ich würde alles wieder so machen. Denn gibt’s was Schöneres, als einen herrlichen Riesentorlauf zu fahren, mit dem Tempo und den Fliehkräften zu spielen …?“

Ferdl muss nicht einmal vor Ort sein, um stets Marcels wichtigste Stütze bei der Wahl des richtigen Materials zu sein. „Ich brauch nur Videos vom Schnee zu sehen und wie die Ski drauf liegen. Im Laufe der Jahre hab ich halt ein Auge dafür entwickelt.“ So ist es unzählige Male. Marcel – der nur wenige Schwächen hat, eine davon ist allerdings mangelnde Entscheidungsfreudigkeit – überlässt Ferdl sehr oft die Letztentscheidung bei der Materialwahl. Vor allem in heiklen Situationen.

So ist es auch bei Olympia 2018 in Südkorea. Eine Reise nach Pyeongchang ist für den Papa ausgeschlossen, denn er hat Flugangst. Ferdl bleibt daheim in seiner Skischule (freeride-alpin) in Annaberg und leidet aus der Ferne mit, weil Marcel in den Abfahrtstrainings mit dem Finden des richtigen Setups kämpft. Im Endeffekt finden Marcel und sein Team beim letzten Training den Stein der Weisen und legen damit die Basis für Kombi-Gold. Nach dem Rennen bittet ein ORF-Team Ferdl in Annaberg zum Interview. In diesem Moment ruft Marcel aus Südkorea an, Ferdl hebt ab und heult wenige Augenblicke später vor Glück drauf los. Es sind Bilder, die zu den schönsten und emotionalsten in Marcels Karriere zählen.

Ferdls Akribie beim Suchen nach den entscheidenden Hundertsteln, sein „Material-Wahn“, wie es selbst Marcel bezeichnet, all das hat den Ursprung in der Kindheit. Denn Ferdl wäre selbst gerne ein Weltcup-Rennläufer geworden, von seinem Elternhaus gab es allerdings nur wenig bis keine Unterstützung. Bei einem Rennen auf Landesniveau fuhr Ferdl, damals 16 Jahre alt, gemeinsam mit David Zwilling (dem späteren Abfahrts-Weltmeister 1974) mit dem Schlepplift. Zwilling sah sich die Ausrüstung seines Mitfahrers an und meinte: „Ich glaub, es wär g’scheiter, du bleibst daheim mit dem Material.“ Ein prägendes Erlebnis. „Papa wollte danach seinen Kindern um jeden Preis so ein Schicksal ersparen“, erzählt Marcel. „Ohne ihn als Triebfeder wäre ich niemals so erfolgreich geworden. Nur so wurde möglich, was jetzt auf meinem Datenblatt steht.“ Ferdls Motto lautete: „Immer weiter, immer weiter! Wir sind noch lange nicht fertig, noch lange nicht am Ende.“ Den Satz ‚Es geht nicht besser‘ duldet Ferdl einfach nicht und steht damit in krassem Gegensatz zu all denen, die viel zu schnell zufrieden sind.“ So viele Jahre hat Marcel diese unermüdliche Unterstützung erlebt, erleben dürfen, doch er ist noch immer davon fasziniert: „Diese Genialität und dieser Wille, den Papa tagtäglich gezeigt hat, ist nach wie vor unglaublich beeindruckend für mich. Gutes war niemals gut genug.“

Der Papa gibt die Blumen aber umgehend an den Junior zurück: „Wenn man miterlebt, wie ein Athlet schon in der Vorbereitung derart massiv körperlich schuftet, dann ist ihm sein Umfeld schuldig, ebenfalls eine Topleistung zu liefern. Marcel hat mit seinem Biss alle mitgerissen. Ansonsten wäre es unmöglich gewesen, diese Intensität über so viele Jahre zu halten und immer hungrig zu bleiben.“ Und wenn Ferdl übers Materialtüfteln spricht, dann leuchten seine Augen sowieso: „Das hat doch einen Zauber, wenn man sieht, was man alles aus dem Material rausholen kann.“ Auch der Einsatz von Schneemobilen beim Training, um möglichst viele Fahrten zu absolvieren und die Abläufe zu optimieren, geht aufs Konto der Hirschers. Und dass Marcel und Ferdl auch noch beim Besichtigen der Strecke vor dem Rennen zwei bis drei Paar Ski direkt auf der Piste mit dabei hatten, zählte sowieso fast zum Alltag. Ein Musterbeispiel für die Pionierarbeit von Ferdl auf dem Materialsektor ist der von ihm ab 2010 entwickelte Schlagschutz für die Slalom-Skistecken. Aus Plastilin und einer Glasfasermatte bastelte Ferdl einen Prototypen, den er dann mit der Firma Komperdell umsetzte und salonfähig machte. Wenig später fuhr die gesamte Weltelite mit dieser Innovation.

Mikes Tagebuch-Eintrag, 16. August 2018:

Ferdl! Eine ungemein interessante Person mit zwei Gesichtern, mit zwei Welten. Auf der einen Seite: ein (Ski-)Verrückter durch und durch! Vollste Professionalität, alle Regeln werden eingehalten, ein Programm wird abgespult, alles wird für Marcels Erfolg untergeordnet, da gibt es kein Links- oder Rechts-Abweichen. Das Motto: Geht nicht, gibt’s nicht, alles wird hinterfragt! Scheinbar unmögliche Sachen werden umgesetzt. Auf der anderen Seite: Ferdl ist als Privatperson ungemein offen und interessiert an verschiedensten Themen. Prinzipiell ist er, wie Marcel, das Gegenteil eines Rockstars: keine Alkoholpartys, keine Skandale. Einfach alles gut bedacht, sehr bodenständig, er bildet sich nicht ein, jemand Besserer zu sein. Fanatismus und Perfektionismus, gepaart mit einer gesunden Portion Menschlichkeit und Freundlichkeit – das sind Ferdls zwei Gesichter. Und gleichzeitig auch jene von Marcel! Die beiden können sich wirklich nicht abstreiten! Marcel ist eben ein Produkt aus Ferdl und Sylvia. Auch sie sieht die Sachen immer sehr nüchtern, ist immer total bescheiden, lieb – halt eine richtige Mama!

Matthias „Hiasi“ Walkner

Es gibt nur einen Sportler, der mit derselben Erfolgsmedizin geimpft ist wie Marcel Hirscher. Kein Skifahrer, sondern Österreichs Motorsport-Held Matthias Walkner, der 2018 als erster Österreicher die Motorradwertung der legendären Dakar-Rallye gewinnt. „Wenn Hiasi seine Abenteuergeschichten von der Dakar erzählt, komm ich mir als Skifahrer immer ziemlich langweilig vor“, sagt Marcel voller Bewunderung.

Es ist Ende der 1990er-Jahre. Die beiden Papas Ferdinand (Hirscher) und Matthias senior (Walkner) sind Motocross-Kollegen. Die Söhne Marcel und Matthias junior lernen einander aber beim Skifahren kennen. Es folgt die Zeit, in der die Jungs ihre sportlichen Karrieren vorantreiben, jedoch in unterschiedliche Richtungen: Marcel als Skifahrer, Matthias auf dem Motorrad. Man verliert sich ein wenig aus den Augen. 2009 gewinnt Marcel sein erstes Weltcup-Rennen in Val d’Isere. Zur Spontan-Party in Annaberg kommt auch Matthias. Die alten Kumpels sind wieder vereint – und bleiben es auch. 2010 bietet Ferdl Hirscher Matthias seine Hilfe beim Motocross-Training an. Hiasi nimmt natürlich dankend an. Was folgt, ist sechs Jahre lang Leidenschaft pur. Ferdl kniet sich in die Arbeit mit dem Zweirad-Talent keinen Millimeter weniger als in jene mit Marcel hinein. „Die beiden Hirschers haben mir die Augen geöffnet, wie sehr man einen Sport ausreizen kann. Sie kitzeln genau diese drei, vier Prozent frei, mit denen Marcel dann eben ein paar Hundertstel schneller ist als alle anderen. Oder mit denen du dann die Dakar-Rallye gewinnst.“

Matthias ist beeindruckt und dankbar: „Ferdl hat das immer komplett unentgeltlich gemacht. Einfach aus Leidenschaft. Er wollte helfen, weil er nicht einsah, dass nur Skifahrer oder Fußballer Unterstützung bekommen.“ Und weil Motocross neben Skifahren seine zweite große Sportliebe ist. Nach einem WM-Rennen von Matthias Walkner in Loket in Tschechien fährt Ferdl am Abend zurück nach Österreich. Um zwei Uhr nachts läutet bei Matthias das Telefon. „Der Ferdl war’s. Ich dachte mir: Mist, der hat eine Autopanne. Aber er hat nur gesagt: Ich hab die Videos vom Rennen analysiert. In der einen Kurve bist du fürchterlich gefahren, das musst du morgen besser machen.“ Wenn sich Walkner bei manchen Trainings richtig gut fühlt, sieht Hirscher senior das meistens ein wenig anders: „Walkner, heut bist einen schönen Scheiß zamg’fahren.“ Aber man kann ihm niemals böse deswegen sein. „Hart und direkt, aber fair, das ist seine Art. Denn man wusste immer: Er will wirklich nur das Beste für einen. Und wenn ein Trainer so wie der Ferdl bereit ist, so viele Entbehrungen auf sich zu nehmen, und so Gas gibt, dann geht man auch als Athlet übers Limit.“ Eines der größten Rätsel und Phänomene in Marcels Karriere ist seine unglaubliche Nervenstärke. Auch dafür hat „Hiasi“ die Erklärung parat. Ferdl stellt Marcel schon in der Kindheit rund um die Stuhlalm immer wieder vor Übungsaufgaben: über Steine zu hüpfen und zu balancieren, auf einen kleinen Hügel zu klettern zum Beispiel. „Dabei wollte er nie, dass er der Beste oder Schnellste ist. Marcel sollte immer nur sein Maximum versuchen, das Beste aus sich herausholen.“ So ist Marcel aufgewachsen: Wenn er seine „Hausaufgaben“, sprich das Training und die Materialabstimmung, nach allerbestem Wissen erledigt, dann kann er mit einem guten Gefühl in den Tag X gehen. Wenn dann einer besser ist, dann kann er auch nichts machen. „Wie vor einer Mathematik-Schularbeit. Da weißt du ja tief in dir drinnen auch, ob du perfekt vorbereitet bist oder einfach mit dem Lernen zu spät begonnen hast.“ Es sind Sätze, die von Marcel selbst sein könnten. Die Marcel vor wichtigen Rennen immer und immer sagt. Und die offenbar wirklich aus seinem Innersten kommen. „Marcel wusste immer, was er dem Ganzen untergeordnet hat. Das gab ihm ein Gefühl der Sicherheit, das hat ihn im Kopf so stark gemacht.“ Wenn Walkner seinen Freund bei den Rennen sieht, muss er sich oft die Augen reiben: „Privat ist er ruhig, entspannt, manchmal schon auch impulsiv. Aber dann steht dieser Killer im Starthaus und liefert unglaubliche Leistungen ab.“ Hiasi ist sich sicher, dass Marcel auch als Fußballer oder Tennisspieler Karriere gemacht hätte. „Ein unglaubliches Bewegungstalent!“ Als Walkner nach seinem Dakar-Sieg selbst in den Fokus der Presse und Öffentlichkeit gerät, holt er sich Tipps von Marcel. Dafür gibt’s umgekehrt Ratschläge für die Motocross-Piste. Wie stellt sich der Ski-Star auf dem Bike an? „Für einen Skifahrer ganz brav.“ – Worte, die aus dem Mund eines Ferdl-Hirscher-Schülers fast wie euphorisches Lob zu verstehen sind.

Fiese Tricks beim Schülerrennen

Kinder und der Leistungsdruck. Ein viel diskutiertes Thema. Über das nicht zuletzt Marcels Papa Ferdl stundenlang erzählen könnte. „Spätestens im Kindergarten und dann in der ersten Klasse Volksschule geht dieser Druck des Lebens für unsere Kinder los“, weiß Ferdl. Für den es deshalb nie eine Option war, Marcel in ein Ski-Internat zu stecken. „Da hätte mir das Herz geblutet. Die ganze Woche nicht da, Samstag und Sonntag Rennen, dann Wäschewaschen und am Montag um sechs Uhr früh wieder ins Internat? Das entspricht nicht meinen Vorstellungen, das wollte ich Marcel nie antun.“

Mit zehn Jahren steht Marcel am Start eines Nachwuchsrennens. Der Vater eines Konkurrenten sagt zu ihm: „Hirscher, pass auf, beim fünften Tor kommt schon das Gras raus. Da hat’s die Leute reihenweise aus der Bindung rausg’haut, einer hat sich sogar den Haxn brochen!“ Marcel nimmt Tempo raus, kommt zur vermeintlichen Problemstelle. „Und was war? Gar nichts, kein Gras, sondern alles bestens! Er wollte nur, dass ich unnötig abbremse …“ Im Alter von 13 Jahren werden Marcel im Startbereich eines Rennens in Hinterstoder sogar die Skier gestohlen. Papa Ferdl erinnert sich: „Auf einmal war ein Papa von einem anderen Läufer mit Marcels Skiern dahin! Ich hab ihn noch erwischt und gefragt, was das denn soll? Er meinte, dass er unabsichtlich die falschen Ski erwischt hat. Was natürlich ein Blödsinn war, denn Marcels Name stand gut sichtbar auf den Skiern …“

Es sind Psycho-Spielchen und fiese Tricks wie diese, die im Nachwuchsbereich keine Seltenheit, ja, fast gang und gäbe sind. Als Marcel 14 Jahre alt ist, werden Studien präsentiert, die angesichts der damals neuen Carving-Ski besagen: „Wenn die Kinder mit denen fahren, dann können sie mit 18 nicht einmal mehr gehen!“ Was Marcel damit sagen möchte: „Das hat dem Papa schon ordentlich zu denken gegeben. Hätte er das alles für bare Münze genommen, wäre meine Skikarriere mit 14 zu Ende gewesen.“ Der raue Wind im Nachwuchsbereich macht den Hirschers aber Sorgen. „Wir haben uns gedacht: Habe die Ehre, wenn das jetzt schon so ist, wie wird das dann erst im FIS-, Europacup- oder sogar im Weltcup-Bereich? Es war jedoch genau das Gegenteil. Je höher das Niveau wurde, desto respektvoller war der Umgang.“ So war’s dann auch bei Marcels Aufstieg innerhalb des Skiverbands Richtung Weltcup-Gruppe. „Die damaligen Stars waren sehr hilfsbereit, sind mir mit Rat und Tat zur Seite gestanden.“

Ein entscheidender Mosaikstein hat Marcel jedoch gefehlt. „Niemand hat mich auch nur im Geringsten darauf vorbereitet, was passiert, wenn du mit Anfang 20 als Österreicher den Gesamt-Weltcup gewinnst, im Rampenlicht stehst und bei der Heim-WM in Schladming Weltmeister wirst.“ Genau aus diesem Grund ist es Marcel auch jetzt nach dem Ende seiner Karriere ein entscheidendes Anliegen, seine Erfahrungen und Erlebnisse an Kinder, Jugendliche, Talente weiterzugeben. „Es braucht ein Heranführen an solche Situationen. Eine Ausbildung, was es heißt, eine Person der Öffentlichkeit zu sein.“ Denn es ist kein Geheimnis, dass Marcel genau dieser Teil des Lebens als Superstar am meisten Kraft gekostet hat. Eine Studie kommt sogar zu dem Ergebnis, dass Marcel in den letzten zehn Jahren seiner Karriere jener Österreicher war, der die meisten Interviews gegeben hat, Politiker inklusive. Deshalb sagt Marcel auch heute ganz ehrlich: „Ja, das Skifahren vermisse ich! Aber dieses permanente Beobachtetwerden und immer Leistung abliefern zu müssen, das vermisse ich nicht.“

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