Читать книгу: «Miló», страница 2

Шрифт:

Miló stellt sich vor, er sei sein Landsmann Bassanesi. Er erhebt sich im Flug über den See. Neben ihm in der Kanzel des Farman F200 sitzt seine Mutter Joséphine-Amérique, die aufgehört hat, Zigarren zu rollen. Jetzt überfliegen sie die Savoyer Alpen, der Eindecker verwandelt sich in einen rosa Phönix, der bis nach Fénis fliegt, dort macht er ein akrobatisches Manöver à la Ramón Novarro und setzt seine Mutter auf einer Wiese mit blühenden Weidenröschen ab; dann steigt er wieder auf, kehrt um und holt seine Verlobte Anna, die einen Mantel mit Fuchskragen trägt, aber darunter ist sie eine splitternackte Sirene und singt, wie die Sirenen für Odysseus auf dem Schiff.

4

Zu Beginn des Sommers 1934 verlässt Miló das Zuchthaus und überquert den Großen St. Bernhard; aber ohne Napoleons Berberstute … Innerlich nimmt er die Radtouren an den Ufern des Genfersees mit, das Paradies oberhalb der Veveyse, das Geklimper des Gefängniswärters, der im Vorbeigehen an die Gitterstäbe des Zellenfensters schlägt, Bassanesis Riesenvogel; und jenes Wort, das er nicht vergessen kann: «unerwünscht». Er hat Anna verlassen, die nun ihre Kunden in den Cafés sucht, wo sie sich für wenig Geld verkauft, und in den Nachtlokalen, in denen sie sich als Tänzerin ausgibt; auch sie wird die Strafanstalten kennenlernen. Auch sie wird ausgewiesen werden, un­­erwünscht.

In Italien strengt Miló sich an. Er lernt Roulette spielen wie die schicken Krawattenträger in Vevey, die er durch die Scheiben sah, wenn er an den Luxushotels vorbeiging. Auch er ist jetzt ein vornehmer Herr. Er fährt einen Balilla und hat stets ein Hündchen dabei, setzt in den Spielcasinos auf Rot und auf Schwarz: Er hat eine Methode entdeckt, die es ihm ermöglicht, zu gewinnen und ein schönes Leben zu führen. Bei Frauen ist er begehrt.

Hier ist er in Venedig. In der Rechten die Zigarette wie ein Geschäftsmann, die Linke in der Tasche des Mantels, den er mit dem Geld vom Roulette gekauft hat: im Hintergrund die Piazza San Marco, Touristen mit Tauben und Fledermaus-Carabinieri. Auf einem anderen Foto ist er in Nizza, mit Clownshose und Clownshut, in einer Gruppe, die von einer Ziehharmonika bei Laune gehalten wird. Im Jahr 1936 löst er das Überlebensproblem in einer Kaserne von Turin, viertes Bersaglieri-Bataillon: Er ist italienischer Staatsbürger und muss seinen Militärdienst ableisten. Der piemontesische Feldwebel begrüßt ihn mit dem Schrei: «Valdustàn patata» …

Nach dem Militär kehrt er zu seinem Onkel nach Aosta zurück. Die Gebirgsstadt empfängt ihn mit rauen Straßen, engen Gassen, Handwerksbetrieben. Auf dem Marktplatz sieht er Bergbauern mit gegerbten Gesichtern, Kinder, die barfuß um Almosen betteln, den Scherenschleifer mit seinem Karren, die fliegenden Händler und die Gemü­sefrauen; ihm aber fehlt die blaue Luft des Sees. Die Stadt gefällt ihm wenig mit den traurigen Steinquadern des Römischen Bogens und den faschistischen Samstagen, den Fähnchen und Standarten, den Tugenden der Faschistischen Jugend, dem strahlenden Horizont, den Worten, die aus dem Radio tönen:

«Die Sonne geht auf, es kräht der Hahn, o Mussolini, aufs Pferd, wohlan!»

Vor dem Bahnhof stehen Statuen von Cäsar und Au­gustus. Wenn er den Blick hebt, sieht Miló die Berge; doch ihm fehlen die anarchistischen Freunde von den Baustellen in der französischen Schweiz. Auch wenn die Straße, in der er wohnt, ihn an gewisse enge Straßen in Vevey erinnert, wo er sich als Kind herumtrieb und von der Schleuder Davids träumte.

Er wohnt in der Via de Lostan in einem Reihenhaus bei seinem Onkel Baccio, der als Schmied arbeitet, und nimmt seine Tätigkeit als Anstreicher wieder auf. Doch bald erfasst ihn die Sehnsucht: Was wohl seine Mutter in Vevey macht? Umwickelt sie immer noch poupons in der Fabrik? Ist ihre Arthritis schlimmer geworden? Er hat sie seit mehreren Jahren nicht gesehen und beschließt, sie zu besuchen: Am 29. Juli – wenn der Weizen reift, wie sie beim Barras in den Osterien von Turin sangen – macht er sich auf Ziegenpfaden auf den Weg. Kein Weizen, allerdings. Keine kleinen Mädchen «mit einer Rose in der Hand», sondern Steinhaufen voller Vipern und das plötzliche «Halt! Wer da?» des Schweizer Gendarmen, der auf dem Großen St. Bernhard Dienst tut: Sie nehmen ihn fest, entdecken, dass er aus der Schweiz ausgewiesen wurde, und übergeben ihn dem italienischen Wachtmeister, der sich darum kümmert, ihn «angemessen» zu verhören und zum Sprechen zu bringen, um ihn in Handschellen ins Gefängnis von Aosta zu überführen. Auf dem Fahndungsfoto des Polizeipräsidiums hat der Flüchtling eine geschwollene Nase und verquollene Augen. Sie geben ihm drei Monate und zweitausend Lire Geldstrafe. Doch dann hat Maria Pia von Savoyen die gute Idee, auf die Welt zu kommen, und es gibt eine Amnestie: Der Allmächtige, unendlich Gütige und Gerechte hat die gekrönten Häupter nach seinem Bilde geschaffen, um die Unerwünschten zu begnadigen.

Begnadigt und überwacht. Niemand kann ihn allerdings daran hindern, sich zu verlieben. Lässt die Liebe nicht selbst die Esel tanzen? Eines Tages arbeitet er als ­Anstreicher auf dem Gerüst an der Entbindungsstation, als er eine magere Krankenschwester mit lächelnden schwarzen Augen vorbeigehen sieht: Es ist Ida, die Kleine aus den Abruzzen. Sie hat ihre Heimat am Meeresufer, wo sie sich eingesperrt gefühlt hat, für die Berge im Norden verlassen. Ihre Brüder arbeiten bei Cogne, sie schuftet hier. Und nun steht dort dieser kräftige Bursche mit dem Schnauzbart: Die Pinsel in der Hand, hält er inne und sieht sie verzaubert an. Er gleicht dem Schauspieler aus dem Film, den sie im Filmtheater Politeama Vittoria gesehen hat. Sein Po ist wohlgerundet, wie er da auf der Leiter balanciert. Seine Augen dunkel wie die Blüten der Akelei. In ihren Augen funkeln Sternchen. Sie unterhalten sich. Und heiraten am 13. April 1940. Die wichtigen Dinge geschehen immer im April.

Miló findet eine Stelle bei Cogne in der Mechanikerwerkstatt, Abteilung Eisenlegierungen. Die große Fabrik befindet sich im Süden der Stadt, wo ein Wildbach in die Dora fließt.

Er bekommt einen Arbeiterlohn, arbeitet aber als Angestellter:

«Bist du Parteimitglied?», fragt ihn der Personalchef, als er sich vorstellt.

«Wollt ihr jetzt einen Faschisten oder einen Angestellten? Wenn ihr einen Angestellten wollt, bin ich dabei.»

Der Betrieb arbeitet auf Hochtouren für den Krieg. Stahl für Eisenbahnschienen, Waggons, Kanonen, Flugzeuge, Schiffe, Panzer, leichte Waffen, Geschosse. Der Krieg. Nach der Eisenbahnüberführung sieht Miló, wenn er zur Arbeit geht, über dem Hauptgebäude des Stahlwerks die Schrift mit den weißen, fensterhohen Buchstaben: Duce Duce Du­ce. Und vor einigen Monaten hat man der Belegschaft die ­Regeln des faschistischen Arbeiters ausgehändigt, ­die folgendermaßen beginnen: «Erinnere dich, dass Mussolini immer recht hat.» Und so enden: «Arbeite und schweig.» Dazwischen wird an einer Stelle dazu aufgerufen, die aufrührerischen «Schwachköpfe», die behaupten, etwas von Politik und Strategie zu verstehen, unerbittlich niederzumachen: «Hab absolutes Vertrauen zu Demjenigen, der – in Rom – die Verantwortung für alles trägt. Er genügt für alle.»

Die Bewohner des Aostatals arbeiten bei Cogne, auf diese Weise brauchen sie nicht zu emigrieren: Der Krieg mit seinen Haien, Spekulanten und der Todessense kommt ihnen zu Hilfe. Die meisten sind Bauern, nach der Arbeit gehen sie heim zum Heuen und Stallausmisten. Sie haben zwei Arbeiten, das Tal hört auf, sich zu entvölkern. 1936 hat der Faschismus in Spanien seine Generalprobe abgehalten. Drei Jahre später ist Mussolini in das kleine Rom der Alpen eingezogen, durch einen M-förmigen Bogen gegenüber dem des Kaisers Augustus. Und jetzt marschieren bei Cogne die fürchterlichen Deutschen ein: Die verstehen was vom Tod! Und im Mai 1943 wird man deutlich sehen, was der Krieg wirklich ist, was übrigbleibt vom Bataillon Monte Cervino, das in den Steppen des Don zur Schlachtbank geschickt wurde … Die jungen Hasen kommen in Waggons zurück, auf denen steht: W i lupi della steppa – Ein Hoch auf die Steppenwölfe. Den gefeierten, mit Blumen und Schlachtrufen empfangenen Alpini bleibt nichts, als sich an die Flasche zu hängen: Die wenigen Überlebenden können den Bischof über die Barbarei der Roten und der Engländer reden hören und abends mit Freikarten ins Filmtheater gehen: Der Sieg ist ein Kinomärchen.

Seit Ende des Jahrhunderts, als die Cholera ein Massaker angerichtet hat, gibt es im Tal keine Arbeit mehr; Felder, wo man etwas anbauen kann, gibt es wenige, die Ernten sind karg und die Steuern hoch. Also wandert man aus: nach Paris, um Taxi zu fahren, in die französische Provinz, in Schweizer Städte, nach Amerika; Milós Mutter hat Vevey gewählt. In einigen Dörfern des Hochtals hängen in den Geschäften die Fahrpläne der Überseedampfer aus. In der Osteria flucht man: «Scheißitalien, hauen wir ab!»

Jetzt aber ist es genug: Man arbeitet bei Cogne, und in der Stadt ist sogar ein neues Viertel entstanden, wo die Arbeiterfamilien wohnen, die häufig aus dem Veneto und aus Kalabrien stammen oder Ausländer sind. Das zertrüm­merte Erz wird mit Loren aus dem Bergwerk und dann mit einer Seilbahn bis zur Fabrik in Aosta transportiert: Hochofen, Stahlwerk, Walzwerk. Die Bewohner des Aosta­tals sind stark und gelehrig. Die Gießerei ist die Hölle: Hochöfen zum Schmelzen des Stahls bei Temperaturen von 1500 bis 2000 Grad, Getöse der Walzstraßen, Kräne, die Schrott wegräumen, Spritzer von geschmolzenem Stahl beim Guss. Der größten Gefahr sind die Schlangenlenker ausgesetzt, die am Ausgang und am Eingang der Walzen mit riesigen Zangen die Rundstahl- und Vierkantstäbe steuern. Tust du einen falschen Schritt oder verpasst den richtigen Moment, wirst du von der glühenden Schlange erfasst. Außerdem bringt die Schichtarbeit den Rhythmus des täglichen Lebens durcheinander: Eine Woche steht man vor Sonnenaufgang auf, in der nächsten Woche arbeitet man bis spät und kommt erst mitten in der Nacht nach Hause, in der dritten Woche schläft man nachts überhaupt nicht.

Unter den Arbeitern fühlt Miló sich wohler als unter den Bauern, die ständig am Schwanz ihrer Kuh hängen. Er beginnt, den historischen Materialismus zu studieren, organisiert Versammlungen bei sich zu Hause in der der Via Croix de Ville Nummer zwei. Er ist einer der «Besserwisser, die behaupten, sie verstünden etwas von Politik». Ida, die inzwischen die kleine Renata bekommen hat, gönnt sich einen Tapetenwechsel und fährt für einige Monate in ihre Heimat, die Abruzzen, während Miló zum Lehrer wird für Emilio, Alfredo, Augusto und Italo, alles Cogne-Arbeiter: Sein Freund Lino Binel, der in Mailand Inge­ni­eur geworden ist, hat ihm Das Wesen des Marxismus gegeben, und er macht auf losen Blättern Zusammenfassungen: «Was versteht man unter Ware? Als Ware müssen alle durch menschliche Arbeit geschaffenen Dinge verstanden werden … Denn der Wert einer Ware ist nichts anderes als die Arbeit, die zu ihrer Produktion aufgewendet wurde …» Worte, bei denen man begreift, wie die Hölle funktioniert und wie erbarmungslos sie ist. Ende 1942 schreibt Miló an seine Frau: «Meine Schüler rauben mir all das bisschen Freizeit, das ich habe.»

Unterdessen macht der Faschismus mit seiner Angeberei weiter. Doch nicht alle heben den Arm mit der ausgestreckten Hand. Manche «Schwachköpfe» treffen sich nachts in der Vorstadt oder am Ufer der Dora, um zu bera­ten. Einer davon heißt Jean Chabloz und gehört einer Un­tergrundzelle an: Sein Deckname ist Carlo. Er ist in Frankreich Kommunist geworden, nachdem er die Ziegen des Aostatals mit einem Pariser Taxi vertauscht hat. Während er auf Kunden wartete, konnte er Zeitungen und Bücher lesen, verstehen, wie es in der Welt läuft. Er hat sich einen goldenen Ring machen lassen, auf dem eine Emaille mit dem Foto seines Sohnes angebracht war, innen eingraviert Hammer und Sichel mit den Initialen seines Namens. Die frühen Dreißigerjahre hat er in Paris erlebt, so wie Miló in Genf. Und nun, im Frühjahr 1943, erreichen die Nachrichten über Streiks in den Fabriken von Mailand und Turin allmählich auch das Tal, und es sind auch ein paar rote Fahnen aufgetaucht. Die faschistischen Schlägertrupps drohen mit Schlagstöcken und Pistolen, aber die Arbeiter reagieren, indem sie Bolzen werfen.

In der Stadt spielen die «Schwachköpfe» dem Regime lustige Streiche: Dem römischen Kaiser, der auf die Gipfel schaut, wird eines Nachts eine Kette aus steinharten Broten um den Hals gehängt, zusammen mit einem Schild, auf dem steht: Augustus, kannst du mit deinem Bronzemagen dieses Brot verdauen? An manchen Häusern tauchen Sprüche auf wie: Brot und Pasta, mit Duce ist jetzt basta. Und in der Fabrik organisieren sie kleine Sabotageakte der Kriegsproduktion: langsam arbeiten, Material verschwenden …

Am 25. Juli, einem Sonntag mit leuchtenden Wolken über den Höhen, kann der piemontesische Schuster in der Via Croix de Ville endlich verkünden:

«Er ist gestürzt! Er ist gestürzt!» Es ist, als setzte ein plötzlicher Rausch die Luft in Brand, ein unruhiges Glücksgefühl: Das obszöne Maul der römischen Wölfin, die von der Säule gegenüber dem faschistischen Parteibüro alles dominiert, muss dem federnden Schritt des Fuchses weichen, der die Freiheit schnuppert. Anmut und Schlauheit statt Grausamkeit.

Miló beteiligt sich an dem Trubel auf den Straßen der Stadt, er reißt die Abhörwanzen der Faschisten herunter, die Plakate, die «Glauben-Gehorchen-Kämpfen» predigen. Noch einmal wird er verhaftet, auf die Polizei und ins Gefängnis gebracht. Nur kurz allerdings: Die Tage folgen aufeinander, aber sie verändern sich.

5

Nicht alle wissen, wo das Clavalité-Tal liegt. Das Wort lässt an einen Knüppel denken, mit dem man der faschistischen Republik den Kopf einschlagen kann, an ein Tal, das man durchqueren kann, an die berühmte égalité, von der in den Geschichtsbüchern die Rede ist. Es vermittelt ein Gefühl von Öffnung, von Aufatmen, sogar von Adel; man könnte meinen, Monsieur de Clavalité mit dem Falken auf der Schulter auf die Burg von Fénis reiten zu sehen. Lauscht man der Melodie des Wortes, kann man an den Wind denken, der weit durch die Pinien, Lärchen und Flaumeichen braust, an die hungrigen Füchse, die nachts durch die Niederungen streichen. Jetzt jedoch gibt es keinen Monsieur, keine Fantasien: Und die Füchse sind die Rebellen, die hier ihre Höhle gebaut haben, die jeden Tag Waffen, Esskastanien, Reis und Tabak herbeischaffen und dafür sorgen müssen, ihre Haut zu retten. In dieser Senke, die in Friedenszeiten einer sanft gewellten Lichtung voll guter Kräuter gleicht, wohnt nun die Angst.

An diesem Abend eilen Milós Gedanken unter dem Wintermond dahin: Wird Sterben wirklich sein, als erwachte man aus tiefem Schlaf? Steif vor Kälte kehrt er von einem seiner Erkundungsgänge im Tal zurück, und plötzlich fällt ihm dieser Kinderreim ein, das Jahr im Sprichwort: «Ein Baum hat zwölf Äste, jeder Ast hat vier Nester, jedes Nest hat sieben Junge, jeden Tag fliegt eines fort und das nächste kommt.» Den sagte ihm seine Großmutter in Fénis immer vor, wenn er als Kind in den Ferien aus Vevey zu ihr kam mit Mama Joséphine, die jetzt dort in der Schweiz bestimmt an ihren Sohn denkt, während er am Rand des Abgrunds geht.

Jeden Tag fliegt eines fort und das nächste kommt: Wie viele Tage mögen vergangen sein, seit sie sich in der Wohnung in Aosta versammelt haben? Es war am Abend des ­­8. September, Badoglio hatte den Waffenstillstand mit den Alliierten verkündet. Doch in den Zeitungen wurde die Meldung mit einem Trauerrand veröffentlicht. Was war da los? Der berühmte Badoglio, der Herzog von Addis Abeba, hatte gesagt: «Der Krieg geht weiter.»

Miló dachte: «Wenn der Krieg weitergeht, geht auch der Faschismus weiter.» Und er hatte beschlossen, jene Versammlung in der Wohnung in der Via Croix de Ville zu organisieren. Binel nahm teil, der ihm die Artikel von Gramsci gegeben hatte und am 25. Juli mit ihm zusammen verhaftet worden war; Chabloz kam, der mit Ivrea und Turin Verbindung hielt, und einige Cogne-Arbeiter waren da, die Brot und Frieden auf die Mauern der Stadt geschrieben hatten. Ida stand auf dem Balkon Schmiere, und im Erdgeschoss hörte man die Schritte einer hinkenden Frau, während an der Straßenkreuzung die faschistische Miliz vorbeimarschierte. Wie viele Tage ist das her?

Miló erinnert sich an die Septemberabende, als sie beschlossen hatten, ins Gebirge zu gehen. Was hatte ihn zu diesem Entschluss bewegt? Ein Wind, der aus seiner Schweizer Jugend herüberwehte, von den Gerüsten, auf denen er den Ungehorsam erlernt hatte, von den erlittenen Demütigungen, dem Faustschlag der flics mitten ins Gesicht, von seiner Mutter, der Zigarrenarbeiterin, die schnell am Genfersee entlangging, von den freien Möwen, die er am Himmel über dem See hatte fliegen sehen. Es war ein Wind, der ein neues Wort unter die Menschen brachte, eine Hoffnung auf Gerechtigkeit. Nun warfen die Soldaten des königlichen Heeres die Koppeln fort und liefen davon, die Offiziere machten sich aus dem Staub, der Staat brach zusammen, und die Bourgeoisie machte sich in die Hose, der König, seine Generäle und Höflinge waren nur darauf bedacht, ihre Haut zu retten: Was sollte man tun? Was bedeutet «Waffenstillstand»? Miló und die anderen entschieden, für diese neue Hoffnung zu kämpfen.

Miló stapft durch den Schnee des Clavalité-Tals. Aosta ist weit, und der Winter ist auf über tausend Metern ein elendes Vieh. Die Aufständischen – die Banditen, sagen die anderen – sind etwa ein Dutzend, wie die Äste des Baums in dem Kinderreim, aber die Faschisten der Republik von Salò denken, dort oben seien mehr als hundert, und wagen nicht anzugreifen.

Um den Unterschlupf zu erreichen, hat er den Maultierpfad eingeschlagen, auf der einen Seite im Mondschein bleiche Felszacken, auf der anderen Schluchten und Abgründe. Gib gut acht, wohin du deine Füße setzt. Das Knirschen der Klettereisen begleitet die sich überschlagenden Gedanken. Miló denkt an seine Frau Ida: Sie ist als Stafette im ganzen Tal unterwegs, und eines Tages erschien sie bei einem solchen Schneesturm mit einem Paket oben in der Berghütte, dass sie selbst nicht wusste, wie sie das geschafft hatte. Sie näht Schulterriemen und Säckchen für die Handgranaten, sogar eine Nähmaschine haben sie ihr in die Hütte gebracht. Ida macht auch den Vierten beim Kartenspiel mit den Männern der Bande und hat Verbandsmaterial und Mullbinden im Schrank. Sie backt Pizza und kocht Spaghetti. Sie hat keine Angst. Sie nimmt den Zug bis Pont-Saint-Martin, dann läuft sie hinauf bis Gaby. In Ivrea geht sie auf den Markt, um Hosen und Hemden für die Bande zu kaufen. Doch nun ist sie wenigstens in Sicherheit mit Renata, ihrer kleinen Tochter, die ein Jahr nach der Hochzeit geboren wurde. Sie hat einen gefälschten Personalausweis: Ins Gebirge zu gehen war auch für sie eine Entscheidung auf Leben und Tod.

Es ist anstrengend, durch den Schnee zu stapfen, doch heute Abend erhellt der Vollmond den Schritt. Der Mond lässt Füchse und Gedanken tanzen. Und plötzlich erscheint auf dem Weg tsamba de bouque, der in den Voll­mond­nächten über die Felder strich, bewaffnet mit einer Sense. Das ­Hinkebein. Wenn er einen Menschen traf, verfolgte er ihn, um ihn mit seiner Waffe zu töten, so erzählte die Großmutter im Stall von Fénis; aber man braucht sich nur hinter einem Baum zu verstecken, dann geht tsamba de bouque davon. Au claire de la lune je l’ai vu, à l’ombrette je l’ai perdu …

Miló flüchtet sich in den Bauch einer Felsspalte, um ge­schützt eine Zigarette zu rauchen. Sorgsam achtet er darauf, das Flämmchen zu verbergen. Wie viele Tage sind seit dem 8. September verbrannt, wie viele Vögel aus dem Nest fortgeflogen, seit die Rebellen entschieden hatten, nein zu sagen? Die ersten wohnten in der Berghütte von tante Pélagie, dann sind sie auf neunhundert Meter hinaufgestiegen, und jetzt noch höher, auf zwölfhundert, wo sich ein weiter Himmel über das Matterhorn und den Monte Rosa spannt: gegenüber das Valtournenche, das Tal mit den Strommasten, die gesprengt werden sollen. Von dort oben überblickt der Wachposten die große Straße am Talboden.

Miló denkt an die Bande: an den Backofen, der im Bau ist, den Generator, den sie zu konstruieren versuchen, das Holz, das auf die Axt wartet, die Auseinandersetzungen um die Gemeinschaftskasse, das Kalb, das geschlachtet werden soll, das Roggenmehl, das sie für die peilà beschlagnahmen müssen, die Unterstützung seitens der Bevölkerung, die immer mehr abnimmt. Und dieser miese Kerl aus Fénis? Man hat ihn sagen hören: «Wenn der Krieg noch zehn Monate weitergeht, brauche ich nie mehr zu arbeiten.» Und auch diesem anderen Erzfaschisten vom Schwarzmarkt muss man einen Besuch abstatten …

Ein Schritt, noch ein Schritt. Zur Bande gehört auch Victor, der Engländer: Eines Tages hat er sich im Dorf mit Grappa volllaufen lassen, die Genossen mussten ihn zurückschleppen und haben ihn mit Wassertragen und Ausschluss von den Aktionen bestraft. Außerdem ist da noch der andere Engländer, sie nennen ihn «Lord», und Italo ist eifersüchtig auf ihn, weil er ihm beim Tanz die Frau ausspannt. Es gibt Reibereien zwischen ihnen, und einige drohen, sich abzuseilen und wieder zu Cogne zu gehen. Kürzlich ist Michele zu uns gestoßen, der monatelang in Montenegro war als Maschinengewehrschütze beim vierten Regiment der Alpini. Er hängt an der Flasche, und wenn er betrunken ist, legt er sich mit jedem an. Aber es gibt auch gute Neuigkeiten: Am 25. Januar sind die Engländer bis vierzig Kilometer vor Rom vorgedrungen, hieß es in Radio London.

Mühsam setzt Miló im Schnee ein Bein vor das andere. Das Militärkommando fällt ihm ein, das seiner Bande kaum Beachtung schenkt, weil sie sagen: Das sind Kommunisten, die wollen keine Autonomie. Doch bedeutet es, wieder neue Zäune zu ziehen, wieder andere Mauern zu bauen, wenn man die Freiheit will? Das Aostatal ist nur ein kleines Fleckchen der weiten Welt, die man aus den Ketten befreien muss.

Sie haben einen Ofen in die drei Berghütten getragen, wo ihr neuer Sitz ist, haben Betten und Schränke gebaut, die Musketen gelagert, das Hotchkiss-Maschinengewehr und die Breda mit der Munition, die Handgranaten und die Pistolen. Nebendran steht ein alter Brunnen: La Suelvaz heißt der Ort. Es klingt wie der Name eines Indianerverstecks.

Im September sind als Erste Silvio, Toio, Pierino, Italo, Giovanni, Arturo und die beiden versprengten Engländer mit ihm hinaufgegangen. Eines Nachmittags erschien Chabloz in Begleitung eines ehemaligen Freiwilligen aus dem Spanienkrieg, der Gemsen jagen wollte; doch er hat sich geweigert, die Munition ist knapp. Jetzt sind neue Elemente dazugekommen. Unter anderem ein Gefreiter der Miliz, der Partisan werden will. Kann man ihm trauen? Ist er vielleicht ein Spitzel? Und außerdem haben die Besitzer von La Suelvaz gesagt, sie müssten weg, die Faschisten zeigen die Krallen, die Bevölkerung in Fénis hat Angst, die Deutschen kontrollieren. Werden sie noch weiter hinauf ziehen müssen, nach Morgnetta, ins Jagdhaus von Baron Peccoz? Während er zwischen weißen und schwarzen Schatten vorangeht, denkt Miló an alle diese Dinge: Er ist der Anführer der Bande. Den Mittelpunkt seiner Gedanken bilden die Sabotageakte, jetzt plant er einen großen Coup beim Kraftwerk von Covalou im Valtournenche. Dafür braucht es Disziplin, aber nicht diesen stumpfsinnigen Gehorsam der Marionetten der faschistischen Pseudorepublik: Die Rebellen müssen ihre Disziplin freiwillig, aus Überzeugung aufbringen. Am 21. Fe­bruar schreibt der Kommandant ins Tagebuch der Bande:

Schwere Disziplinlosigkeit hat sich Giordano zuschulden kommen lassen. Im Auftrag von Miló sollte er mehrere barres à mine und ein Rohr holen, Material, das zur Ausführung eines Sabotageakts benötigt wurde; er hatte versichert, das Material werde im Lauf des Tages bereitgestellt. Er ist erst nach fast zwei Tagen zurückgekehrt und kann seine Abwesenheit nicht rechtfertigen. Würde ich es ihm vorwerfen, wäre es ungerecht, da auch andere Ban­denmitglieder in ähnliche Fehler verfallen sind. So kann es nicht wei­tergehen. Es ist absurd, eine Rebellengruppe trotz grundsätzlicher Meinungsverschiedenheiten und chronischer Nachlässigkeit bei der Erfüllung ihrer elementarsten Pflichten aufrechtzuerhalten. Wahrscheinlich ist es größtenteils meine Schuld, weil ich das System der Selbstkontrolle ausprobieren wollte anstelle der Dis­ziplin, die sich von der direkten Autorität ableitet.

Ich habe eine Entscheidung getroffen und teile sie der Gruppe mit. Ich gebe die Methode der Selbstkontrolle auf und führe die der Disziplin ein. Ich übernehme alle Verantwortung gegenüber den verschiedenen Komitees, die die Gruppe sowohl politisch als auch finanziell tragen, und ebenso gegenüber der Gruppe und meinem Gewissen.

Ich erkläre das Experiment mit der Methode der Selbstkontrolle nicht für gescheitert, es wird schöner und dauerhafter fortgesetzt werden können, aber ich konstatiere, dass den Gruppenmitgliedern die moralische und politische Reife fehlt, um spontan und mit vollem Bewusstsein in Zusammenarbeit mit dem Anführer der Gruppe alle Verantwortung zu tragen, die aus unserer Lage als Geächtete entsteht.

1 914,22 ₽
Возрастное ограничение:
0+
Объем:
220 стр. 1 иллюстрация
ISBN:
9783038550402
Переводчик:
Издатель:
Правообладатель:
Bookwire
Формат скачивания:
epub, fb2, fb3, ios.epub, mobi, pdf, txt, zip

С этой книгой читают