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Verlassenes Kind

Das Kind war inzwischen zwölf Jahre alt. Es besuchte die Quinta des ehrwürdigen Gymnasiums und hatte sich dadurch Selbstständigkeit erworben. Jeden Morgen zog es allein durch die Innenstadt, um das Portal der Schule zu erreichen. Taxi Mami war in den sechziger Jahren des vergangenen Jahrhunderts unbekannt. Ihm machte der Fußweg nichts, weil es morgens viel zu sehen gab. Das Kind fühlte sich wohl in seiner Haut. Es war kein Überflieger, jedoch solider Durchschnitt in seiner Klasse.

Seine Eltern hatten sich bisher geweigert, einen Fernseher anzuschaffen. Damals war er noch lange nicht in jedes Wohnzimmer vorgedrungen. Immer dann, wenn das Kind um einen Apparat bettelte, schaltete der Vater auf pädagogisch stur. „Wer weiß, wie Fernsehen deine Schulentwicklung beeinflusst. Du sollst in Ruhe lernen.“ Also blieb der mögliche Fernsehtisch leer. Für die Mutter war er eine Anrichte, um die Orchideen zu platzieren. Doch dann entwickelte sich ein eigenartiger Brauch. Ein Schwager hatte seiner Familie einen Fernseher gekauft. Stolz präsentierte er ihn, alle sollten ihn bewundern. Zur großen Samstagabendschau im Deutschen Fernsehen gingen die Eltern regelmäßig dorthin. Wie Frankenfeld und Kulenkampff nisteten sie sich bei Onkel Ludwig und Tante Eva ein.

Jedes Mal blieb das Kind allein zu Hause. Für einen harmlosen Fernsehabend war es angeblich zu jung. Deshalb musste es zu Bett gehen. Was sollte es auch alleine in einem leeren Wohnzimmer! Gegen 19 Uhr 30 appellierte der Vater zum ersten Mal. „Mach dich bettfertig. Du weißt, wir fahren zu Onkel Ludwig.“ Das Kind stellte sich störrisch. Ein Appell reichte nicht. Zehn Minuten später wiederholte der Vater ihn mit genauso wenig Erfolg. Jetzt wurde es ernst. „Nun mach aber endlich. Ich möchte den Anfang von Frankenfeld mitbekommen. In zwei Minuten bist du im Bett, oder es setzt was.“ Das Kind wehrte sich schüchtern. „Ich will nicht allein bleiben.“ „Ach jammere nicht. Du bist doch nicht allein. Onkel Ludwig wohnt ein paar Straßen weiter und um zehn sind wir wieder zu Hause!“ „Nein, ich kann nicht schlafen, wenn ich alleine bin.“ „Nun stell dich nicht so an. Zwei Stunden, länger sind wir nicht weg. Zwölf Jahre bist du. Ein Gymnasiast hat doch keine Angst. Du gehst jeden Morgen allein zur Schule.“ „Ich kann aber wirklich nicht schlafen.“ „Schluss jetzt, ab ins Bett, Augen zu und dann bis morgen früh!“

Das Kind beugte sich. Es hörte noch, wie die Eltern abfuhren, dann lag es wach in seinem Bett. Es grübelte. Jeden Samstagabend bekam es Panik, ohne den Grund zu wissen. Mit vielen Gedanken und offenen Augen wälzte es sich hin und her. Hoffentlich passierte den Eltern nichts. Von nächtlichen Unfällen auf eisglatten Straßen las es viel in der Zeitung. Die Kirchenglocke schlug. Erst halb neun. Bis zehn waren es noch anderthalb Stunden. Das Kind würde ja gerne schlafen, aber die Augen fielen nicht zu. Und je mehr es daran dachte zu schlafen, desto wacher wurde es. Zwischendurch ging es einmal zur Toilette, obwohl es gar nicht musste. Wieder zurück ins Bett, das weich und warm war; daran lag es nicht, darin fühlte sich das Kind wohl. Nur Einschlafen gelang nicht. So lag es mit offenen Augen und starrte zur Decke. Der Spalt zwischen den Gardinenschals ließ das kalte, weiße Mondlicht in sein Zimmer. Schattenspiele an der Wand erzeugten manche Fantasien. Zauberfeen, Riesen und Drachen kämpften miteinander. Das Kind schloss die Augen, um sich vor den Trugbildern zu schützen, nicht um zu schlafen. Es zählte den Glockenschlag der Kirchturmuhr. Immerhin schlug es schon neun. Die Hälfte des Alleinseins war bereits überstanden, denn die Eltern kamen immer pünktlich zurück. Ein weiterer Einschlafversuch brachte nichts. Hellwach stand das Kind auf und schlich zum Fenster. Vorsichtig schob es den Vorhang ein wenig zur Seite. Vielleicht bog der graue Käfer des Vaters um die Ecke. Dann hätte sich alles gelöst. Nichts tat sich auf der Straße. Sie war menschenleer. Kein Auto fuhr vorüber. Erst recht war weit und breit kein grauer VW zu sehen. Das Kind kroch mutlos ins Bett zurück. Die Eltern hielten doch zu ihm. Es war nur der Samstagabend, der Probleme machte. Das Kind stand wieder auf, lief durch die dunkle Wohnung und sprach mit sich selbst, um seine Angst zu verjagen. Nichts nutzte, das Kind blieb allein und fühlte sich verlassen. Deshalb gab es seinen Kampf auf. Starr und steif zog es sich zurück ins Bett, und sein Herzklopfen war wie ein Zeitzeichen.

Endlich wurde ein Schlüssel im Schlüsselloch gedreht. Die Haustür knarrte. Flurlicht fiel in die Diele. Die Eltern warfen einen flüchtigen Blick ins Kinderzimmer, das gehorsame Kind tat so, als ob es schlief. Ein paar Minuten später war es tatsächlich eingeschlafen.

Gottesgeschichten

Josua sagte zum ganzen Volk: Wenn es euch nicht gefällt, dem Herrn zu dienen, dann entscheidet euch heute, wem ihr dienen wollt: den Göttern, denen eure Väter jenseits des Stroms dienten, oder den Göttern der Amoriter, in deren Land ihr wohnt. Ich aber und mein Haus, wir wollen dem Herrn dienen. Das Volk antwortete: Das sei uns fern, dass wir den Herrn verlassen und anderen Göttern dienen. Denn der Herr, unser Gott, war es, der uns und unsere Väter aus dem Sklavenhaus Ägypten herausgeführt hat (Jos 24,15–17).

Vor einiger Zeit berichtete mir ein Bekannter von seiner Herzoperation. Er hatte einige Bypässe und eine neue Herzklappe erhalten. Ihm stand noch die Angst im Gesicht geschrieben. Ja, die Angst sei schlimmer als das Drum und Dran zur Operation. Wie ein kleines Kind habe er Angst gehabt. Aber im Nachhinein sei er fest überzeugt, „der da oben“ habe ihn nicht allein gelassen. „Der da oben“ habe ihm geholfen. Er wiederholte es, ohne den da oben wäre er jetzt nicht mehr. Das Wort „Gott“ sprach er nicht aus. Immerhin hatte der Mensch mit dem da oben eine positive Erfahrung gemacht. Er habe ihn ins Leben zurückgeholt. Viele halten kritisch dagegen, das sei doch naiv. Die Medizin und die Kunst des Chirurgen hätten ihn am Leben gehalten. Falls ich so argumentiere, sind auch die gegenteiligen Geschichten über Gott naiv. In ihnen wird Gott mit dem Tod verbunden. Als mein Mann starb, erzählt die Witwe, hat der da oben uns allein gelassen. Dabei brauchte ich meinen Mann noch. Ich könnte wieder auf die Medizin verweisen. Vielleicht waren die Ärzte überfordert.

So steht Geschichte gegen Geschichte, Geschichten der Freiheit gegen Geschichten der Unterdrückung, Geschichten der Angst gegen Geschichten des Mutes. Der Mensch muss sich entscheiden, welcher Geschichte er vertraut und welche er erzählt. Stimmt er der Gottesgeschichte vom Leben zu, oder ist die Gottesgeschichte vom Sterben ihm näher? Gott und das Leben oder Gott und der Tod?

Das Volk Israel muss sich in Sichem zwischen verschiedenen Geschichten entscheiden. Da stehen die Götter der Amoriter neben dem Gott, der das Volk Israel aus dem Sklavenhaus Ägyptens befreit hat. Diese Geschichte ist das Fundament des jüdischen Glaubensbekenntnisses. Keine andere hat Israel so bestimmt wie die Befreiungstat Gottes. Gott führt aus der tödlichen Unterdrückung zum Leben, weil er kein Gott des Todes ist. Daran glauben die Israeliten und davon lassen sie sich nicht abbringen, gleichgültig, welche Geschichte sie mit Gott erlebt haben oder noch erleben werden.

Die Freiheitsgeschichte Israels ist keine Glaubensgeschichte eines einzelnen Menschen, der am Herzen operiert worden ist. Sie dreht sich um ein ganzes Volk. Eine solche Geschichte brauchen Menschen, um gegen den Tod an das Leben zu glauben. Deshalb erzählen sie sich die Geschichte, Sabbat für Sabbat. Welche Gottesgeschichte erzählen wir?

Trotz allem

Weder Tod noch Leben, weder Engel noch Mächte, weder Gegenwärtiges noch Zukünftiges, weder Gewalten der Höhe oder Tiefe noch irgendeine andere Kreatur können uns scheiden von der Liebe Gottes, die in Christus Jesus ist, unserem Herrn (Röm 8,38 f).

Trotz aller Zweifel

trotz aller Angst

trotz aller Schmerzen

trotz aller Schuld

trotz aller Trauer

trotz aller Hoffnungslosigkeit

der Resignation trotzen

und dem Leben

mutig und scheu

zulächeln

(Alexander Jehle)

Mit vielen finde ich mich in dem Gedicht wieder. Zeile für Zeile buchstabiere ich es durch.

Zweifel bestimmt oft das Leben. Man zweifelt an sich selbst und an der Welt.

Wie schnell kommt Angst auf.

Angst und Zweifel lassen schuldig werden, aber Schuld darf keiner öffentlich eingestehen, sonst gibt er sich eine Blöße.

Trauer verfolgt mich ein Leben lang. Ich bin traurig über verpasste Gelegenheiten und über Abschiede.

Hoffnungslos sind viele in der Welt. Haben wir überhaupt eine Zukunft? Sie steht in den Sternen.

Über Schmerzen lässt sich nur jammern.

Der Dichter hält dagegen: „Der Resignation trotzen und dem Leben mutig und scheu zulächeln.“

Ich würde gerne dem Leben mutig, nicht überheblich, eben scheu wie ein Reh zulächeln. Nein, es nicht kalt und unbarmherzig auslachen, es warmherzig anlächeln.

Paulus schreibt ebenfalls ein Gedicht. Der Apostel dichtet ein Plädoyer, das Gott vor Gericht verteidigen könnte. Dabei sieht er manches genauso düster wie der Dichter. Er gebraucht nur andere Worte aus der Sprache seiner Zeit. Da sind böse, finstere Mächte, die den Menschen bedrohen. Selbst Engel können zu Dämonen werden. Zukünftiges jagt Angst und Schrecken ein, und das Gegenwärtige ist noch belastender. Was mich jetzt aus der Bahn wirft und mein Leben auf den Kopf stellt, ist eine Last. Durch sie wird der Mensch überwältigt. Undurchschaubares überrennt ihn. Ach wäre schon alles vorbei. Schmerzen, Trauer und Schuld haben Gewalt, das Leben eines Menschen zu zerstören.

Der Verteidiger vermeidet das banale Motto: Kopf hoch, es wird schon alles gut. Immer nur lächeln, nein, er legt ein überraschendes Bekenntnis ab:

Ich, Paulus, kenne alles, was euch bedroht. Lasst euch nicht irremachen! Nichts auf der Welt kann euch von der Liebe Gottes trennen, nichts. Selbst wenn ihr zweifelt und ihr euch fragt, ob es Gott überhaupt gibt, ihr werdet von der Liebe Gottes nicht getrennt. Selbst wenn ihr den Glauben verliert, Gott lässt euch nicht los. Ein tröstlicher Gedanke!

Der geschlagene Kannitverstan

Ich war gerade in die Untertertia versetzt worden. Die Klassen hatten damals noch lateinische Namen. Dadurch erhielten wir Schüler eine besondere Aura. Wir gingen nicht in die dritte Klasse, sondern wir waren Tertianer. Ein humanistischer Hauch umwehte die Klasse. Der Stundenplan war verteilt und die Lehrer benannt worden. Wie in den vorherigen Klassen bekamen wir Oberstudienräte, die in der Nazizeit studiert und als Offiziere an der Front des Zweiten Weltkriegs gedient hatten. Sie waren entsprechend alt, für uns Kinder vielleicht zu alt. Aber wir hatten uns an die alten Herren und an ihre Kriegserfahrungen gewöhnt, so dass wir ihnen manches Gute abgewinnen konnten. Dem Oberstudienrat für das Fach „Englisch“ brauchten wir nur das Stichwort „Krieg“ zu liefern. Die Stunde war mit seiner britischen Kriegsgefangenschaft gelaufen, ohne dass eine einzige Vokabel abgefragt wurde. Aus diesem Grund waren wir überrascht, als wir auf dem Stundenplan einen unbekannten Namen lasen. Ein Studienassessor trat bei uns seine erste Stelle an. Er sollte uns in Deutsch unterrichten, einem Fach, das nicht meine Stärke war. Gerade deswegen freute ich mich. Ich erhoffte mir neue Lernerfolge.

Voller Spannung erwarteten wir die erste Deutschstunde. Forsch betrat der Herr Studienassessor das Klassenzimmer. Sein Haar streng gescheitelt, die Krawatte formgerecht gebunden, so schritt er zum Pult. Der graue Anzug saß. Sein Gesicht verriet weder Angst vor der Klasse noch Freude, sein Fach vor uns zu vertreten. Seine kantige Nase passte zu einem Dreißigjährigen. Wir wussten gar nicht, wie wir ihn begrüßen sollten. Bisher waren wir gewohnt „Guten Morgen, Herr Oberstudienrat“ in die Klasse zu schreien. Studienassessor war für unsere Lippen etwas fremd. Da wir aber das Jahr 1968 noch nicht erreicht hatten, zwangen wir uns zum Titel. Ich vermute, dass „Assessor“ mehr gezischt wurde. Auf jeden Fall legte er sofort los. Ohne groß zu warten, hatte er ein Buch herausgeholt und die Geschichte „Kannitverstan“ von Johann Peter Hebel aufgeschlagen. Herr Studienassessor las vor, und in rasantem Tempo versuchte er die Geschichte zu interpretieren. Der Weg durch die Erzählstruktur ging mir zu flott, und ich flüsterte meinem Nebenmann zu: „Kannitverstan“. Der Lehrer ließ sich nicht beirren und machte in zügigem Tempo weiter. „Kannitverstan“, wiederholte ich, wahrscheinlich zu laut. Und als mein Banknachbar zu lachen anfing, stürzte der Studienassessor auf mich zu und verpasste mir eine schallende Ohrfeige. Ich hatte gar keine Zeit, mich zu ducken. Dafür war der junge Lehrer anders als die Kriegsveteranen zu flink. Die rechte Backe schwoll rot an, schmerzte, und ich bewahrte Haltung, ohne mich für seine Erklärung zu interessieren. Mir passierten seine Überraschungsangriffe noch zweimal. Die Untertertia hatte verstanden, dass der Lehrer auf Probe ein Schülerschläger war.

Ich schien ihn zu ärgern, oder er pflegte seine Abneigung zu mir. Umgekehrt konnte ich nach den Attacken keine Sympathie für ihn aufbringen. An gewissen Stellen fiel mir immer wieder eine Bemerkung ein, ironisch, lustig oder einfach nur störend. Auf jeden Fall hatte ich die Lacher auf meiner Seite. Vermutlich spürte der sogenannte Pädagoge, dass wir Gegner geworden waren. Den Kampf wollte er von Anfang an für sich entscheiden. Das Schuljahr war erst einen Monat gelaufen, da holte er mich am Beginn einer Deutschstunde nach vorne, postierte sich breit vor die Klasse und kündigte mit scharfer Stimme an: „Damit deine Störungen endlich unterbunden werden“ – ich hatte dieses Mal gar nicht gestört –, „bekommst du am Beginn jeder Stunde eine Ohrfeige. Vorsorglich. Jede Stunde. Es braucht kein Grund vorzuliegen. Vorsorge ist besser als Nachsorge.“ Ehe ich mich versah, hatte ich die erste Ohrfeige der neuen Serie. „Setzen!“ Der Studienassessor hat seinen Plan durchgesetzt.

Einen Monat lang begann für mich jede Deutschstunde mit einem Schlag ins Gesicht, mehr oder weniger heftig. Ich gewöhnte mich an den Schmerz und an die gerötete Haut, nicht an die grundlose Ohrfeige. Weshalb er mit der vorausschauenden Strafmaßnahme irgendwann aufhörte, habe ich nie verstanden. Ruhiger war ich nicht geworden. Mir wurde Deutsch verhasst, und meine Leistungen nahmen rapide ab. Mir graute es vor dem Deutschlehrer, der mich mit Gewalt in Schach hielt. Als Schüler war es mir ein Rätsel, wie Menschen andere Menschen mit Schlägen unterdrückten. Wie schon gesagt, das Jahr 1968 stand erst vor der Tür. Deshalb beschwerte ich mich weder beim Klassenlehrer noch erzählte ich meinen Eltern davon. Ich nahm es hin und war froh, als wir in der Obertertia wieder einen Veteranen als Deutschlehrer bekamen. Der Herr Studienassessor war versetzt worden. Meine Wangen denken oft an „Kannitverstan“.

(Ein deutscher Handwerksbursche zieht nach Amsterdam. Dort bewundert er ein großes schönes Haus. Er redet einen Vorübergehenden an.)

„Guter Freund“, redete er ihn an, „könnt Ihr mir nicht sagen, wie der Herr heißt, dem dieses wunderschöne Haus gehört mit den Fenstern voll Tulipanen, Sternenblumen und Levkojen?“ Der Mann aber, der vermutlich etwas Wichtigeres zu tun hatte und zum Unglück gerade so viel von der deutschen Sprache verstand als der Fragende von der holländischen, nämlich nichts, sagte kurz und schnauzig: „Kannitverstan!“, und schnurrte vorüber ….

(Der Handwerksbursche beobachtet einen prächtigen Leichenzug. Er bittet einen Teilnehmer um Erklärung.)

„Das muss wohl auch ein guter Freund von Euch gewesen sein“, sagte er, „dem das Glöcklein läutet, dass Ihr so betrübt und nachdenklich mitgeht?“ „Kannitverstan“, war die Antwort. Da fielen unserm guten Tuttlinger ein paar große Tränen aus den Augen, und es ward ihm auf einmal schwer und wieder leicht ums Herz. „Armer Kannitverstan“, rief er aus, „was hast du nun von allem deinem Reichtum? …“ (Johann Peter Hebel).

Die Strafe folgt auf dem Fuß?

Ninive war eine große Stadt vor Gott; man brauchte drei Tage, um sie zu durchqueren. Jona begann, in die Stadt hineinzugehen; er ging einen Tag lang und rief: Noch vierzig Tage, und Ninive ist zerstört! Und die Leute von Ninive glaubten Gott. Sie riefen ein Fasten aus, und alle, Groß und Klein, zogen Bußgewänder an. Und Gott sah ihr Verhalten; er sah, dass sie umkehrten und sich von ihren bösen Taten abwandten. Da reute Gott das Unheil, das er ihnen angedroht hatte, und er führte die Drohung nicht aus (Jona 3,3b–10).

Ninive ist eine Großstadt. Der Autor übertreibt, wenn er drei Tage ansetzt, um die Stadt zu durchqueren. Aber trotz aller orientalischen Erzählfreude ist Ninive eine riesige Stadt, wie es die Ausgrabungen beweisen. Ihr Durchmesser betrug vier Kilometer, und sie hat alles gehabt, was eine Großstadt ausmacht. In ihr befand sich eine gigantische Bibliothek mit über 25 000 Bänden aus Tontafeln. Sportstadien und Theater gehörten selbstverständlich dazu. Auch vor Gott war sie eine große Stadt, wie die Bibel ausdrücklich betont. Gott hat es mit den großen Städten. Meistens machen sie Probleme, nur eine ist seine Heilige Stadt, Jerusalem, die direkt mit dem Himmel verbunden ist. Dagegen pflastert Ninive den Weg zur Hölle. In einer Stadt mit so vielen Ablenkungsmöglichkeiten droht dem Menschen schnell die ewige Strafe.

Jona wird vielleicht drei Tage gebraucht haben, um vom einen Ende der Stadt zum anderen zu kommen. Abwechslung hatte er genug. In der Bar an der Ecke trank er seinen Espresso, in der Trattoria aß er seine Pizza. Eine Vorstellung im Theater lohnte sich, und im Sportstadion fand gerade ein wichtiges Spiel der Orientliga statt. Auf dem Marktplatz lässt sich viel Zeit verplaudern, und Gott ist schnell vergessen. Wie jede Stadt hatte Ninive Häuser für Gott reserviert, aber sie standen meistens leer. Nur zu besonderen Gelegenheiten füllten sie sich. Auch in unserer Zeit sind Gotteshäuser besucht, sobald geheiratet, getauft und beerdigt wird. Doch die Tradition hat sich inzwischen überholt. In Großstädten wie Hamburg, Berlin oder München bleiben mehr als die Hälfte der neugeborenen Kinder ungetauft.

Gott liegt im Clinch mit den Großstädten. Ninive ist ein Beispiel für eine gottlose Stadt. Trotz allem sorgt sich Gott um die Städte. Er gibt Ninive eine Chance und schickt einen seiner besten Leute. Aber Jona denkt anders als Gott. Er klärt nicht auf und wirbt wenig um Einsicht. Im Namen Gottes droht er den Bürgerinnen und Bürgern die Zerstörung ihrer Stadt an. Von Kindesbeinen an hat er gelernt, manchmal hilft nur drohen. Durch die Drohung Jonas kommen die Ninivaner auf die richtige Spur. Falls ihr so weitermacht, setzt es Prügel. Wie kleine Kinder haben sie Angst vor der Strafe.

Die Einwohner von Ninive verstehen nicht, dass es sich mit Gott besser leben lässt und er dem Leben erst Sinn gibt. Sie unterwerfen sich dem alten Erziehungsschema. Gott droht für sie wie ein Übervater. Aber er verlässt die Rolle, in die wir ihn bis heute hineinzwängen. Er macht sich zum Sünder und bereut seine Drohung. Sein göttliches Herz wendet sich gegen das übliche Muster. Verheißt seine Reue nicht, dass er den falschen Dreischritt Drohen – Strafen – Bessern durch einen Zweischritt Lieben und dann Bessern ersetzen will?

Gott liebt den Menschen in den Himmel, um das Höllentor geschlossen zu halten. Statt Strafe anzudrohen, hätte Jona besser mit dem Himmel geworben. Der Himmel spricht für sich, zumindest hoffe ich darauf.

So legt euch denn, ihr Brüder,

In Gottes Namen nieder;

Kalt ist der Abendhauch.

Verschon uns, Gott! mit Strafen,

Und lass uns ruhig schlafen

Und unsern kranken Nachbarn auch!

(Matthias Claudius, Abendlied)

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