Читать книгу: «Stirb»

Шрифт:

Ahmad Ataya

Stirb

Mich geht es Nichts an

Dieses ebook wurde erstellt bei

Inhaltsverzeichnis

Titel

1. Kapitel

2. Kapitel

3. Kapitel

4. Kapitel

5. Kapitel

6. Kapitel

7. Kapitel

8. Kapitel

9. Kapitel

10. Kapitel

11. Kapitel

12. Kapitel

13. Kapitel

14. Kapitel

15. Kapitel

16. Kapitel

Impressum neobooks

1. Kapitel

S t i r b

Mich geht es Nichts an

Ein Roman über eine Mordserie

Von

Ahmad Ataya

Er stand schweigend vor dem Toiletteneingang im Souterrain des Frankfurter Hauptbahnhofs. Ein hochgewachsener Schwarzer mit einem grauen Stoffkoffer. Ein Afrikaner? Wahrscheinlich, sie sehen alle gleich aus, dasselbe Gesicht, dieselben Haare. Farbige. Jedenfalls stand der Mann da wie versteinert. Und ließ den Unmut des untersetzten Warts der Waschräume über sich ergehen. Auch er war schwarz, nicht auszuschließen ein Landsmann.

Der Toilettenkontrolleur schrie wie ein Wahnsinniger. Unter der Decke der niederen Unterwelt zur Notdurft tat dessen Gebrüll in den Ohren weh:

» Hier herrscht Ordnung Bruder - das ist Deutschland - ich kann dir nicht helfen «, befand der WC-Wart mit Frankfurter Zungenschlag, frisch rasiertem Pferdegesicht und steifgebügelt weißem Kittel.

» Soll ich mich auch um deinen Kram kümmern? Das musst Du selbst tun - mir hilft hier auch keiner. Was Wechselgeld? Sieht es hier nach einer Bank aus? Oben kannst Du einen Drink kaufen, dann bekommst du vielleicht Kleingeld - die Schranke machst Du aber frei, und zwar dalli. «

Ob der Andere überhaupt verstanden hatte? Verdutzt stierte er den untersetzten Mann vor sich mit gefrorenem Blick an. An seine durchaus raumgreifende Gestalt prallte offensichtlich die Geschimpfe ab. Er nahm eine durch Nichts zu erschütternde starre Haltung ein. Mit der rechten Pranke hielt er die Schranke zum Waschraum fest und mit der Linken den heruntergekommenen Fetzen vom Koffer. Mit finsterer Miene ertrug er die Anfeindungen, die ihm immer heftiger entgegengeschleudert wurden. Ihm schien die Lust auf Gegenwehr abhandengekommen zu sein. Eine Gegenreaktion wäre unter Umständen menschlich und durchaus angebracht. Ein Außenstehender aus nördlichen Breitengraden hätte sie zumindest billigend hingenommen, oder ihn sogar dazu ermuntert. Man hörte ihn schwer atmend etwas ein, zwei Mal unverständlich flüstern:

M-an-teau, m-an-teau‘. Die unerklärliche Haltung des schwarzen Mannes vor der Aggressivität seines tobenden Landsmanns hätte ein europäischer Zeuge als lähmenden Schock, womöglich sogar als beklemmende Verzweiflung gedeutet.

Im verschlissenen grauen Anzug sah er aus, als gäbe er sich selbst die Schuld am Aufruhr. In diesem Moment allgemeiner Verwirrung fischte Faustus Kleinschmidt eilig einen Euro aus dem Portemonnaie, unsicher, ob er damit überhaupt das Richtige tun würde. Er wollte dem schwarzen Mann gerade die Münze reichen, da bekam er die Wut des Toilettenwarts zu spüren. Wie käme er dazu, dem Fremden Geld geben zu wollen? Mann, der solle seine Probleme selbst lösen. Typisch deutsch sei das. Man solle sich gefälligst heraushalten. Das Geld könne er selbst besser gebrauchen, als der dumme Mensch da.

Faustus stand unmittelbar zwischen ihnen; nun verschlug es ihm die Sprache. Mit seiner Geduld am Ende schoss es durch den Kopf: er müsse sich aus der brenzligen Lage herausziehen, sofort:

» Hören Sie, er braucht den Euro im Moment dringender als Sie, er muss, denke ich, pissen. «

» Er muss gar nichts, sage ich Ihnen. Das ist keine Bettelstube hier - sonst muss ich die Bahnhofspolizei rufen. Gehen Sie bitte und lassen Sie uns in Frieden! «

Sollte diesem Wüterich mit dem uns, ein Hauch ernstgemeinter Solidarität mit seinem bedrängten Landsmann gekommen sein, dann wäre das an Zynismus nicht zu überbieten gewesen. Alles vorgegaukelt, dachte Kleinschmidt. Dem überheblichen Kerl wollte er auf keinen Fall das vermeintliche Mitgefühl durchgehen lassen. Trotzig drückte er dem anderen Schwarzen das Geld in die flache Hand. Doch irgendwie nicht ohne zarte Gewalt. Aus welchem Grunde auch immer gestikulierte der große Afrikaner heftig - abwehrend. Ob er es erfasst hätte, dass die ganze Aufregung sich um ihn gedreht hatte, war nicht auszumachen. Faustus wollte es auch nicht wissen. Auch nicht, als dem großen Afrikaner die Tränen in die Augen schossen und die Farbe seines dunklen Gesichts sichtlich verblasste. Inzwischen hatte sich eine Besuchertraube an den Treppengeländern zum Souterrain gebildet. Wenn diese Zuschauer befragt worden wären, was sich hier abgespielt haben könnte, hätten sie lebhaft bezeugen können, ein stämmiger schwarzer Haufen Elend hätte Anstalten zu machen versucht, sich direkt vor der automatischen Schranke auf den Boden hinzusetzen. Da sei ein Geschrei gewesen, als würde die Welt untergehen:

» Stand up, stand up, fuck your mother. Mach, Mann. Das ist doch kein Ruhebett hier. Schieb deinen schwarzen Arsch woanders hin. Stand up, I tell you, you understand? Weg hier, raus mit dir. Du wolltest es nicht anders. Ich rufe die Polizei. «

Der WC-Patron verrenkte beinah dem Mann den Arm aus der Schulterkapsel, konnte ihn aber keinen Millimeter von der Stelle wegziehen. Vor und hinter der Drehschranke staute sich der Andrang genervter Menschen. Sie wurden unfreiwillige Zuschauer eines Ein-Personen-Bühnenstücks, dargeboten von einem selbstgefälligen Despoten im Pissoir-Königreich, gratis. Keiner konnte herein, keiner heraus, als eilte die Hälfte der Menschheit unterschiedlichster Farbe und Herkunft in die Unteretage des Frankfurter Hauptbahnhofs, um die publikumswirksame Vorstellung nicht zu verpassen. Während seiner letzten zweiundsiebzig Jahre hatte Faustus Kleinschmidt schon Einiges erlebt, dachte er, aber nie ein derart absurdes Theater, wo WC-Räume zur Bühne geworden waren. Hier am 50. Grad 6 Minuten 42 Komma 5 Sekunden nördlicher Breite, 8 Grad 41 null neun Minuten Komma 4 Sekunden östlicher Länge (50°06'42,5“ nördliche Breite 8°41'09,4“ östliche Länge) sollte es, so unpassend es gewesen war, nun das erste Mal werden. Schließlich war es Frankfurt, eines der größten Magnetfelder Deutschlands, mit täglich 350 000 Taschen-hin-und-Koffern-her-Schiebern. Mit der linken Schulter versetzte Kleinschmidt dem herumtobenden Toilettenzwerg einen kräftigen Stoß, der ihn rückwärts taumeln ließ. Krachend fiel er auf den glatten Fliesenboden zurück. Verdutzt brachte er keinen Ton mehr von sich heraus. Behänd half Kleinschmidt dem Anderen hoch und vernahm hinter sich, nicht undankbar, tosenden Applaus und Bravorufe. Sie geleiteten ihn und sein Sorgenkind auf dem Weg nach oben in die Bahnhofshalle. An diesem Mittag, vor dem Pissoir des Frankfurter Hauptbahnhofs, müssen die Entrechteten der Welt ein Stelldichein gegeben haben - und Faustus Kleinschmidt war im Handumdrehen ihr Held geworden, ihr Bannerträger. Angesichts dieser Wendung schien sich die Vorstellung für alle doch gelohnt zu haben.

Ein freiwilliger Helfer erbot sich, dem geschwächten schwarzen Mann den Fetzen von einem Koffer hinter her zu tragen. Als alle drei oben ankamen, glotzte sie eine Schar rot- und schwarzhaariger junger Frauen mitleidig an. Kunterbunte flatternde Kopftücher und farbenfrohe knöchellange weite Röcke. Mazedonische Roma ohne Gepäck, unmittelbar an Zügen und auf Bahnsteigen, verdächtig unterwegs auf Betteltour. Unweit davon zwei junge Frauen, geschminkt und topp gestylt im professionellen Modelmanier - womöglich auf dem Weg zu einem Fotoshooting, vor dem oszillierenden Bahnhofbetrieb als Kulisse. Gleich gegenüber am Eingang zum Bahnsteig Acht kniete ein junger Mann - in jammervoller Pose. Vor ihm eine halbvolle Flasche Cola und eine schwarze Taube, mit aufgefächertem Federkleid. Mit dem einen Zeigefinger streichelte er ihr behutsam über den Kopf. Er hielt ihr die linke Handfläche offen entgegen. Darin ein paar Tropfen des dunklen Getränks. Offenbar versuchte er dem geschwächten Vogel wieder Kraft einzuhauchen. Die Taube nippte einmal darin und rührte sich nicht wieder. Sie schien wie der Afrikaner verloren zu sein, es nicht weiter schaffen zu können. Dessen Schweißausbruch und Zittern am ganzen Leib signalisierten dem Mediziner Faustus Kleinschmidt ‚Synkope‘, Kreislaufkollaps. Er brauchte dringend ärztliche Hilfe - nicht nur eine Toilette. Faustus bat eine junge Frau, über ihr Handy die Notrufzentrale des Bahnhofs anzurufen. Er selbst besaß keines. Noch vor dem Treppenabsatz half er ihm, sich auf den Boden hinzulegen und versuchte herauszufinden, was ihm gefehlt hatte. Ein junger Mann mit bis zu Knie reichendem Zopf – die Haare in äußerster Perfektion geflochten, als käme er direkt vom Hof des Kaisers von China, in Aladinhosen mit deep crotch und aus feinstem Gabardine-Elastan-Stoff - reichte Faustus seine Wasserflasche hin. Im heillosen Durcheinander besann er sich darauf, dass sein Schwiegersohn Matthias ihn ermahnen werde, bei allem, was den schwarzen Mann am Boden betraf, sich rasch eine Legende zurechtzulegen habe. Ja eine sogenannte Legende, wasserdicht und logisch im Aufbau. Er konnte sich entsinnen, dass Professor Matthias Manderscheid ihm noch vor kurzem den Spruch vorgehalten hatte. Er musste es bei einem seiner schlauen Bekannten unter den Juristen aufgeschnappt haben. Faustus kannte den Afrikaner nicht, nicht wer er war und woher er kam und schon gar nicht wohin er gehen wollte. Sein Schwiegersohn, rechtschaffen und ein durch und durch berechnender Mensch, ein Meister der hohen Mathematik, wie nun er war, würde vermutlich schon wieder seine ergrauten Stoppeln am Kopf raufen. Vor allem darüber, worin sein Schwiegervater diesmal hineingeraten war. Bei den kreuz und quer, auf- und aneinander vorbeisteuernden Massen unter dem Bogendach der Frankfurter Bahnhofshalle drängte sich dem früheren Arzt das Bild von der zuckenden Bewegung der Atome gemäß dem Brown’schen Gesetz auf. Inmitten dieses Kraftfeldes verlor der Afrikaner die Besinnung. Um beide herum stellte sich nach und nach ergriffenes Schweigen ein. Auch die schwarze Taube gab kein Lebenszeichen von sich. Verstört schlossen zwei ältere behäbige Frauen in grauen bis zum Boden reichenden Kleidern die Augen fest zu und falteten die Hände zum Gebet. Mitten im tosenden Ozean der Gleichgültigkeit auf dem Bahnhofsgelände wurde aus der Liegestelle des schwarzen Mannes und dem Stehplatz der schwarzen Taube eine Insel allgemeiner Anteilnahme. Wie auf Zehenspitzen schoben sich die Reihen betreten rückwärts, darauf bedacht, Mann und Vogel Luft zu verschaffen. Rapide verlangsamte sich der Pulsschlag des Afrikaners. Faustus hatte nichts bei sich, womit er gegensteuern konnte. Ihn wach zu halten, schien unmöglich geworden zu sein. Erste Hilfe bewirkte nichts mehr. Sein Zustand verschlechterte sich zusehends und überforderte Kleinschmidts ärztliche Kunst. Es dauerte und dauerte. Auf die Schnabelspitze aufgestützt, hielt sich das gesenkte Haupt der schwarzen Taube überm Boden. Ihr Blick war erfroren, starr gerichtet auf die hin und her eilenden Beine der Fahrgäste, unmittelbar vor ihren Augen. Kraftlos hatten ihre winzigen Beine nachgegeben und waren unter den ausgestreckten Federn verschwunden. Als die Sanitäter endlich eintrafen, lag der Afrikaner im Koma. Zusammen mit dem Mann, der sich um den Koffer gekümmert hatte, eilte Faustus Kleinschmidt der Tragbahre hinter her.

Die zwei Bündel von je fünfundzwanzigtausend Euro - noch hinterm Reisverschluss in seiner Mantelinnentasche verstaut - unberührt. Die Geldübergabe war futsch. Sein Zorn über den Zwerg im Pissoir lenkte ihn von seiner Wut über die Niederträchtigkeit des Erpressers ab. Fünfzigtausend Euro für einen Haufen Hundekot. Dem Afrikaner auf der Bahre wäre mit viel weniger geholfen. Fünfzigtausend Euro. Niederträchtige Erpressung - wofür denn? Für ein Schweigen darüber, wie er eine Schippe mit Hundekacke zu spätnächtlicher Stunde durch die Gegend getragen und seinem Nachbarn über die Hecke in den Garten geschleudert hatte? Dafür so viel Geld? Faustus Kleinschmidt, ein wahrlich hoher Preis für ein stinkendes Vergnügen.

2. Kapitel

Es war noch Anfang August, da hatten Anrufe fortwährend in der Nacht die Polizeibeamten auf Trab gehalten. Bis in die frühen Morgenstunden, als würde die Welt untergehen. Eine Nachtstörung von unbeschreiblicher Heftigkeit. Nie zuvor hatten sich Bewohner der Mittelstadt Bosenwendel gegenüber einer Nachtwache im Polizeirevier so erbost gezeigt. Es könnte doch nicht schwer fallen, für Nachtruhe zu sorgen, hatte ihr harmlosestes Anliegen gelautet. Der Fernseher von Gustav Milde im Kurviertel sei die ganze Nacht hindurch auf höchster Lautstärke aufgedreht gewesen. Nicht einmal Ohrenstöpsel hätten geholfen. Da stimmte bei dem etwas nicht - oder?

Als Kriminalhauptkommissar Markus Richthofen damals am schwülen Augustmorgen gegen sieben Uhr seinen Dienst lustlos angetreten war, und wie jedes Mal an der Telefonzentrale der Polizeiwache vorbei zu seinem Büro geschlendert war, hatte er den Namen Milde, Gustav Milde vernommen. So beiläufig wie das auch gewesen war, die bloße Erwähnung der Person hatte seinerzeit den Chef der örtlichen Kriminalbehörde förmlich aufgeschreckt. Als Richthofen zaghaft nachfragte, nahm das Unheil seinen Lauf. Für den Bruchteil einer Sekunde hatte der Diensthabende die Augen ermattet vom Bildschirm hochgehoben. Die Nachbarn einer Familie Milde im Kurviertel hätten durch die Nacht hindurch mit Anrufen genervt. Hauptkriminalkommissar Markus Richthofen hatte seine rotbraune Aktentasche beiseitegelegt. Soweit er nur konnte, hatte er Hals und Rumpf über den Tresen der Wache weit in den Raum hineingestreckt, sich die Augen verkniffen, die Ohren gespitzt und mit ironisierender Mimik den Mund verzogen. So als wäre er zu so früher Stunde bestenfalls darauf aus, eine kleine Anregung für den Kaffeeklatsch im Büro aufzuschnappen. Dabei war seine graumelierte Mähne ihm ins Gesicht gefallen. Er hatte sich noch einmal den Namen vorsagen lassen, langsam, Buchstabe per Buchstabe: G-u-s-t-a-v M-i-l-d-e. Richthofens Pulsschlag hatte sich rasend beschleunigt.

Bei alledem hatte er es geschafft, dem uniformierten Kollegen vorzuspielen, er hätte den Namen zum ersten Mal in seinem Leben gehört gehabt. Nach der Schrecksekunde hatte er moniert, mit sarkastischem Unterton, es würde sich um nicht mehr als um eine harmlose Geschichte im langweiligen Leben langweiliger Bürger handeln. Mal eine Abwechslung. Mehr nicht? Wohl nicht. Dann hatte er den Kopf zurück gezuckt. Sein fester, unerschütterlicher Blick war wieder zum Vorschein gekommen. Abrupt hatte er sich vom Thekenrand gelöst, sich die Mappe unter die linke Achsel geklemmt, sich die vor Schweiß feuchtgewordenen Hände gerieben und seinen Gang fortgesetzt. Der morgendliche Schwung, mit dem er stets das Polizeipräsidium betreten hatte, war mit einem Schlag dahin, verflogen. Markus Richthofen hatte es mehrmals frostig durchgeschüttelt, fortwährend über den ganzen verwaisten Flur, bis zu seinem Büro. In seinem Zimmer angekommen, hatte er die Tür hinter sich geschlossen- und sich dagegen gestemmt. Durch seine Knie war ein leises Zittern hindurchgegangen. Er hatte Halt gesucht. Achtundfünfzig und durchaus robust, er hatte sich nicht auf den Beinen halten können. Zwei Mal, höchstens drei Mal, war es ihm in seiner Laufbahn vorgekommen. Damals auf Verbrecherjagd hatten gezielte Schüsse nur knapp seinem Schädel verfehlt. Als dann die dreisten Killer hinter Schloss und Riegel gewandert waren, und er allein ohne Kollegen um ihn herum, hatte er damals die Beherrschung über seine Kniebänder und Kiefermuskeln vollends verloren – als wäre er an einen blanken Stromkabel geraten. Er hasste den Jammerlappen, den er gegeben hatte, die bloße Erinnerung daran. Für Sekunden hatte er an sich gezweifelt, an seiner Eignung als Chefkriminaler. Diesmal in seinem Büro war es nicht viel anders gewesen. Er hatte seine Ledertasche in die Ecke hingeworfen und atmete schwer schnaufend aus und ein. Seine Lungen hatten in diesem Moment die doppelte Atemluftmenge gebraucht. Er rief bei der Zentrale an, wo er gerade hergekommen war. Was Neues im Fall Milde? Ja, hieß es damals - und ob. Zwei Kollegen würden schon am Haus im Kurviertel nach dem Rechten schauen und möchten den Schlüsseldienst bestellen, hatte der Beamte ihm berichtet. Sie hätten an der Tür mehrmals geklingelt, gehämmert und laut gerufen. Es hätte sich niemand gerührt. Der Fernseher wäre nach wie vor bis auf die Straße laut zu hören gewesen.

Das Telefon neben Richthofen hatte geklingelt. Er musste zunächst den durchgeschwitzten Hemdkragen vom Nacken lösen, die feuchte Stirn abreiben. Währenddessen war die Haut unter seinen Achseln zusammengeklebt. Angst durchlief ihn, er fieberte, ihm wurde es mal heiß, mal kalt. Seine Augen brannten. Es schien ihm, als entglitte ihm die Herrschaft sogar über die eigenen Gehirnzellen. Es gebot sich in seiner Lage, sich wach zu halten, sich selbst zur Besinnung zu rufen. Gehirn, Herz, Augen, Beine, Knie, sie alle sollten sich seinem Willen unterordnen, ihm, Chef der Kriminalbehörde, Hauptkommissar Markus Richthofen. Mit allen acht Fingerspitzen suchte er nach den Stichen unter der Kopfhaut. Als wären seine Schläfen, beiderseits und zugleich, Dart-Scheiben, wehrlos spitzen Pfeilwürfen aus den Blutbahnen ausgesetzt. Der Willkür Einhalt gebieten, sich gegen die eigenen Schädelvenen stemmen - das musste er – und er war für seine Unerschrockenheit berühmt – sonst hätte er es nicht geschafft gehabt, soweit im Leben zu kommen. Markus Richthofen presste die Fingerkuppel gegen die verdickten Venen seines Schädels und hoffte, wieder Herr des Geschehens zu werden. Er forderte sich auf, Herrschaft über alles zu erlangen, über alles, was in ihm und um ihn geschehen war, sofort und ohne Unterlass. Das musste er, er Markus Richthofen, Kripochef und unerschrockener Haudegen. Er rieb die verdickten Venen entlang der Schläfen kräftig - auf und ab. Nässte seine Fingerkuppeln mit Spucke und massierte sie abermals, herauf und hernieder. Er rieb sich die Waden, die Knie, die Oberschenkel. Alles Blut musste fließen. Nichts durfte in und an ihm nachlassen, einsacken, ihm im Stich lassen. Nicht in dieser Stunde der persönlichen Bedrohung, so nackt, undurchschaubar und beklemmend seine persönliche Not auch war. Noch war zu dieser frühen Morgenstunde seine Sekretärin nicht aufgetaucht gewesen. Auch kein Kollege seines Kommissariats. Als er sich dann endlich aufgerafft und sich zögerlich gemeldet hatte, schoss es ihm durch den Kopf: Wenn diesem Kerl von Milde etwas zugestoßen sein sollte, dann bist du dran, Markus Richthofen - dann kannst du einpacken - bist fertig - am Ende. Seine Gehirnzellen arbeiteten wieder, fieberhaft zwar, aber sie funktionierten. Über den Lautsprecher hörte er dem Polizeibeamten vor Ort zu. Der Kollege klang distanziert sachlich. Der Fernseher wäre so laut, ob der Hauptkommissar es durch die Leitung auch mithören könnte. Zögerlich bestätigte er mit einem Ja…Ja, die Geräuschkulisse im Hintergrund. Was nun? Sollte man ins Haus? Der Techniker vom Schlüsseldienst wäre schon an der Haustür. Nicht dass drinnen Gefahr in Verzug drohe und irgendjemand dringend Hilfe brauche. Die harmlose Nachfrage ließ Richthofen damals auffahren:

» Geht doch rein - schaut nach, vielleicht liegt der Kerl drinnen im Suff. Er lebt mit seinem Hund allein. « So kundig wollte er sich nicht geben, gar sein Wissen über Milde und dessen Lebensumstände verraten. Aber in diesem Moment irritiert, und nahezu geistesabwesend, vermochte er die eigene Zunge nicht zu bremsen:

» Aber halt. Gleich schicke ich euch einen Kollegen von meiner Truppe nach. Wartet auf ihn «, hatte seine Stimme durch die Leitung gescheppert.

Wenige Augenblicke später war Richthofens junger Mitarbeiter, Kommissar Herbert Kleinert, eingetrudelt. Ohne ihm auch den winzigsten Morgengruß zuzurufen, beorderte er ihn gestikulierend zu Gustav Mildes Haus im Kurviertel. Er sollte nachsehen. Irgendetwas würde dort nicht stimmen, meinten die Uniformierten vor Ort. Er sollte ihm umgehend Bescheid geben.

Wieder allein, mit weitgeöffnetem weißem Hemd am Schreibtisch, hatte es gezuckt und gezwickt am ganzen Leib. Sollte bei Gustav Milde etwas geschehen sein, verbot es sich, sich persönlich einzuschalten. Wohl in jedem anderen Fall, allein von Amtswegen, aber doch nicht wenn es um den Widerling Gustav Milde ging. Richthofen warf sich ahnungsvoll in seinem Bürosessel zurück. Er suchte nach Wasser hinter sich und fand die Sprudelflasche im unteren Fach des Regals leer. Vor ihm bepflasterten inzwischen Meldungen über kleine und große Vergehen den Bildschirm. Es kam ihm vor, als baute das Verbrechen an diesem Morgen eine undurchdringliche Ziegelsteinmauer auf, um ihm den Durchblick zu verwehren: Flüchtlinge aufgeklatscht, zudringliche Asylanten bedrängten junge Frauen, Brandanschlag auf ein Flüchtlingsheim, Einbruch in einen Juwelierladen und ein Vereinshaus war zu alledem nicht verschont geblieben. Ihn vermochten die Botschaften auf seinem Bildschirm nicht mehr abzulenken. Schlag auf Schlag trafen sie seinen brummenden Schädel, wie Steinblöcke, dumpf und unaufgeregt: Eine Kette aus kleinen und großen Katastrophen einer ganz normalen Polizeinachtschicht. Richthofen raufte sich die Haare. Was dachten sich die Leute bloß? So viel Ungeduld, so viel Unverständnis – nicht zu reden von so viel Unverschämtheit. Einen Nachbarschaftsstreit, die älteste Fehde der Menschheit, vom Zaun zu brechen, das war die harmloseste Variante. Das kannte er zu Genüge. Neuerdings wegen eines Fernsehers? Das ist doch absurd, der reinste Wahnsinn. Richthofen hatte sich in diesem Moment damals ohnmächtig gefühlt, mutterseelenallein. Von wegen gegen alle Widrigkeiten gewappnet sein. Auf diesen Gau, bei dem er selbst in Verdacht geraten könnte, seinem Nebenbuhler etwas angetan zu haben, war er beileibe nicht vorbereitet gewesen. Da halfen keine 58 Jahre, 40 davon im Polizeidienst.

Genervt hatte sich der junge Kommissar Kleinert telefonisch vom Tatort zurückgemeldet. Seine Stimme klang wie die eines aufgeregten Reporters, der sich seiner Sensationsmeldung sicher war. Vom umständlich holprigen Beamtendeutsch keine Spur. Was er und seine Kollegen vorm Haus des Gustav Milde in der Wohnidylle gleich vorgefunden hätten, hätte Rätsel aufgegeben. In der Tat sei der Fernseher von Milde bis auf die Straße zu hören gewesen. Im und ums Haus hätte außerdem Festbeleuchtung geherrscht, als würden die horrenden Strompreise den Hausherrn nicht mehr kümmern. Inzwischen schiene die Wohnstraße aufgeschreckt worden zu sein. Vor dem Haus hätte sich eine Horde leichtbekleideter, schrulliger, sinnlos gestikulierender Zaungäste gesammelt. Abwechselnd hätten die Kollegen mehrmals fest gegen die Haustür gehämmert. Ob Polizisten oder Nachbarn, sie hätten einzeln oder im Chor, den Namen des Hausbesitzers, so laut und so oft sie konnten gerufen. Keine Antwort. Von den Nachbarn hätte es gehießen, Gustav Milde lebte allein, mit seinem Hund, einem Tibeter-Apso. Nichts Neues, brummte Richthofen seinerzeit leise vor sich. Seine Frau hätte ihn schon vor Jahren verlassen. Auch das bekannt. Vielleicht mit einem Anderen, hätte eine Nachbarin gemeint. Lass sie reden, die alten Spinner. Über den Bericht seines verhinderten Radioreporters am anderen Ende der Telefonleitung war er keineswegs belustigt. Nach und nach konnte er es sich jedoch nicht verkneifen, die telefonische Reportage mit leisem Schmunzeln zu begleiten. Zum ersten Mal lockerte sich Richthofens verbitterte Miene auf. Es schien ihm zu helfen, sich für eine Weile zu entspannen. Der zweite uniformierte Kollege hätte sich durch die dichtgewachsene Hecke hindurch gezwängt und spähte durchs Küchenfenster, ob sich in der Wohnung etwas täte, so der verkappte Reporter weiter. Nichts Ungewöhnliches - keine Menschenseele. Nur zwei Hausschuhe - unordentlich hingeworfen - hätten herumgelegen, ebenso ein umgekippter Küchenstuhl. Am Ende der langen Grundstückseinfahrt stünde die Garage - verschlossen. Durch das verschmierte Seitenfenster sei ein roter langgezogener Dodge-Schlitten zu sehen. Es sei anzunehmen, dass der Hausbesitzer nicht mit seiner Limousine auf Tour gewesen ist. Ist es sinnvoll, voreilig die große Keule zu schwingen und ins Haus hineinzugehen? Es könnte sich als voreilig herausstellen. Jetzt horchte Richthofen auf. Sein Rachen tat ihm weh - bittere Trockenheit im Hals. Sein Schweißausbruch vernebelte ihm auch das Denken. Er schließe nicht aus, beim ganzen Theater handelte es sich um eine Lappalie aus der Abteilung widerlicher Rauschschlaf des Hausherrn im Suff, fuhr sein Mitarbeiter über die Leitung fort. Der junge Kommissar schien keine Anstalten machen zu wollen, den eigenen Redefluss zu unterbrechen. Richthofen ließ ihn gewähren, hörte nicht mehr genau hin. Er musste nur teilnahmslos klingen, sagte sich Richthofen mit dem Kopf zur Seite; sich in diesem Moment nur lustlos geben. Nach einer Weile spürte er, er würde es hinkriegen, den Kerl am Telefon zu unterbrechen, und ihm den Eindruck zu vermitteln, als ginge ihm das Ganze nur am Rande etwas an, er habe schließlich Wichtigeres zu tun:

» Kleinert, Mensch, bleib‘ cool; mach‘ einen Punkt. Du bist besser beim Radio, als bei der Polizei. Geh doch endlich hinein - und sollte was sein, ruf zurück. Und jetzt verschone mich mit dem Kram. «

Als die Beamten sich das Schloss aufknacken ließen und ins Haus traten, bot sich ihnen das Bild einer Schlachthofhalle während der Frühschicht. Blutspritzer im Gang, im Treppenhaus zum Obergeschoss und überall an Türen und in Nischen, und vor allem im Obergeschoss vor dem Badezimmer. Dort in der Badewanne schienen die Täter nicht einmal darauf bedacht gewesen zu sein, ihre grausige Hinterlassenschaft zu verschleiern, oder gar zu beseitigen. Blutlachen, teils bereits getrocknet, teils noch nicht geronnen. In der kleinen Vorratskammer, Tür an Tür neben der geräumigen Küche, lag der Hund - regelrecht geschlachtet, der Hals aufgeschlitzt. Der Kopf baumelte nur noch an einem Hautfetzen. Sein langes schwarzes Fell triefte vor Blut. Die Polizisten suchten im Schlafzimmer, im Dachgeschoss, im Keller, in der Garage, im Kofferraum der Dodge-Karosse, hinten im verwilderten Gebüsch am Ende des Gartens. Von Gustav Milde selbst keine Spur.

Richthofen faltete die Hände zusammen – ängstlich - wie beim kindlichen Gebet. Gustav Milde, du fettes Schwein, nur im Rauschschlaf solltest du liegen, sonst nicht. Aber wo steckst du nun, verdammt noch einmal? Bloß keine voreilige Vermutung, die nur ihn, Markus Richthofen, belasten könnte. Es wäre das Ende - dein Ende Markus Richthofen - du Nebenbuhler, flüsterte er sich zu, in dem bei ihm das Gefühl aufkam, die beiden letzten Worte würden wie zwei dicke Räder eines tonnenschweren Brummers über ihn rollen.

Hauptkommissar Markus Richthofen, der fast über alle kleinen und großen Geschichten aus der Gerüchteküche in der mittelgroßen Stadt im Bilde war, musste hin und wieder erfahren, dass der Tratsch, der ihn betraf, nicht aufgehört hatte. Nur dem Staatsanwalt und dem Polizeipräsidenten hatte er damals seine Affäre mit Rita Milde offenbart. Er konnte nicht ausschließen, dass böse Zungen - und davon gab es unter seinen Kollegen und Neidern im Präsidium genug - dem Gedanken verfallen könnten, er hätte den Ehemann seiner Geliebten aus dem Weg geräumt. Richthofen hielt den Atem an. Er verstummte; er bebte: ein perfider Gedanke hätte ihn fast umgehauen: Führte Gustav Milde etwas im Schilde? Ist der Betrogene heimtückisch untergetaucht, um mit dem eigenen Verschwinden ihn, seinen Nebenbuhler, den Chefermittler, in Erklärungsnot bei Vorgesetzten zu bringen? Das geschmacklose Geschwätz über seine Affäre mit Rita Milde beruhigte sich damals erst, als sie vor sechs Jahren es nicht länger ausgehalten hatte, und nach München fortgezogen war. Sie hinterließ Richthofen keine genaue Adresse. Er hatte doch einen hohen Preis für sein außereheliches Vergehen bezahlt. Seine Frau war hinter seine Liebschaft gekommen - und hatte sich erhängt. Der gemeinsame Sohn, der nach der Schule seine Mutter baumelnd am Strick vorfand, wollte von seinem Vater nichts mehr wissen. Verwandte und Freunde wandten sich von ihm ab. Hinter seinem Rücken legte sich ein Jeder eine eigene Version von der Tragödie zurecht. Mal hieß es, er sei auf Liebestour mit seiner Freundin Rita unterwegs gewesen, als sich seine Frau das Leben genommen hatte, mal hätte Frau Richthofen vor ihrem Tod die Geliebte zur Rede gestellt und darauf in einem Kurzschluss gehandelt. In diesem Moment kam sich Markus Richthofen vor, als stünde er schon wieder vorm Höchsten Gericht. Erst der Selbstmord seiner eigenen Ehefrau vor Jahren und jetzt das Verschwinden des Ehemannes seiner Geliebten. Nur mit Mühe konnte Markus Richthofen seine Tränen zurückhalten. Er sah sich verloren, diesmal unumkehrbar im finsteren Graben verschachert. Ohne Unterbrechung trafen weitere Meldungen auf dem Bildschirm vor ihm ein. Ihm kam das Ganze vor wie Gekotze der Menschheit - ihm allein zugedacht, ihm brühwarm an diesem Morgen in den Schoß ausgespien - kurz vor seinem Untergang.

Hauptkommissar Richthofen vermochte nicht einmal das Nächstliegende zu tun: nach Rita Milde zu suchen. Ob sie wusste, wo ihr Ehemann abgeblieben war? Er könnte den Fall keineswegs selbst übernehmen, hämmerte es ihm durch den Schädel. Kein Staatsanwalt, kein Vorgesetzter hätte das geduldet.

In diesem Moment sah er es wieder als seine verdammte Pflicht an, die mysteriöse Sache durchzustehen. Er rief beim Präsidenten der Behörde an, ließ sich kurzfristig einen Termin geben. Richthofen tappte über die einzelnen Stufen langsam hoch. Er wollte sich Zeit nehmen vorm Erscheinen bei seinem Höchsten Richter. Der Polizeipräsident hatte es eilig. Er ließ Richthofen nicht zu Ende reden, griff nach dem Hörer und fragte überfallartig, ob der Staatsanwalt Bedenken hätte, dass Hauptkommissar Richthofen in diesem Fall seine Arbeit erledigen sollte. Niemand wüsste, wo Gustav Milde steckte, und ob ihm überhaupt etwas zugestoßen worden sei. Warum sollte Richthofen dem fiesen Kerl jetzt, nach so vielen Jahren, etwas angetan haben? Warum nicht schon früher - aus Wut und Verzweiflung, damals etwa als sich Frau Richthofen das Leben genommen hatte. Nicht wahr? Also aus der Sicht der Behörde gebe es keine Bedenken, ihm den Fall zu belassen. Die Kehrseite - die Sicht nach Außen? Ach - was soll das? Wenn es danach ginge, schon beim flüchtigen Verdacht seine Beamten in die Wüste schicken zu müssen, da stünde man als Behördenleiter jeden Morgen vor verwaisten Amtsstuben. Nicht wahr? Das könnte doch nicht angehen. Richthofen sei doch kein irgendwer, kein irgendein Leichtgewicht in der Behörde. Ihn kurzerhand vom Fall abzuziehen? Das würde Polizei- und Justizbehörden mehr Fragen bescheren, als sie beantworten könnten. Für seinen Mitarbeiter würde er die Hand ins Feuer legen.

886,20 ₽