Читать книгу: «Handbuch Ius Publicum Europaeum», страница 4

Шрифт:

b) Art. 24 GG

46

Art. 24 Abs. 1 GG war als „Integrationshebel“ bis zur Einheitlichen Europäischen Akte Grundlage für die Verträge zur Gründung und Weiterentwicklung der Europäischen Gemeinschaften. Mit der Einfügung des neuen Art. 23 in das Grundgesetz anlässlich der Entscheidung über den Maastrichter Unionsvertrag änderte sich die verfassungsrechtliche Ermächtigungsgrundlage. Seither verdrängt Art. 23 GG als lex specialis in Unionsangelegenheiten die lex generalis des Art. 24 Abs. 1. Dieser behält seine Bedeutung für die Mitwirkung Deutschlands an anderen Organisationen, die mit Hoheitsrechten ausgestattet sind bzw. werden. Beispiele bilden die europäische Flugsicherungsbehörde Eurocontrol und die Europäische Patentorganisation, aber auch der Internationale Strafgerichtshof.[126]

47

Mit der Grundgesetzänderung von 1992 wurde in Art. 24 GG auch ein Abs. 1a eingefügt, wonach die Länder in ihrem Kompetenzbereich mit Zustimmung der Bundesregierung Hoheitsrechte auf grenznachbarschaftliche Einrichtungen übertragen können. Die Schaffung solcher Einrichtungen wirft freilich, wenn sie Hoheitsbefugnisse gegenüber den Bürgern in Anspruch nehmen, erhebliche rechtliche Fragen auf, so etwa nach dem anwendbaren Recht, der demokratischen Legitimation der handelnden Organe oder nach dem Rechtsschutz der Bürger.[127]

48

Neben Art. 23, Art. 24 Abs. 1 und Art. 24 Abs. 1a GG ist auch Art. 24 Abs. 2 GG Ausdruck der offenen Staatlichkeit. Er ermöglicht die Einordnung der Bundesrepublik in Systeme gegenseitiger kollektiver Sicherheit, zu denen nach der Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts[128] nicht nur Systeme gerechnet werden, die wie die Vereinten Nationen Verfahren zur Lösung von Konflikten der Mitglieder untereinander vorsehen, sondern auch Systeme, in denen sich die Mitglieder zum wechselseitigen Beistand im Falle eines äußeren Angriffs verpflichten, wie dies beispielsweise bei der NATO und der WEU der Fall ist.[129]

c) Art. 16 Abs. 2 Satz 2 GG

49

Ein weiteres Element der „offenen Staatlichkeit“ stellt Art. 16 Abs. 2 Satz 2 GG dar, wonach der Gesetzgeber eine Auslieferung Deutscher an das Ausland dann vorsehen darf, wenn es sich um einen Mitgliedstaat der EU oder um einen internationalen Gerichtshof handelt und rechtsstaatliche Grundsätze gewahrt sind.[130] Diese Öffnungsklausel, die das bis dahin vorbehaltlos gewährleistete Auslieferungsverbot zugunsten Deutscher einschränkt, war im Hinblick auf die Unterzeichnung und anstehende Ratifizierung des Römischen Statuts des Internationalen Strafgerichtshofs[131] in das Grundgesetz eingefügt worden. Auf sie stützte der Gesetzgeber auch das Europäische Haftbefehlsgesetz vom 21. Juli 2004,[132] das der Umsetzung des Rahmenbeschlusses 2002/584/JI des Rates vom 13. Juni 2002 „über den Europäischen Haftbefehl und die Übergabeverfahren zwischen den Mitgliedstaaten“[133] diente. In seinem Urteil über eine Verfassungsbeschwerde, mit der sich der sowohl die deutsche als auch die syrische Staatsangehörigkeit besitzende Beschwerdeführer gegen eine drohende Auslieferung nach Spanien wandte, stellte das Bundesverfassungsgericht zunächst fest, dass die durch die Grundgesetzänderung erfolgte Öffnung nicht gegen die gemäß Art. 79 Abs. 3 GG änderungsfesten Verfassungsprinzipien verstoßen habe.[134] Es erklärte jedoch das Europäische Haftbefehlsgesetz für verfassungswidrig und nichtig, da der deutsche Gesetzgeber den im EU-Rahmenbeschluss den Mitgliedstaaten eingeräumten Regelungsspielraum nicht zur gebotenen Schonung der Grundrechte, insbesondere zur Wahrung der Rechtsschutzgarantie, ausgeschöpft habe.[135] Das Urteil ist eine deutliche Ermahnung an das Parlament, seine Kontrollfunktion und Umsetzungsverantwortung gerade im grundrechtsrelevanten Bereich ernst zu nehmen.[136]

Erster Teil Offene Staatlichkeit › § 14 Offene Staatlichkeit: Deutschland › III. Offene Staatlichkeit und Europäische Menschenrechtskonvention

III. Offene Staatlichkeit und Europäische Menschenrechtskonvention

50

Wenn von der „offenen Staatlichkeit“ der Bundesrepublik gesprochen wird, so sind damit in erster Linie Art. 24 sowie (seit 1992) Art. 23 GG gemeint. Die Bestimmungen des Grundgesetzes, die die Stellung des Völkerrechts im innerstaatlichen Bereich betreffen, stehen insoweit eher im Hintergrund. In international-vergleichender Perspektive handelte es sich bei ihnen bei der Verabschiedung des Grundgesetzes nicht um neuartige Regelungen, wie es bei Art. 24 GG der Fall war.[137] Auch wenn sie sich bislang insgesamt bewährt haben, besteht durchaus Anlass, nach der Zukunftsfähigkeit der bestehenden Regelungen im Hinblick auf die zunehmende Integration der europäischen und der internationalen Staatengemeinschaft durch völkerrechtliche Verträge, insbesondere im Bereich der Menschenrechte, zu fragen.

1. Völkerrechtsfreundlichkeit des Grundgesetzes

51

Im Hinblick auf Art. 25 GG hat man bereits früh von der „Völkerrechtsfreundlichkeit des Grundgesetzes“ gesprochen.[138] Art. 25 GG erklärt die allgemeinen Regeln des Völkerrechts zum Bestandteil des Bundesrechts, wobei sie den Gesetzen vorgehen und unmittelbar für die Bewohner des Bundesgebietes Rechte und Pflichten erzeugen sollen. Unmittelbar verfassungsrechtlich verankert ist das Verbot des Angriffskriegs sowie friedensstörender Handlungen (Art. 26 GG), wobei eine strafrechtliche Sanktionierung entsprechender Handlungen vorgeschrieben wird. Adressaten des Verbots, welches das in der Präambel des Grundgesetzes niedergelegte Friedensziel konkretisiert, sind nicht nur die staatlichen Organe, sondern alle natürlichen und juristischen Personen.[139] Damit werden insbesondere auch international agierende terroristische Vereinigungen erfasst.[140]

52

Was die Art der Einbeziehung der allgemeinen Regeln des Völkerrechts in den innerstaatlichen Rechtsraum anbetrifft, so spricht der Wortlaut weder eindeutig für die Methode einer (generellen) Transformation in nationales Recht, noch für die einer (generellen) Adoption der Regeln als solcher (als völkerrechtliche Normen und nicht als in nationales Recht transformierte Rechtssätze) bzw. für eine entsprechende Vollzugsanordnung. Einer dem Völkerrecht gegenüber aufgeschlossenen Verfassungsordnung entspricht eher die Methode der Adoption oder die ihr verwandte Vollzugsbefehlslösung,[141] da auf diese Weise die Anordnung an die rechtsanwendenden Staatsorgane, die völkerrechtlichen Normen auch als solche, d.h. nach völkerrechtlichen und nicht nach nationalen Maßstäben, zu interpretieren, anders als bei ins nationale Recht transformierten Rechtssätzen eindeutig ist.[142] Die Vollzugsbefehlslösung lässt sich im Übrigen auch mit einer dualistischen Vorstellung des Verhältnisses von Völkerrecht und nationalem Recht vereinbaren, wie sie das Bundesverfassungsgericht neuerdings wieder betont.[143]

53

Unter den allgemeinen Regeln des Völkerrechts werden das Völkergewohnheitsrecht sowie die allgemeinen Rechtsgrundsätze verstanden.[144] Unmittelbar Rechte und Pflichten erzeugen sie naturgemäß nur dann, wenn sie ihrem Inhalt nach unmittelbar anwendbar (self-executing) sind. Aus der Formulierung, dass sie „den Gesetzen“ vorgehen, wird geschlossen, dass die allgemeinen Regeln des Völkerrechts innerhalb der Normenhierarchie zwischen den Parlamentsgesetzen und der Verfassung stehen. Völkerrechtliche Regelungen können somit das nationale Verfassungsrecht nicht abbedingen; im Konfliktfalle geht das Verfassungsrecht vor. Aus einer Zusammenschau des Art. 25 GG mit anderen Bestimmungen des Grundgesetzes wie insbesondere den Art. 1 Abs. 2, 24 und 26 GG wird allerdings geschlossen, dass das Grundgesetz Konflikte des innerstaatlichen Rechts mit dem Völkerrecht möglichst zu vermeiden sucht. Daraus wird das Gebot einer völkerrechtskonformen Auslegung des innerstaatlichen Rechts einschließlich des Verfassungsrechts abgeleitet.[145]

54

Völkerrechtliche Verträge, die die politischen Beziehungen des Bundes regeln oder sich auf Gegenstände der Bundesgesetzgebung beziehen, erlangen durch das in Art. 59 Abs. 2 GG vorgesehene Zustimmungsgesetz (Vertragsgesetz) den Rang eines einfachen Gesetzes. Dies bedeutet grundsätzlich, dass ein später erlassenes Gesetz die in das innerstaatliche Recht einbezogenen völkerrechtlichen Regeln nach der lex posterior-Regel abbedingen kann. Dies ist jedenfalls dann der Fall, wenn wegen des klaren Wortlauts und Zwecks des widersprechenden späteren Gesetzes eine völkerrechtskonforme Auslegung oder eine Anwendung der lex specialis-Regel scheitern muss, was freilich sehr selten der Fall sein wird.[146] Eine Verfassungswidrigkeit des derogierenden späteren Gesetzes kann dann allenfalls unter dem Gesichtspunkt eines Verstoßes des Gesetzgebers gegen das in Art. 3 Abs. 1 GG verankerte Willkürverbot oder gegen eine im Lichte der völkervertraglichen Regelung ausgelegten widersprechenden Verfassungsnorm in Betracht kommen. Jedenfalls kann die bloße Tatsache, dass ein Gesetz einer von der Bundesrepublik übernommenen völkervertraglichen Verpflichtung zuwider läuft, nach dem geltenden Verfassungsrecht nicht ohne weiteres zu einer verfassungsgerichtlichen Aufhebung des Gesetzes führen. Unbeschadet dessen ist die Bundesrepublik aus völkerrechtlicher Sicht selbstverständlich verpflichtet, den völkerrechtskonformen Zustand wieder herzustellen, was nach der innerstaatlichen Kompetenzverteilung bedeutet, dass das völkerrechtswidrige Gesetz in dem vorgesehenen Gesetzgebungsverfahren wieder aufzuheben ist.

55

An der Rangerhöhung völkerrechtlicher Normen durch Art. 25 GG partizipieren völkervertragsrechtliche Bestimmungen dann, wenn sie Völkergewohnheitsrecht oder allgemeine Rechtsgrundsätze kodifizieren. Der höhere Rang wird freilich auch in diesen Fällen nicht den vertraglichen Bestimmungen als solchen, sondern den zugrunde liegenden Rechtssätzen des Gewohnheitsrechts zugeschrieben.

2. Menschenrechtsfreundlichkeit des Grundgesetzes

56

Als völkerrechtlichen Verträgen kommt auch den Menschenrechtsabkommen lediglich Gesetzesrang zu. Dies kann im Einzelfall,[147] wie dargelegt, dazu führen, dass Verstöße gegen die EMRK nur durch Gesetz wieder beseitigt werden können. Bis zur „Reparatur“ des Gesetzgebers bleibt der konventionswidrige Zustand bestehen. Angesichts der dynamischen Rechtsprechung des EGMR und seiner Bedeutung für die Herausbildung eines gemeineuropäischen Grundrechtsstandards, der auch für das europäische Unionsrecht maßgebend ist, besteht indes ein Bedarf, Konflikte zwischen der EMRK und dem innerstaatlichen Grundrechtsschutz nach Möglichkeit auszuschließen. Das Grundgesetz bietet dabei durchaus Ansatzpunkte, den Menschenrechtsabkommen einen erhöhten Bestandsschutz zu verleihen.

a) Ansätze einer Stärkung der Stellung der EMRK in der deutschen Rechtsordnung

57

Gerade mit Blick auf die EMRK gab es verschiedene Ansätze, sie unmittelbar bzw. mittelbar mit Verfassungsrang auszustatten. So wurde vertreten, dem Bekenntnis zu „unverletzlichen und unveräußerlichen Menschenrechten als Grundlage jeder menschlicher Gemeinschaft, des Friedens und der Gerechtigkeit in der Welt“ in Art. 1 Abs. 2 GG sei ein Verfassungsrang der EMRK zu entnehmen.[148] Im Hinblick auf den Charakter des Grundgesetzes als einer „normativen Verfassung“[149] ist zunächst nichts dagegen einzuwenden, sondern es ist vielmehr geboten, auch dem Bekenntnis in Art. 1 Abs. 2 GG normativen Gehalt zuzuweisen. Diese Bestimmung als Inkorporationsklausel zu verstehen, hieße indes die Reichweite der Grundsatzbestimmung zu überdehnen, wie über den Wortlaut hinaus insbesondere ein Vergleich mit der Inkorporationsbestimmung des Art. 25 GG ergibt, zumal Art. 1 Abs. 3 GG bindende Wirkung nur den „nachfolgenden Grundrechten“ zuschreibt. Art. 1 Abs. 2 GG bietet daher keine Handhabe, die Konventionsrechte als solche mit den im Grundgesetz ausdrücklich verankerten Grundrechten auf eine Stufe zu stellen. Auch andere Versuche einer Konstitutionalisierung der Konventionsrechte, etwa durch Einbeziehung der Freiheitsverbürgungen der EMRK in den Wesensgehalt des Art. 2 Abs. 1 GG (das allgemeine Freiheitsrecht), oder die Deutung des Straßburger Systems als eine supranationale „Konventionsgemeinschaft“ im Sinne des Art. 24 Abs. 1 GG überzeugen nicht; ferner muss der zeitweise vom Bundesverfassungsgericht verfolgte Ansatz, den Erlass eines konventionswidrigen Gesetzes als Willkürverstoß zu qualifizieren, von begrenzter Reichweite bleiben.[150]

b) Der Grundsatz menschenrechtskonformer Auslegung

58

Allerdings kommt in dem Bekenntnis zu den Menschenrechten in Art. 1 Abs. 2 GG, der in Kenntnis der Allgemeinen Erklärung der Menschenrechte von 1948 verfasst wurde,[151] eine nicht nur programmatisch zu verstehende spezifische Menschenrechtsfreundlichkeit des Grundgesetzes zum Ausdruck. Aus ihr folgt, vergleichbar der Regelung in Art. 10 Abs. 2 der spanischen Verfassung oder Art. 10 der rumänischen Verfassung, das spezielle Gebot menschenrechtskonformer Auslegung.[152] Das Bundesverfassungsgericht hat in einer Entscheidung aus dem Jahre 1987 in diesem Sinne erstmals – freilich ohne seinerzeit Art. 1 Abs. 2 GG zu erwähnen – folgenden Grundsatz aufgestellt:[153] „Bei der Auslegung des Grundgesetzes sind auch Inhalt und Entwicklung der Europäischen Menschenrechtskonvention in Betracht zu ziehen, sofern dies nicht zu einer Einschränkung oder Minderung des Grundrechtsschutzes nach dem Grundgesetz führt, eine Wirkung, die die Konvention indes selbst ausgeschlossen wissen will (Art. 60 EMRK). Deshalb dient insoweit auch die Rechtsprechung des Europäischen Gerichtshofs für Menschenrechte als Auslegungshilfe für die Bestimmung von Inhalt und Reichweite von Grundrechten und rechtsstaatlichen Grundsätzen des Grundgesetzes.“ Im konkreten Fall ging es um die Herleitung der im Grundgesetz nicht explizit verankerten Unschuldsvermutung aus dem Rechtsstaatsprinzip. Die Interpretation dieses Prinzips im Lichte der EMRK, die ihrerseits durch die Rechtsprechung des EGMR konkretisiert wird, war eine wesentliche Argumentationsstütze.[154] Auf das Gebot konventionskonformer Auslegung rekurrierte das Gericht in den kommenden Jahren nur selten.[155] Erst im Jahre 2004 wurde der Argumentationsfaden vom Zweiten Senat in seiner Görgülü-Entscheidung vom 14. Oktober 2004 wieder aufgegriffen und erstmals festgestellt, dass das Grundgesetz „mit Art. 1 Abs. 2 GG dem Kernbestand an internationalen Menschenrechten einen besonderen Schutz“ zuweise; dieser bilde „in Verbindung mit Art. 59 Abs. 2 GG die Grundlage für die verfassungsrechtliche Pflicht, auch bei der Anwendung der deutschen Grundrechte die Europäische Menschenrechtskonvention in ihrer konkreten Ausgestaltung als Auslegungshilfe heranzuziehen“.[156] Dies bedeutet durchaus eine dogmatische Untermauerung des gegenüber dem allgemeinen Grundsatz völkerrechtskonformer Auslegung nochmals verstärkten Gebots menschenrechtskonformer Verfassungsinterpretation.[157] Eine Nichtbeachtung der Konventionsrechte kann somit mittelbar, d.h. unter Berufung auf ein im Lichte der EMRK interpretiertes Grundrecht, durch Verfassungsbeschwerde geltend gemacht werden.[158]

59

In der Öffentlichkeit und auch vom EGMR ist die Entscheidung „Görgülü“ freilich zunächst eher als problematisch, wenn nicht konventionsfeindlich wahrgenommen worden. Dazu gaben einige generelle Erwägungen des Bundesverfassungsgerichts Anlass. So heißt es, das Grundgesetz verzichte „nicht auf die in dem letzten Wort der deutschen Verfassung liegende Souveränität“, so dass es „nicht dem Ziel der Völkerrechtsfreundlichkeit“ widerspreche, „wenn der Gesetzgeber ausnahmsweise Völkervertragsrecht nicht beachtet, sofern nur auf diese Weise ein Verstoß gegen tragende Grundsätze der Verfassung abzuwenden ist“.[159] Und zur Verpflichtung der Staatsorgane, Entscheidungen des EGMR, durch die ein Konventionsverstoß festgestellt wurde, bei der erneuten Prüfung des Falles zu „berücksichtigen“, bemerkt das Gericht: „[…] die zuständigen Behörden und Gerichte müssen sich mit der Entscheidung erkennbar auseinander setzen und gegebenenfalls nachvollziehbar begründen, warum sie der völkerrechtlichen Rechtsauffassung gleichwohl nicht folgen“.[160] Wenngleich das Bundesverfassungsgericht diese Aussage auf mehrpolige Rechtsbeziehungen bezogen wissen will, die vom Straßburger Gerichtshof wegen einer sich ändernden Tatsachengrundlage (begrenzte Rechtskraft) oder auch wegen der Nichtberücksichtigung von Grundrechtspositionen Dritter (nicht am Verfahren Beteiligter) nicht abschließend gewürdigt werden konnten, bleiben seine Ausführungen zumindest missverständlich. Sie scheinen den zuvor anerkannten Grundsatz der menschenrechtskonformen Auslegung des Verfassungsrechts – mit der entsprechenden Unterordnung des einfachen Rechts – erheblich zu relativieren.[161] Im Ergebnis hat das Bundesverfassungsgericht die mit der Verfassungsbeschwerde angefochtene Entscheidung des Oberlandesgerichts Naumburg wegen nicht hinreichender Berücksichtigung der Entscheidung des EGMR für verfassungswidrig erklärt. Da das Oberlandesgericht, vermutlich durch die einseitig verstandenen Vorbehalte des Bundesverfassungsgerichts ermuntert, auch in Folgeentscheidungen im Widerspruch zum Straßburger Urteil judizierte, konnte das Bundesverfassungsgericht diesem erst nach mehrfacher Neubefassung zur Durchsetzung verhelfen.[162]

60

Die Entscheidung des Bundesverfassungsgerichts weist deutlich auf das Problem hin, dass es bei mehrpoligen Grundrechtsbeziehungen, in denen die Grundrechtsbeeinträchtigung des einen zum Schutz von Grundrechten eines anderen vorgenommen wird, zu unterschiedlichen Bewertungen nicht aus Missachtung von Grundrechten, sondern gerade aus dem Antrieb zur Grundrechtsverwirklichung kommen kann. Stehen nach deutschem Recht zudem Grundrechtspositionen auf dem Spiel, die im Konventionsrecht nicht ausdrücklich anerkannt oder anders bewertet werden, kann es zu einem ohne Verfassungsänderung kaum lösbaren Konflikt kommen. Dies dürfte freilich ein äußerst selten zu erwartender Ausnahmefall sein. Denn im Rahmen der Schrankenbestimmungen der Konventionsrechte berücksichtigt und gewichtet der Straßburger Gerichtshof durchaus Rechtspositionen und Interessen, die nicht durch Konventionsrechte geschützt sind. So wird die Konventionsrechtsprechung auch bei mehrpoligen Grundrechtsbeziehungen in aller Regel eine mit der deutschen Grundrechtsordnung kompatible Linie vorgeben.

Erster Teil Offene Staatlichkeit › § 14 Offene Staatlichkeit: Deutschland › IV. Entwicklungsperspektiven

IV. Entwicklungsperspektiven

61

Der Grundgesetzgeber von 1948/49 hat mit der seinerzeit einzigartigen Öffnung der Staatlichkeit eine zukunftsweisende Entscheidung getroffen, die bis heute trägt. Dominierte anfangs der Eindruck einer nahezu bedingungslosen Öffnung für eine europäische Einigung, von der man die Rückkehr Deutschlands in die Staatengemeinschaft als vollberechtigtes Mitglied sowie die dauerhafte Sicherung des Friedens und der Freiheit erwartete, so wurden mit voranschreitender Integration und wachsendem Selbstbewusstsein die grundgesetzlichen Grenzen der Öffnung ausgelotet. Vor allem der mit dem Grundgesetz und seiner Konkretisierung durch die Verfassungsrechtsprechung erreichte hohe Grundrechtsstandard sollte gegen eine ausgreifende Gemeinschaftsgewalt verteidigt werden, auch wenn damit letztlich gemeinschaftsrechtliche Grundsätze in Frage gestellt wurden. Obwohl das Bundesverfassungsgericht seinen mit der viel zitierten Solange I-Entscheidung aus dem Jahr 1974 erhobenen Kontrollanspruch hinsichtlich des sekundären Gemeinschaftsrechts im Jahr 1986 erheblich abmilderte, hält es an einem letzten, einmal stärker, einmal schwächer akzentuierten Vorbehalt fest, womit es im Kreis der Verfassungsgerichte heute freilich keineswegs allein steht.[163] Der verfassungsändernde Gesetzgeber nutzte im Jahre 1992 die auf dem Weg zu einer politischen Union für notwendig gehaltene Erweiterung des Integrationsprogramms zugleich, den zuständigen deutschen Staatsorganen Direktiven für die weiteren Integrationsschritte vorzugeben. Orientiert an der Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts dienen diese insbesondere dem Schutz der identifikationsstiftenden Grundlagen der deutschen Verfassungsordnung sowie einer der föderalen Struktur der Bundesrepublik Deutschland Rechnung tragenden Willensbildung in Angelegenheiten der Europäischen Union.

62

Der im Jahre 1992 in das Grundgesetz eingefügte Art. 23 GG war nicht nur Grundlage für die Annahme der Verträge von Maastricht, Amsterdam und Nizza, sondern hat auch die Möglichkeit der Weiterentwicklung der Europäischen Union durch den Europäischen Verfassungsvertrag eröffnet, da dieser an dem Prinzip der begrenzten Einzelermächtigung festhält. Sollte der Europäische Verfassungsvertrag in Kraft treten, so wäre es noch schwerer vorstellbar, dass es überhaupt einen Anlass für eine Aktualisierung der Vorbehalte der deutschen Verfassungsrechtsprechung geben könnte. In dem Verfassungsvertrag sind nachdrücklicher als bisher diejenigen Prinzipien verankert, die, wenn nicht eine Kongruenz, so doch eine funktionale Äquivalenz zu den tragenden Grundsätzen der deutschen Verfassungsordnung aufweisen. Was die bislang hypothetische spätere Einordnung der Bundesrepublik Deutschland in einen europäischen Bundesstaat anbetrifft, so wäre dieser Schritt nicht durch Art. 23 GG gedeckt. Nach zutreffender, freilich keineswegs unstreitiger Auffassung könnte dieser Schritt ohne eine Außerkraftsetzung des Grundgesetzes, d.h. durch eine entsprechende Grundgesetzänderung erfolgen.[164]

63

Nicht befriedigen vermag die grundgesetzliche Regelung der Stellung des Völkervertragsrechts in der innerstaatlichen Rechtsordnung. Der einfache Gesetzesrang völkerrechtlicher Verträge entfaltet namentlich im Hinblick auf die dynamischen Menschenrechtssysteme, insbesondere das System der Europäischen Menschenrechtskonvention, Konfliktpotenzial, welches zwar durch das auch vom Bundesverfassungsgericht anerkannte Gebot völkerrechts- bzw. menschenrechtskonformer Auslegung weitgehend entschärft wird. Um indes bei der Gesetzesanwendung eine effektive vorrangige Beachtung der EMRK sicherzustellen, erscheint es zweckmäßig, nicht nur das Völkergewohnheitsrecht, sondern im Wege einer Grundgesetzänderung auch das Völkervertragsrecht mit Übergesetzesrang auszustatten. Die überwiegende Zahl der Mitgliedstaaten der EU erkennt einen solchen Vorrang an. Es wird für die künftige Entwicklung darauf ankommen, dass die nationalen Verfassungsordnungen angesichts einer zunehmenden Vernetzung der nationalen, internationalen und supranationalen Rechtsregimes geeignete Verknüpfungs- und Koordinierungsmechanismen bereithalten.

Erster Teil Offene Staatlichkeit › § 14 Offene Staatlichkeit: Deutschland › Bibliographie

Жанры и теги
Возрастное ограничение:
0+
Объем:
1960 стр. 1 иллюстрация
ISBN:
9783811489028
Издатель:
Правообладатель:
Bookwire
Формат скачивания:
epub, fb2, fb3, ios.epub, mobi, pdf, txt, zip

С этой книгой читают