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Späte Erinnerungen an die Ami-Soldaten

An etwas anderes erinnere ich mich noch sehr gut. Es war, glaube ich, noch am Abend des Ostersonntags; die Panzer waren erst ein paar Stunden im Dorf – da ließ ein Soldat seinen Jeep mit zwei Kollegen vor unserem Hoftor stehen, rannte über den Hof in die Küche und sagte zu Mama in fließendem fränkischen Hochdeutsch: Mutter, habts net a Dutzend frische Eier für uns? Ich geb euch Zigaredden oder Schocklaad dafür! Er bekam die gewünschten Eier, bedankte sich höflich und sagte beim Verlassen des Hauses, er sei in Fürth11 geboren, doch schon etliche Jahre vor dem Krieg mit seinen Eltern in die USA ausgewandert. Damals verstand ich die Zusammenhänge noch nicht; das kam erst viel später, als ich erfuhr, dass ehedem deutsche Juden in der US-Army dienten; viele von ihnen als Dolmetscher.

Bei uns im Haus wurden zwei Zimmer im Parterre für mehrere Wochen von amerikanischen Soldaten beschlagnahmt. Hals über Kopf mussten wir sie räumen. Ehe die GIs wieder gingen, rief einer von ihnen uns Kinder zusammen und zeigte uns ein Hitlerbild. Er hatte es in einer Schreibtischschublade entdeckt, in einem alten Jahreskalender eines Würzburger Verlags, riss es heraus und zündete es vor unseren Augen an. Brennend fiel das verkohlte Blatt zu Boden. Dann zertrat er es mit seinem Armeestiefel und sagte: Hittlärr kaputt!!! Diese beiden Worte mussten wir mehrmals laut und deutlich wiederholen.

Später, als die beiden Zimmer wieder freigegeben waren, stellte Papa fest, dass die Ami-Soldaten seine Auszeichnungen (Orden vom Ersten Weltkrieg), die sich im Schreibtisch befanden, mitgenommen hatten. Auf solche Souvenirs schienen die GIs besonders scharf zu sein.

Auch Wochen und Monate nach dem Abzug der alliierten Besatzer aus unserer ländlichen Region wimmelte es noch von allerlei Andenken an diese Zeit – abgesehen davon, dass der ehemalige deutsche Militärflughafen im benachbarten Giebelstadt noch für Jahrzehnte auch von den Amerikanern benützt wurde.

Überall zerstreut, auf den Feldern und Wiesen, vor allem aber im Wald, fanden wir massenhaft aus Kupfer/Messing hergestellte Patronenhülsen. Manche bis zu 25 oder 30 cm lang. Dazwischen lagen auch kleinere Patronen für Maschinengewehre; einige noch voll mit Kugelgeschossen und Pulver. Wir Buben sammelten beides: Pulver und Gewehrkugeln. Das war alles andere als ungefährlich. Die großen der Patronen-Hülsen wurden übrigens noch jahrelang in unserer Pfarrkirche als Blumenvasen verwendet.

Weil im benachbarten Stalldorfer Wald noch Tage oder gar Wochen, nachdem die ersten Panzer bei uns durchs Dorf gerollt waren, kleine SS-Einheiten vermutet wurden, brachten die amerikanischen Soldaten in der Umgebung von Gaurettersheim schwere Geschütze in Stellung und beschossen diese (angeblichen) Verstecke der deutschen Wehrmacht. Ein großer Teil ihrer Artillerie war am Hinteren Holmensprung zwischen Höttingen und Euerhausen aufgestellt, ein anderer direkt zwischen unserer Kirche und dem Waldteil Schenkenhof. Die Geschosse der erstgenannten Geschütze-Stellung flogen über unser Dorf hinweg, die anderen, weil direkt oberhalb des Weilers stationiert, ließen mitunter unsere Fenster klirren und Häusermauern und Wände erbeben.

Noch nach Monaten und Jahren fanden wir Buben auf unseren Streifzügen durch den ortseigenen Wald ganze Kisten voller Handgranaten; darunter auch Nebelgranaten, die von deutschen Soldaten hinterlassen worden waren. Mit Letzteren versuchten wir die Pferdebauern zu verärgern, indem wir ihre Tiere mit künstlichem Nebel erschreckten. Bubenstreiche, gewiss, aber das Spielen mit Gewehren, Munition, Panzerfäusten und dgl. verursachte im Nachkriegsdeutschland allerlei Unfälle, auch viele tödliche.

Sogar Jahre und Jahrzehnte nach dem Krieg wurden wir immer noch an diese schlimmen Zeiten erinnert, etwa wenn wir Brennholz aus dem Stalldorfer Wald holten, um es zu Hause zu sägen und zu spalten. Immer, wenn die Kreissäge plötzlich aufschrillte, wussten wir: Da stak noch ein Granatsplitter im Holz; ein Überbleibsel der krepierten Geschosse aus amerikanischen Geschützen von Anno 1945.

Und es ist auch keine Seltenheit, dass in unseren größeren Städten heute noch und immer wieder Blindgänger gefunden werden; sehr späte Erinnerungen an die schrecklichen Bombenangriffe von Seiten der Alliierten. Denn längst waren die britischen und amerikanischen Bombergeschwader dazu übergegangen, sogar jene Städte anzugreifen, die keinerlei Industriebetriebe beherbergten, auch dann noch, als der Krieg schon entschieden war – z. B. Dresden, das im Februar 1945 zerstört wurde, oder Würzburg, am 16. März 1945, obwohl es zur Lazarettstadt erklärt worden war. Außer verwundeten Soldaten beherbergte die Frankenmetropole nur Frauen, Kinder und alte Leute – plus die nötigen städtischen Beamten, meist ältere Herren und Kriegsbeschädigte.

Wir, im Dorf, blieben auf schier wunderbare Weise von direkten Kriegsschäden verschont. Das war beileibe nicht überall so. Oellingen, die Heimat unserer Mama, wurde unter Panzerbeschuss genommen, weil man dort deutsche Soldaten vermutete. Ganze Gehöfte brannten ab; auch der Kirchturm litt Schaden. So ähnlich erging es vielen kleinen Ortschaften und zahlreichen Städten in ganz Deutschland.

Evakuierte, Ausgebombte und Flüchtlinge

Die Nachkriegsjahre zählen zu den schwersten meines Lebens. Zugestanden, aus unserem Familienverband war niemand im Krieg gefallen bis auf den ältesten Sohn von Papas Schwester Gretel. Wir sind, alles in allem, glimpflich davongekommen. Schon das allein machte uns immer wieder dankbar.

Auch mussten wir im bäuerlich-ländlichen Umfeld nie wirklich hungern. Doch die allgemeinen Folgen des von Hitler und Genossen angezettelten und heraufbeschworenen Krieges bekamen wir alle zu spüren. Auf vielerlei Weise.

Für mich persönlich gehören die sechs Jahre im Internat – drei in Miltenberg, drei in Würzburg – und die gleichzeitig damit verbundenen sechs Gymnasialjahre auf staatlichen Gymnasien zu den trübsten meines Lebens: Wir hungerten und froren in den Wintermonaten. Und wir waren im Seminar unter der steten und strengen Kontrolle des Regens und der Präfekten. Wir wurden von den Lehrern nicht selten drangsaliert. Im Internat mussten wir rohen Lebertran essen, alle paar Tage einen Esslöffel voll! Dass Letzteres lebenswichtig für uns war, aus gesundheitlichen Gründen, begriffen wir damals noch nicht so recht. Auch paukten und lernten wir vieles auswendig, ob es Sinn machte oder nicht. Kurzum, wir wussten die mitunter gut gemeinten Regulierungen und Vorschriften nicht so recht einzuordnen. – Und wenn einer von uns während der Studierzeit Karl-May las oder Dumas Graf von Monte Christo und dabei erwischt wurde, dann folgte ein Donnerwetter.

Unsere Pauker, wie wir die Lehrer nannten, die mit »Herr Professor« angesprochen werden wollten, machten es uns im Unterricht nicht leicht. Sie hatten ja auch, im Vergleich zu heute, kaum ein Hilfsmittel. Mein Nachteil war zudem, dass ich als Außenseiter in die dritte Klasse kam und dass mir unendlich viel von dem Lehrstoff fehlte, den die anderen Klassenkameraden in den beiden Jahren davor sich hatten aneignen können. Meine einzige Vorbereitung auf die dritte Gymnasialklasse bestand in ein paar Monaten Privat-Unterricht in der lateinischen Sprache durch unseren Ortspfarrer Hans Spielmann, der es gut machte und zu Recht zu den besten Lateinern des Bistums zählte.

Heute bin ich trotz allem sehr dankbar für diese schweren Nachkriegsjahre; auch sie haben zu meiner Entwicklung und Reifung beigetragen. Und alle, die damals daran mitwirkten und beteiligt waren, verdienen ein großes, wenn auch spätes Lob und Dankeschön. Wie hätten sie in jenen Jahren auch anders handeln sollen!? Auch sie waren Kinder ihrer Zeit. – Vielleicht später, in einem anderen Zusammenhang, mehr über diese harten Jahre und wie wir sie als Jugendliche einschätzten. Jetzt schnell wieder zurück ins Dorf, gegen Kriegsende und in den Jahren kurz danach.

Gaurettersheim war überfüllt, wie alle Dörfer und Kleinstädte der Umgebung, sofern sie nicht zerstört worden waren. Überfüllt mit Evakuierten aus dem Westen: Aus Pirmasens in der Pfalz, aus dem Ruhrgebiet oder anderen Zentren der Schwerindustrie. Meistens waren es Mütter mit Kindern. Verteilt wurden sie vom Bürgermeister an die einzelnen Bauernhäuser. Das fing schon 1943 auf 1944 an. Da hieß es allenthalben: Zusammenrücken, einander beistehen und aushelfen. Brummend, sich empörend, schimpfend oder nicht, man wurde dazu gezwungen. Am besten waren jene dran, die einfach Ja sagten zu den gegebenen Umständen – auf beiden Seiten: Die Einzuquartierenden sowie jene, die ihre Räume zur Verfügung stellen mussten.

Auf Untermieter war man ja nirgends eingerichtet. Herde (und Öfen) gab es in den Bauernhäusern allenfalls in der Küche im Parterre bzw. in der guten Stube nebenan. Also mussten Notlösungen gefunden werden. Bislang unbeheizte Räume bekamen ein provisorisches Öfchen oder einen kleinen Herd. Die Kaminrohre leitete man durchs Fenster ins Freie.

Ab März 1945 wimmelte es im Gau zusätzlich von ausgebombten Würzburgern. Zu uns ins Haus kamen schon einen Tag nach dem schrecklichen Angriff zwei Buben, 12 und 14 Jahre alt: Franz und Willi Gehrold. Sie hatten nur das bei sich, was sie am Leibe trugen, und am Hals eine Schnur und ein Schildchen mit unserer Adresse. Letztere hatte ihnen ihr Vater mitgegeben; der hatte 1939 unseren Papa an der Westfront kennengelernt. Viel verband sie nicht, aber das genügte Vater Gehrold, um zu wissen, dass seine zwei ältesten Söhne bei uns gut aufgehoben wären. Seine (zweite) Frau und ihre fünf kleinen Kinder waren von ihm in den Odenwald geschickt worden, in die Heimat seiner Frau. Das Gehroldsche Haus in Würzburg war völlig abgebrannt; die Familie hatte sich rechtzeitig in einen bombensicheren Luftschutzkeller retten können.

Wenig später wurde uns über unseren Bürgermeister noch eine ganze Familie zugeteilt, ebenfalls ausgebombte Würzburger: Die Eltern und drei erwachsene Töchter. Sie erhielten zwei Zimmer im ersten Stock. Die Stapfs, so hießen sie, waren nette Leute. Der alte Herr war gelernter Schlosser; Leni, die älteste Tochter, war zwar verheiratet, aber ihr Mann befand sich in russischer Gefangenschaft. Daher schloss sie sich ihrer Familie an.

Insgesamt hatten wir unter unserem Dach neben den beiden Buben aus Würzburg, die mit uns Kindern lebten, noch Frau Folz mit ihrem Sohn Heinz aus Pirmasens und eben jetzt noch die fünfköpfige Familie Stapf. Dennoch ging alles schier lautlos über die Bühne. Man half einander, soweit möglich, und nahm Rücksicht aufeinander. Franz und Willi packten auf dem Hof und in der Landwirtschaft mit an, wie wir alle. Meister Stapf reparierte hier und dort etwas, auch in unserem eigenen Haushalt und auf dem Hof. Seine jüngste Tochter schenkte mir später eine alte Schreibmaschine (so schwer, dass ich, der gerade 12-jährige, sie kaum aufheben konnte) und brachte mir auch das Schreiben mit zehn Fingern bei.

So war es im ganzen Dorf: Niemand rief Halleluja, als die Evakuierten und Ausgebombten eintrafen und auf die Häuser verteilt wurden, aber man gewöhnte sich rasch aneinander. Und als später zahlreiche Flüchtlinge aus Schlesien und dem Sudetengau dazukamen, wurden auch diese an die einheimischen Familien verteilt, jetzt schon vom neuen, von den Amerikanern eingesetzten Bürgermeister.

Mit den Ost-Flüchtlingen kam neues Leben ins Dorf; auch die eine oder andere neue Idee. Es waren begabte Männer und Frauen unter ihnen. Was wir im Dorf nie zuvor erlebt hatten: Da wurden winters plötzlich Theaterstückchen aufgeführt, mitunter auch selbstverfasste Sketche, die sich auf das Dorfleben bezogen. Es wurde viel gesungen, gelacht und musiziert. Ich erinnere mich noch gut an einen Herrn Kindermann, der es meisterhaft verstand, das Mamatschi (schenk mir ein Pferdchen, ein Pferdchen wär das Paradies) so rührend vorzutragen, dass vielen Frauen die Tränen kamen.

Noch etwas war plötzlich ganz anders geworden: Mit den Fremden waren auch protestantische Christen ins Dorf gekommen, und die einst 100-prozentig katholische Gemeinde stellte allmählich fest, dass diese Andersgläubigen auch Menschen waren; Menschen wie wir – mit guten und weniger guten Seiten. Das war der Beginn eines allmählichen, wenn auch sehr zähen Umdenkens, hin zur einer ökumenischen Gesamthaltung.

Der Schwarzmarkt blühte allenthalben

»Gelassenheit ist eine anmutige Form des Selbstvertrauens ...« – Dieses Wort von Marie von Ebner-Eschenbach könnte über unsere Mama gesprochen worden sein. Selbstbewusstsein als Verankerung in Gottes Liebe und Fürsorge; als Urvertrauen in seine Güte – unerschütterlich und ohne Vorbehalte. Vor allem in den schweren Jahren nach dem Krieg; zur Zeit der Flüchtlingsströme, der Hamsterer und Hausierer, der Heimatlosen und Notleidenden.

Viele von ihnen zogen fast täglich durch die Bauerndörfer: Einen alten schäbigen Rucksack auf dem Rücken und eine verbeulte Tragetasche in den Händen. Ärmlich gekleidet und halb verhungert stolperten sie durch die Dörfer und bettelten um einen Esslöffel Schweinefett, um ein Stückchen Brot, um ein paar Eier oder auch um zwei, drei Holzscheite. Den Einheimischen waren sie lästig, diese von Hof zu Hof ziehenden Hamsterer, wie sie eher abfällig genannt wurden. Weil es so viele von ihnen waren! Weil man unmöglich allen helfen konnte!

Aber Mama hatte für alle ein gutes Wort. Meistens auch etwas Mehl, ein paar Kartoffeln oder Äpfel und einen Schluck Most. Mamas Augen waren immer voller Mitleid, ihre Gesten sagten zwar, wir hätten leider keine Wundertöpfe, aber ihr Mitgefühl und ihr Verlangen, diesen Hungernden zu helfen, waren stärker.

Damals blühten auch Schwarzmarkt und Tauschgeschäfte. Eingetauscht wurden vor allem Kleider, Anzüge, Mäntel und dgl. gegen Esswaren. Es gab zwar im ganzen Land Lebensmittelmarken für alle Bewohner, aber wo waren die vollen Läden? Und was man auf den Marken zugestanden bekam, reichte oft nicht aus, um den Hunger zu stillen.

Auch größere Artikelwie Pelzmäntel, Nähmaschinen, Fahrräder oder auch kleine Motorräder wurden mitunter angeboten – etwa gegen mehrere Riemen geräucherten Schinken oder gegen ein paar Säcke Kartoffel oder Mehl.

Unser NSU-Motorrad (125 Kubik, Baujahr 1939 oder anfangs der 1940er Jahre) wurde auf diese Weise eingetauscht. Wir, mein Bruder und ich, fuhren es nach Papas Tod noch mehrere Jahre lang. Einen gebrauchten Volkswagen konnte sich unsere Familie erst viel später leisten. Papa hat es nicht mehr erlebt. Er hatte vor dem Krieg im Wolfsburger VW-Werk eine Bestellung aufgegeben und auch vorausbezahlt: 999 Reichsmark! Das war um 1938. Doch dann brach der Krieg aus und alle noch nicht ausgelieferten Wagen wurden konfisziert und für die Wehrmacht umgebaut. Das Geld erhielten wir nie zurück.

Gelassenheit war nie Papas herausragende Eigenschaft; das war Mamas Markenzeichen: Gleichmut, Dankbarkeit, Humor, Gottvertrauen – und Mitleid mit allen Minderbemittelten, Kranken, Schwachen und Leidenden. Sie sorgte sich um alle, die in Bedrängnis waren, und half mit, ihre Not zu lindern.

Das spürten auch wir Kinder. Nicht, dass sie uns alles durchgehen ließ. Nein, aber wenn sie mal eine Schelte erteilen musste, dann tat es ihr gleich wieder leid – und wir sahen es ihren Augen an, dass sie uns trotz allem sehr gerne hatte.

Erziehung der Kinder zum Stillhalten und Brav-Sein

Damals ging man mit Kindern noch allgemein ganz anders um als heute: Streicheln, Liebkosen, mal in die Arme nehmen – das tat man kaum. In der Kindererziehung galten Härte, Strenge und Bestrafung. Ohrfeigen und auch gelegentlich Schläge waren allgemein üblich. Der immer wieder zitierte Bibelvers klang noch nach: Wer seinen Sohn lieb hat, der züchtigt ihn!

Das war weithin auch die Regel in der Volksschule. Unsere Lehrer schlugen uns: Mit dem Rohrstock auf die Hände; bei Buben auch auf den Hintern ... Das Wort Misshandlung in diesem Zusammenhang zu benützen, wäre undenkbar gewesen. Nicht selten wurden die Lehrer von den Eltern geradezu ermutigt, ihre Zöglinge mit Strenge zu behandeln – und auch mit Watschen oder mit dem Rohrstock nicht zu sparsam oder zimperlich umzugehen.

Brav-Sein lautete das Zauberwort! Brav sein, das hieß nichts anderes, als mucksmäuschenstill in der Stubenecke zu sitzen und nur dann etwas zu sagen, wenn man (von einem Erwachsenen) gefragt wurde. Kein Wunder, dass wir mehrheitlich eingeschüchtert waren!

Das galt für mich noch sehr lange und weit über das Elternhaus hinaus: Überall nahm ich mich zurück, im Dorf und in der Schule; auch immer noch, als ich schon aufs Gymnasium ging. Und überhaupt, ich gehörte in meiner Jugend schon immer und wie selbstverständlich zu den Schüchternen und Braven.

Dazu trug auch Papas Strenge bei. Seine Schläge fürchtete ich, auch wenn sie so häufig nicht waren. Vielleicht war er auch deswegen mir gegenüber mitunter so hart, weil ich mich als Kind kaum für die Landwirtschaft interessierte. Ich hätte ja, weil Erstgeborener, mal den Hof übernehmen sollen! Doch der Kuhstall war nie mein Ding, auch nicht der Schweinestall. Natürlich arbeitete ich überall auf dem Hof und auf den Feldern mit, was man von uns Kindern erwartete, und ich bekam auch alles mit, was tagein, tagaus geschah. Aber besonderes Interesse zeigte ich nie daran. Damals jedenfalls nicht.

Wie sich später herausstellte (ich erinnere nur an meine Zeit in der Afrika-Mission!), bekam ich sogar sehr viel mit, was sich landwirtschaftlich bei uns tat. Aber Papas Haltung (mir gegenüber) machte es mir nicht leicht, dem Bäuerlichen etwas Angenehmes abzugewinnen. Heute sehe ich es anders; ganz anders. Und ich werfe ihm auch nichts vor. Schon gar nicht im Nachhinein. Weil ich weiß, dass man damals auf dem Land ganz allgemein so dachte: Wer keine landwirtschaftlichen Arbeiten verrichtete (oder sie ohne große Begeisterung ausführte), wurde als Faulenzer, Taugenichts, Schwächling und Stubenhocker hingestellt. Als einer, der das Brot für die Suppe nicht verdient hätte!

Erst als ich mit dem Gymnasium begann, änderte sich diese Haltung. Da stand bereits fest, dass mein Bruder Georg den Hof übernehmen würde.

Und heute, viele Jahrzehnte später, denke ich manchmal: Schade, dass Papa von meinem Erwachsenenleben nichts mehr mitbekommen hat! Weder von meinem Unistudium noch von meiner Primiz; weder von meinem Einsatz in Afrika noch von meiner Arbeit als Redakteur, Journalist, Publizist und Buchautor.

Eisenbahn-Abenteuer im schneereichen Januar 1947

Besonders nahe, vielleicht am allernächsten, war mir Papa im eisig kalten Januar 1947. Weil Winter war und es auf Hof und Feldern eher ruhig zuging, entschloss er sich, mich nach den Weihnachtsferien auf der Rückreise ins Internat zu begleiten. Per Bahn fuhren wir von Unterwittighausen aus im weiten Bogen über Tauberbischofsheim, Lauda, Osterburken und Walldürrn ins romantische Miltenberg am Main. Die lange und umständliche Zugfahrt war nötig geworden, weil viele Bahnbrücken, auch die über den Main, noch nicht wieder aufgebaut waren. Deutsche Soldaten hatten sie 1945 gesprengt, um den Vormarsch der Amerikaner zu stoppen. Sie befolgten damit einen der unsinnigsten Befehle Hitlers zu einer Zeit, nachdem amerikanische Soldaten längst deutschen Boden betreten hatten ...

Als wir Miltenberg erreichten und im Kilianeum vorsprachen, wunderte man sich: Habt ihr keine Information bekommen? Die Ferien mussten verlängert werden. Kälteferien wegen Kohlenmangel! Auch an Esswaren fehlt es allenthalben. Wir beginnen mit dem Schulbetrieb erst wieder im März. Zwischenzeitlich werden allen Schülern von ihren Klassenlehrern schriftliche Aufgaben zugeschickt . . .

Nein, wir hatten keine Post erhalten; die traf erst ein, als wir wieder nach Gaurettersheim zurückgekehrt waren.

Noch am Spätnachmittag desselben Tages fuhren wir wieder zurück und erreichten unsere kleine Bahnstation kurz nach Mitternacht. Da Papa den Lokführer kannte, durfte ich einen Teil der Strecke in der Lokomotive verbringen, zusammen mit dem Heizer und einem der Schaffner. Die von der Kohlenheizung ausgehende Wärme tat gut, denn draußen herrschte bittere Kälte, und die Waggons waren nur dürftig beheizt. Diesel- und Elektro-Loks waren damals noch selten und wurden eher auf den großen Transitstrecken gefahren. Für mich, den Zwölfjährigen, war diese nächtliche Fahrt ein echtes Erlebnis.

Wir waren also wieder an der Wittig angekommen, einem winzigen Flüsschen, das in die Tauber mündet; eine ihrer Quellen befindet sich in Gaurettersheim, am Erlen-Hölzchen. Dort beginnt der Mühlbach, der unterhalb des Dorfes vorbeiführt, um schließlich in Unterwittighausen in die Wittig einzumünden. Damit steht auch fest, dass mein Heimatdorf indirekt mit dem Rhein verbunden ist – und dass »unser Wasser« letztendlich auch an Köln vorbei in die Nordsee fließt!

Wie gesagt, jetzt standen wir zwischen zwölf und ein Uhr nachts auf dem menschenleeren Bahnhofsgelände. Papa hatte dort sein Fahrrad abgestellt. Mit diesem bewegten wir uns jetzt abwechselnd: Erst fuhr er ein paar hundert Meter, stellte dann das Rad an die Straßenseite und ging zu Fuß weiter. Sobald ich bis auf diese Höhe kam, wo sich das mit meinem Köfferchen bepackte Rad befand, stieg ich auf, überholte Papa, fuhr 400, 500 Meter weiter und legte dann das Rad wieder an den Straßenrand. So taten wir, abwechselnd, bis wir Gaurettersheim erreichten.

Es war Vollmond, und der ein paar Tage vorher gefallene Schnee lag inzwischen festgefahren und festgetrampelt auf der Landstraße. Während Mond und Sterne uns wie fahle Laternen erschienen, hüpften Scharen von Feldhasen um uns herum. Ich denke, auch ihnen war kalt und sie wollten sich warmrennen. Es war ein tolles nächtliches Hasentreiben, wie man es sich wilder und lustiger kaum vorstellen konnte. Und ich merkte kaum, wie rasch wir uns dem Heimatdorf näherten. Mama war nicht wenig überrascht, als sie uns kommen hörte.

399
479,23 ₽
Возрастное ограничение:
0+
Дата выхода на Литрес:
23 декабря 2023
Объем:
397 стр. 13 иллюстраций
ISBN:
9783957448309
Издатель:
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