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04:00 – 05:00
Gisela
Eva Encke

„Piep, piep, tirili, tschilp.“

Diese elenden Vögel könnte sie abschießen. In aller Herrgottsfrühe machten die einen Höllenlärm. Gisela versuchte krampfhaft, die Augen zuzuhalten, damit ihr Körper nicht meinte, es sei Morgen und sich aufs Wachwerden einstellte. Wenn sie doch nur die Ohren zuklappen könnte. Ohrstöpsel, das wäre es gewesen, aber daran hätte sie gestern Abend denken sollen. Aber gestern Abend hatte sie ja mit Ulla, ihrer besten Freundin, im Schrebergarten-Vereinshaus zusammen gesessen. Ein recht feuchtfröhlicher Abend.

„Pieeeep, pieeep, tschilp, tschilp.“ Da hat sich doch so ein Vieh direkt vor ihrem Fenster platziert. Gisela drehte sich um und zog sich die Decke über den Kopf. Ein kühler Luftzug traf ihre Füße. Verdammt, so groß war sie doch gar nicht, dass sie nicht ganz unter die Decke passte. Sie wurschtelte ihre Füße rein. Dann aber lagen wieder die Ohren frei. Neuer Vogelgesang bohrte sich in ihre Gehörwindungen. Jetzt war es auch egal, sie schlug die Augen auf. Es war dunkel. Es war stockdunkel. Mitten in der Nacht und dieses doofe Federvieh machte auf so was von „guten Morgen“. Es war zum Kotzen. Gisela wand sich aus dem Bett. Wo sie schon wach war, konnte sie auch gleich mal aufs Klo. Als sie am Fenster vorbei kam, schob sie den Vorhang etwas zu Seite, und da sah sie ganz schwach am Horizont einen kleinen hellen Streifen, ganz zart, gerade so eben zu erahnen. Die Uhr zeigte 04:05 Uhr.

Wie spät war es gestern eigentlich geworden. Nein, sie korrigierte sich, nicht gestern Abend, sondern heute Morgen. Ulla hatte wieder mal kein Ende gefunden beim Reden über ihren Lieblings-Fußballverein, die Schwarz-Gelben.

Für Gisela war Fußball sozusagen ein weißer Fleck auf der Landkarte. Sie wusste nicht das Geringste über diesen Sport, nur, dass er sie nicht interessierte und dass Männer jeder Altersstufe darüber dem Wahnsinn verfallen konnten.

Gisela schlurfte weiter ins Bad. In den Spiegel schaute sie nicht, nein, das würde sie sich nicht antun. Obwohl ihre Enkelin Madeleine beim letzten Treffen − mein Gott, das war auch schon wer weiß wie lange her − betonte, sie sei doch noch recht peppig für ihr Alter. Das konnte gar kein Kompliment sein, wenn sie bedachte, wie ausgeflippt die immer rumlief. Na ja, bei so einem Namen nicht anders zu erwarten. Madlään − wer gibt seinem Kind nur so einen Namen − und der dann auch noch ganz anders geschrieben wurde, sodass man dauernd buchstabieren musste. Nein, manche Eltern waren schon ein Kreuz für ihre Kinder. Wenn sie bedachte …, aber nicht so früh am Morgen, nein, dazu war sie geistig noch nicht in der Lage. Madeleine, die einzige aus der Familie, − pah, was hieß schon Familie −, zu der sie Kontakt hatte, wenn sie sich auch nur alle Jubeljahre mal sahen. Ein Wunder übrigens, wenn sie überlegte, dass Madeleine das uneheliche Kind ihres Sohnes war und ihre Mutter nur eine seiner kurzfristigen Beziehungen. Nur dem Umstand, dass Gisela sich damals als Babysitter aufgedrängt hatte, war es zu verdanken, dass die Verbindung zu diesem Kind nicht total abbrach. Heute sahen sie sich selten bis eher gar nicht. Sie konnte die Gedankenwelt von Madeleine nicht verstehen, na, aber alle jungen Leute waren unverständlich, sie lebten ja auch in einer anderen Welt als sie Alten.

Ihre Gedanken wanderten wieder zu Ulla, die einzige aus der alten Clique, mit der sie sich noch traf. Und dass auch nur, weil sie nicht einsam sein wollte. Irgendwie waren alle ihre Kontakte versandet. Besonders, nachdem Giselas Mann gestorben war. Keiner wollte mehr so recht aus dem Haus. Gisela hatte nie geglaubt, dass sie sich derart verlassen fühlen würde. Ein Grund mit, warum sie sich an Ulla klammerte. Dabei lebte die in einer ganz anderen Gedankenwelt: dem Fußball.

Diese Schwarz-Gelben hatten es Ulla so angetan, dass sie sogar ihrem gelben Wellensittich mit einem schwarzen Permanentmarker schwarze Streifen verpasst hatte. Die Flügel längs gestreift und der Bauch quer wie bei einer Biene. Aber dieses blöde Wellensittich-Vieh, so hatte Ulla Gisela nach dem fünften Bier anvertraut, brachte als einziges Wort nur „Schalke“ heraus. Ulla wusste, dass ihr Ehemann ihm das beigebracht hatte. Der war eher neutral, was Fußball anging, aber hatte sich einen Spaß daraus gemacht Ulla zu ärgern. Das mit dem Ärgern war jetzt auch vorbei, Ullas Mann war Geschichte. Aber dieses „Schalke“ Gepiepse des Sittichs ließ sich nicht mehr abstellen.

Jetzt hatte Ulla etwas ganz Neues vor, einen Meilenstein sozusagen, etwas, dass einschlagen und Ulla über Nacht bekannt machen sollte. Sie würde einen schwarz-gelben Fanklub gründen nur für Frauen, und der Vogel sollte ihr Maskottchen sein. Der Name des Fanklubs stand noch nicht ganz fest. Sie schwankte noch zwischen ‚Schwarz-Gelbe Schicksen‘ oder ‚Schwarz-Gelbe Frauenpower‘. Ulla hatte auch schon mit einem Zeitungsredakteur gesprochen − es war schließlich der erste rein weibliche Fanklub − und der hatte versprochen, darüber einen Artikel zu schreiben, dadurch würde Reklame gemacht und sie würden Mitglieder bekommen ohne Ende. Gisela hatte sich das begeisterte Reden über den Frauenfanklub etwas erstaunt angehört.

„Wer macht denn da mit bei deinem Klub?“, hatte sie gefragt und danach erfahren, dass es bisher nur eine Vorsitzende gab, nämlich Ulla, und natürlich eine Schatzmeisterin, Gisela.

„Welche Gisela?“

„Na, dich. Du bist doch dabei. Du bist die geeignete Person für diesen ganzen finanziellen Kram. Du weißt doch, ich habe keine Ahnung von Geldsachen. Lass mich bloß nicht hängen, da wäre ich dir ewig böse.“

Gisela saß auf der Toilette und bewegte vorsichtig den Kopf. Ihr Gehirn schwamm heute in besonders viel Flüssigkeit, wahrscheinlich Bier vom gestrigen Abend, und ihre Hirnwindungen stießen bei jeder Bewegung schmerzhaft an ihre knöchernen Grenzen. Das war aber auch ein Besäufnis gewesen. Und ganz zum Schluss hatte Ulla noch ihren Wellensittich Zippy aus der Laube geholt, um sein neues schwarz-gelbes Outfit dem grölenden Lachen der gesamten Kneipe im Gartenverein vorzustellen. Woraufhin das verängstigte Tier ,Schaalke‘ piepste und noch mehr Lacher auslöste. Erschreckt flatterte es heftig und stieß einen Schalkeruf nach dem anderen aus. Ulla wurde sauer und schüttelte das Tier, woraufhin Zippy ihr in die Hand pickte und Ulla es losließ. Wie ein Brummkreisel zischte Zippy ab durch den Raum, schwirrte wie eine Riesenbiene und zog unzählige Runden über den Köpfen. Alle versuchten das Tier einzufangen, aber das verschanzte sich ganz hoch oben auf einem Balken und piepste. Die versammelten Schrebergärtner machten unzählige Vorschläge, wie dem Vogel beizukommen wäre und schließlich ging einer los, um seine Leiter zu holen. Als er mit dem sperrigen Teil wiederkam, machte sich Zippy flugs aus der offenen Türe davon. Trotz Rufen kam er nicht wieder. Ulla war todunglücklich. Das Maskottchen war weg, noch bevor der Fanklub gegründet war. Sie war so am Boden zerstört, dass Gisela nicht anders konnte, als ihr zu versprechen als Kassenwart bei ihrem Verein mitzumachen. Ob sie als ehemalige Kassiererin bei Real dazu geeignet war, wollte sie nicht diskutieren. Als Dank für ihre Bereitschaft versprach Ulla, sie beim heutigen letzten Bundesligaspiel der Saison mit ins Stadion zu nehmen. Sie durfte auf die Karte von Ullas Mann mit, und wenn sie wollte, dann könnte sie, Gisela, auch dessen Dauerkarte übernehmen, was ein großes Zugeständnis wäre, weil, wie Ulla sagte, die Bewerber für Dauerkarten schon Schlange stünden.

Als Gisela später durch die Kleingartenanlage nach Hause ging, kam sie auch an ihrem alten Garten vorbei. Ja, als ihr Mann noch lebte, war hier ihr zweites Zuhause gewesen. Er lebte für seine Parzelle. Und er pflegte sie hingebungsvoll. Gut, dass sie noch zur Arbeit gegangen war, diese übertriebene Akkuratesse hatte sie nervös gemacht. Und mit ihrem stressigen Job hatte sie auch den mangelnden Einsatz im Garten begründen können. Ihr Mann war ein Schatz gewesen, er ließ sie in Ruhe. Wenn er nur seine Beete pflegen, das Unkraut bekämpfen und den Rasen so trimmen konnte, dass er weich wurde wie ein dicker Teppich, dann war ihr Mann glücklich. Gisela seufzte, ja, er war schon einer gewesen. Als er dann so plötzlich starb, war sie aufgeschmissen. Sie musste ja noch ein paar Jahre arbeiten, seine Rente, die hätte allein nicht gereicht. Und Gartenarbeit, da wusste sie gar nichts von. Ja, es war schon gut gewesen, dass sie den Garten schließlich abgegeben hatte. Die Geselligkeit fehlte ihr allerdings, die Gartennachbarn, das Feiern, die Freundin Ulla aus dem Garten nebenan. Ulla war eine begeisterte Kleingartenanhängerin. Allerdings lag ihr mehr das Kommunikative, das heißt, sie erfuhr alle Neuigkeiten und verteilte sie gleichmäßig in der Anlage. ,Unser Gartenblatt‘ wurde sie von vielen genannt. Seitdem ihr Ehemann sich nach einer Kur mit seinem Kurschatten nach Süddeutschland abgesetzt hatte, fiel sie erst in ein Loch, aber gestern schien es, als ob sie das überwunden habe. Wahrscheinlich wegen ihrer neuen Pläne.

Fußball, ging es Gisela durch den Kopf, dieser bekloppte Idiotensport, wo sich zwei Rudel Männer auf dem Spielfeld um den Ball stritten, nee, für Fußball hatte sie nie was übergehabt, und ob ihr diese ganze Sache da mit dem Fanklub Spaß machen wird, das musste sich erst noch zeigen. Und eins war schon mal klar, so verrückte, Klamotten, so alles in Schwarz-gelb, das würde sie sich nicht antun, nie im Leben, wie eine aufgeplusterte Biene rumlaufen, nee, nee. Nicht mit mir, dachte Gisela. Wenn sie da an den Jungen von dem Kioskbesitzer in ihrer Straße dachte, Fli …, nein, Finn, hieß er. Schon verrückt diese neuen Namen. Nun, der war auch so ein Fußballtyp. Spielte selber, hatte der Vater stolz erzählt. Torwart und sogar recht erfolgreich. Wie man seinen Kindern erlauben konnte, so einen Idiotensport zu betreiben, konnte Gisela wirklich nicht verstehen. Dabei schien der Vater ein ganz netter Mensch zu sein.

Gisela beobachtete, wie der schmale helle Streifen am Horizont breiter wurde. Sie öffnete das Fenster. Ein kühler Luftzug kam herein. Aber gleichzeitig auch dieser Geruch, dieser aasartige, faulende Gestank, der die Stadt wie eine weiche Wolke überdeckte, eine warme Wolke, die sich in jede Ritze schmiegte und einen dazu brachte, die Fenster selbst bei der größten Hitze geschlossen zu halten. Wenn doch bloß die Müllabfuhr endlich wieder käme. Gisela machte das Fenster zu und beschloss wieder ins Bett zu gehen.

Im Halbschlaf überlegte sie noch, ob der kleine Schatten, den sie da gerade über ihrem Balkon gesehen hatte, wirklich Zippy, dieser schwarz-gelbe Vogelverschnitt war oder ob sie ihn sich nur eingebildet hatte.

Die Uhr zeigte 04:51.

05:00 – 06:00
Charlotte träumt von ...
Achim Albrecht

Gustav. Ganz allein von Gustav. Seit einigen Tagen gab es nur ihn in ihrem Leben. Zuvor hatte es noch Event Management und Philosophie an der Uni gegeben, ihre Freundin Eva, die eine aufregende Verbindung mit einem Fußballstar eingegangen war, trendige Klamotten und eine hübsche Maisonette-Wohnung in Holzen. Charlotte träumte von einem ausgefüllten Leben, einem Mini Cooper in Glücksbärchenfarben und von beruflicher Selbstständigkeit. Männer − ja von Männern auch. Gelegentlich. Eher selten. Männer waren fleischgewordene Enttäuschungen.

In der rosafarbenen Jungmädchenphase, die einem gerade eben noch die höchsten Glücksgefühle beim Anblick trabender Pferde bescherte und sofort danach radikal auf lässige Jungs mit Gelhaarfrisuren umschwenkte, war keine Stellschraube für Realitätssinn. Tierärztin wollte man werden und ein eigenes Gestüt besitzen, an der Seite eines erfolgreichen Arztes leben, der blendend aussah und bei einem minimalen Arbeitseinsatz von wenigen Stunden pro Woche nur für die zwölfköpfige Familie da war. Da wäre auch Geld, ein schier unerschöpflicher Fundus und natürlich ein Palast von Haus, repräsentativ und nur übertroffen von der Ausstrahlung der makellosen Figur der Hausherrin Charlotte.

Für Charlotte war diese Phase noch in lebendiger Erinnerung. Damals schien alles leicht und ferngelenkt, eine Schussfahrt ins Glück, umspielt vom Fahrtwind des Lebens. Man konnte sich nur an ein einziges Problem erinnern. Ein schwerwiegendes Problem, das alles zunichtemachen könnte. Es war zum Verzweifeln und Mädchen auf rosafarbenen Wolken verzweifeln schnell, wenn die duftige Wolke befleckt wird. Das Problem war der Name. Charlotte Siebenschroer. Nein, nicht der Nachname. Diesen konnte man ablegen wie eine lästige Gewohnheit und nach dem edlen Namen des Herzensmannes greifen − Rothschild, Baron von. Das Leben hielt unzählige Möglichkeiten bereit. Aber Charlotte? War Charlotte nicht ein wenig ältlich, klang der Name nicht wie eine oft getragene Perlenkette auf faltigem Hals? Waren die Charlottes aus der Geschichte nicht intellektuelle Brieffreundschaften ebenso intellektueller Männer? Charlotte klang in den Ohren von Charlotte fade wie Ochsenschwanzsuppe und uninspiriert wie Tiefkühlschnittlauch. Zur Hölle mit Charlotte, zur Hölle mit den Eltern, die sich ein solches lebenslanges Kainsmal für ihre einzige Tochter ausgedacht hatten. Zur Hölle mit all den Träumen und hochfliegenden Plänen, die von einer Hypothek namens Charlotte torpediert werden würden. Nach all diesem Gedankenbrei vergrub sich Charlotte in ihrem rosa Kissen und schluchzte herzerweichend wegen ihrer verlorenen Zukunft.

Eine pubertäre Drehung weiter fand das Leben Charlotte aus ihrer rosa Pferdephase entwachsen mit brombeerfarbener Schminke im Gesicht an der Seite eines Typen, der nach zwölf Jahren Gefängnis aussah, auf Kurt Cobain machte und Fliesenleger lernte. Klar hatte er Pickel. Klar rauchte er filterlos. Klar pflegte er diesen gespreizten Habitus, der ihn als „urban cowboy“ auswies, kaltschnäuzig, rotzig, unangepasst. Klar stand Charlotte auf ihn. Das war Naturgesetz.

An einer Ziegelsteinwand in einem Mischgebiet aus zusammengewürfelten Industriebauten, Diskotheken und Bürogebäuden war das Unvermeidliche passiert. Ein hochgewachsenes Mädchen im kurzen Paillettenkleid, das seinen Galan um Haupteslänge überragte, ergab sich in wenig schmeichelhafter Pose einem unsicher hantierenden Jüngling, der sich redlich und akrobatisch anspruchsvoll abmühte. Es war ein ungestümer Akt, der vorüber war, noch bevor die ersten Wogen der Peinlichkeit einsetzen konnten. Danach zündete man Zigaretten an, zupfte an sich herum und sprach nicht mehr darüber.

Die Charlotte von heute, die Studentin mit Disziplin und Vision, die gereifte Persönlichkeit von Anfang zwanzig, hatte Mühe sich an diese Zeiten zu erinnern. Das war nicht sie. Das war sie niemals gewesen, wenn man sie fragte. Eines aber blieb, heftete sich an sie wie ein nie enden wollender Fluch. Nein, nicht ihr Name, mit dem sie sich längst ausgesöhnt hatte, sondern die Männer. Männer jeglicher Couleur. Nicht dass Charlotte Männer generell zuwider waren. Ganz im Gegenteil. Männer waren eine überaus interessante Spezies mit verlockendem Duft und aufreizenden körperlichen Attributen. Manche waren sogar charmant, witzig und erfolgreich. Von diesen war ein geringer, aber immerhin ausreichender Prozentsatz unverheiratet oder geschieden. Der eigentliche Fluch aber war deren Länge.

Charlotte war das, was man eine Giraffenfrau nennen konnte. Verträumte Augen unter einer Audrey Hepburn Frisur. Das war ihre Masche. Ein trotzig und zugleich Hilfe suchend vorgeschobenes Kinn, ebenmäßige Züge und dann das Untergestell, das von einem Schwanenhals eingeleitet wurde. Endlos die Figur und weitaus eckiger als üppig, aber vollkommen in den Proportionen. Jedenfalls für eine Giraffenfrau. Zierliches Becken und schlanke Beine. Dazu ein unheiliger Hang zu High Heels. Der Gang ein wenig x-beinig, als stände Charlotte kurz vor der Absolvierung eines royalen Knicks. Alles in allem eine raffinierte Mischung, die nach einem Baskettballspieler verlangte, der sie zu pflücken wusste.

Die Pflücker, die sich an Charlotte heranmachten waren allerdings sämtlich von der falschen Sorte. Konnte man anfangs noch an eine statistisch erklärbare Fehlerquote glauben, die sich im Laufe der Zeit ausgleichen würde, war Jahre danach aus den anfänglichen Enttäuschungen bittere Routine geworden. Die Welt war voller kleiner Männer. Bonsai-Machos mit Brustbehaarung auf lächerlich aufgepolsterten Schuhen. Blasse Denker, denen der Vererbungsapparat die Wachstumsgene verweigerte. Charmebolzen für Flirts unter der Gürtellinie. Zwerge mit Riesenegos. Dackel, die einen Bernhardiner besteigen wollten. Sitzhocker, die sich an eine Leiter schmiegten. Es war zum Verzweifeln. Charlotte wirkte wie ein Magnet auf den Teil der Männerwelt, die sich ihre Länge nicht leisten konnte, es aber unter allen Umständen wollte. So kam es, dass sich Charlotte bei ihren täglichen Einkäufen, im Sportstudio, bei Kinobesuchen und überall sonst des Andrangs kleiner Männer erwehren musste, die lächelnd, gestikulierend und vielsagende Blicke auf sie werfend auf sie zukamen. Anfangs hatte Charlotte noch höflich abwehrend reagiert. Später versuchte sie es mit Sarkasmus und verehrte ihren Bewunderern kleine Zettel, auf denen stand: ,Keine Nummer unter 1,95 cm‘. Seltsamerweise fanden die Männer diesen Spruch weitaus weniger witzig als Charlotte und Eva, die mit dem zumeist hochgewachsenen Fußballervolk bestens bedient war.

Der absolute Tiefpunkt in Charlottes Leben war die Episode mit einem alten, geilen Bock, der sie bei Edeka aufs Korn genommen hatte. Charlotte hatte Respekt vor dem Alter. Aber alte Menschen machten manchmal seltsame Dinge. Sie verstellten Gänge, behinderten alle, die es eilig hatten, verfielen beim Anblick von Supermarktkassen in einen unerhörten Mitteilungsdrang und fingerten kurzsichtig in ihren Geldbörsen, um den geforderten Betrag nach endlosen Minuten fast passend hinzuzählen. Charlotte hatte gelernt, nachsichtig zu sein. Das Alter hatte seine eigenen Gesetze. Es verwandelte die Menschen und mit ein wenig Rücksichtnahme fand jeder seinen ihm gebührenden Platz. Charlotte fühlte sich als Gutmensch. Gelebte Toleranz war ihre Maxime.

Der Edeka in der Nordstadt war nicht besser oder schlechter als jeder andere Supermarkt. Charlotte hatte sich mit Eva verabredet, die noch zwei oder drei Leute mitbringen wollte. Ein neuer Klub hatte aufgemacht. Irgendetwas mit After Dinner Party und Strandpromenadenfeeling. Eva tat immer etwas geheimnisvoll, sowohl was ihr Privatleben als auch alles andere betraf. Charlotte liebte es, den Menschen von einem verschwiegenen Plätzchen aus zuzusehen und dabei zu raten, was in ihnen vorging. Die Gedanken des übergewichtigen Muttertieres, das sich mit einem sperrigen Einkaufswagen und drei kleinen Kindern abmühte, waren unschwer zu erraten. Charlotte sah an sich herunter. Sie trug ein Design Minikleid und farblich abgestimmte Pumps. Nach drei Kindern würde auch sie in einer unförmigen Bluse und Gesundheitslatschen stecken. Charlotte schüttelte sich. Zwei Handwerker waren auf dem Weg in die Bäckerei in der Vorhalle des Supermarktes. Ihre raschen Schritte zeigten, dass sie sich auskannten. Bulettenbrötchen, Kaffee und Zigaretten, mutmaßte Charlotte. Oder die Bedienung hinter der Brottheke. Die Kleine mit den haselnussbraunen Locken und dem aufreizenden Lächeln. Leichte Beute.

Es mochte sein, dass Charlotte an ihrem Platz neben den Fahrradständern in einen Tagtraum verfallen war, wie es bei ihr öfter vorkam. Es mochte sein, dass sie mit versonnenem Gesichtsausdruck ein Selbstgespräch führte. Jedenfalls wurde sie jäh von einer brüchigen Altmännerstimme aus allen Träumen gerissen. ,Bist du eine Kollegin von Biggi?‘, fragte die Stimme. Nein, sie fragte nicht, sondern stellte diesen Sachverhalt fest, als habe die Stimme besondere Kenntnisse, über die Charlotte nicht verfügte. Der Mann vor ihr war ein fleischiger Rentner mit einer speckigen Prinz-Heinrich-Mütze auf dem Kopf. Graue Windjacke, graue Stoffhose, graue Schnürschuhe. Die Wangen gerötet, der Mund über einem übel riechenden Zigarrenstumpen zusammengepresst. Wässrige Augen, die sie fixierten. Klein, natürlich war er klein. Zusätzlich geschrumpft vom Alter. Er mochte über siebzig sein. Gleich würde er sie zu einem Kaffee einladen und erklären, dass er sie verwechselt habe, weil Biggi ihm dieses und jenes erzählte, was sich als unzutreffend herausgestellt habe. Jedenfalls sei er froh, Charlotte begegnet zu sein und wolle die Gelegenheit nutzen und bla, bla, bla. Charlotte kannte den ganzen Text. Es war immer der gleiche in unzähligen Variationen. Und dabei würde sie von gierigen Augen ausgezogen werden. Kleine Männer eben. Auch im Alter kein bisschen weise.

Doch der hier war anders. Entschieden anders. Er schien entschlossen zu sein und er sagte: ,Ich bin Heinrich‘ und nickte dabei, während er nach ihrer Hand griff und versuchte, sie in Richtung der völlig überfüllten Müllcontainer zu ziehen. ,Ich bin Charlotte‘, hörte Charlotte sich sagen, während ihre Augen Hilfe suchend in jede Richtung flogen. Niemand beachtete das ungleiche Paar, das seinen kleinen, zähen Ringkampf ausfocht, ein stämmiger, untersetzter Rentner und eine Gazelle von Frau. ,Wenn es das Geld ist? Ich habe das Geld passend‘. Charlotte widersetzte sich der fremden Hand und starrte auf den sorgfältig gefalteten 50 Euro Schein. Die Müllberge rotteten vor sich hin und einige Fußgänger pressten Taschentücher vor ihre Gesichter. ,Lassen Sie mich sofort los!‘, zischte Charlotte und riss ihren Arm zurück. ,Was wollen Sie eigentlich? Ich kann die 50 Euro auch nicht wechseln‘. Für einen Moment schien der Rentner namens Heinrich verwirrt. Dann klarte sein Blick auf und er nahm die Zigarre aus dem breit grinsenden Mund. ‚Ich verstehe, es ist nicht genug. Die Inflation. Ich verstehe‘. Umständlich fingerte er einen Zwanziger aus seiner Jackentasche und legte ihn auf den Fünfziger. Jetzt war Charlotte an der Reihe verwirrt zu sein. Der Mund des Rentners hatte eine feuchte Aussprache. Sie passte zu dem, was er zu sagen hatte. ,Nur eine Handentspannung‘, sagte der Mund. Er formte die Vokale mit besonderer Sorgfalt. ,Wie deine Kollegin Biggi und die anderen. Mehr zahle ich nicht‘. Dann verstummte er und die Hand mit den Geldscheinen wies in Richtung Müllcontainer.

Es dauerte eine halbe Ewigkeit, bis Charlotte verstand. Charlotte war keine Frau, die dazu neigte zu kreischen, aber für alles gibt es ein erstes Mal. Charlotte kreischte. Sie kreischte aus voller Kehle, während sie vor dem kleinen, dicken, grauen Rentner zurückwich, über einen Bügel des Fahrradständers stolperte und zu Boden ging. Auch der Rentner kreischte und wich zurück, die Hand mit dem Geld ausgestreckt wie eine Opfergabe. Passanten warfen scheue Seitenblicke auf das ungleiche Paar, die ausgestreckt daliegende Giraffenfrau im Minikleid und den Rentner mit dem Geldarm. Zur gleichen Zeit ergriffen die beiden die Flucht in unterschiedliche Richtungen. Die Giraffenfrau rappelte sich hoch und lief schwankend an den Müllcontainern vorbei Richtung Straße. Ihre Aufmachung war nicht für einen Sprint gedacht. Das Kreischen war in kleine Klagelaute übergegangen. Der Rentner bückte sich nach seinem Geld, das ihm aus der Hand gefallen war. Dann ging er mit kurzen Schritten und hochroten Kopfes in die entgegengesetzte Richtung. Der Jutebeutel mit seinen Einkäufen schleifte auf dem Boden. Die Umstehenden gingen ihm aus dem Weg. Verrückte. Es wurde immer schlimmer mit dieser Gegend. Der Stadtrat musste endlich etwas unternehmen. Jetzt drehten schon die jungen Frauen und die Rentner durch.

Charlotte rettete sich in eine verschwiegene Kaffeebar und telefonierte mit Eva. Sie konnte über das Geschehene schon wieder lachen. Ein Missverständnis und ein perverser Rentner. Auf der Toilette des Cafés machte sie sich frisch. Sie sah an sich herunter. Sie war gekleidet, wie junge Damen sich kleiden. Nicht besonders auffällig. Kleine Männer waren die Pest. Heinrich blieb erst stehen, als ihm schwarz vor Augen wurde. Keuchend sah er sich um und bemerkte, dass er in die falsche Richtung gehastet war. Ohne darüber nachzudenken urinierte er im Stehen gegen den Stamm einer Ulme und durchnässte dabei seine Beinkleider. Es war ihm egal. Heinrich war froh, dass er der Kreischattacke und der Bloßstellung entgangen war. Was lungerte das junge Ding auch dort herum, wenn sie nicht zum Geldverdienen da war? Heinrich schüttelte den Kopf. So etwas hätte es früher nicht gegeben. Dienstleistungen verweigern. Alte Männer ankreischen. Er überlegte sich, ob er Edeka verklagen könnte. Das Geld würde er gut brauchen können. Was für ein Tag und es würde nicht besser werden. Der neue Schnöselarzt. Die Untersuchung. Der Müll in der ganzen Stadt. Schwierige Zeiten.

Jetzt saß Charlotte unschlüssig an ihrem Küchentisch und umklammerte eine Tasse Kaffee. Die Uhr zeigte 5:27. Charlotte hockte mit untergeschlagenen Beinen auf einem Stuhl und massierte gedankenverloren den grünen Keramikbecher. Was hätte sie auch anderes tun können? An Schlaf war nicht mehr zu denken, seit Charlotte Gustav begegnet war. Dabei waren die Geschehnisse rund um Gustav mehr als makaber. Charlotte wusste das, aber es machte ihr nichts aus.

Charlotte konnte nicht mehr sagen, was sie dazu bewogen hatte über den Friedhof zu gehen. Vielleicht entsprach es ihrer momentanen Stimmung ihren Gedanken nachzuhängen und nach der unerfreulichen Episode mit dem Rentner wieder zu sich zu kommen. Vielleicht hatte sie aber auch im Prozess des Erwachsenwerdens eine neue Phase erreicht, die nicht mehr nach lauter Zerstreuung, sondern nach Sammlung verlangte. Einerlei. Der Friedhof mit seinen verwunschenen Ecken und seiner friedlichen Ausstrahlung, die ein Stückchen Ewigkeit einfing, war der richtige Platz zur richtigen Zeit. Eine frühe Sonne malte das Gewirr der Ranken und Blätter als bewegte Schatten auf die kiesbestreuten Wege und der leichte Wind trug den Geruch von Kräutern und frischem Grün heran. Der Autoverkehr und das ungelöste Müllproblem waren weit entfernte Ärgernisse. Ein Trauerzug näherte sich von links mit gemessenen Schritten. Schwarz gekleidete Personen, die Stille nur unterbrochen von knirschendem Kies und einer nahen Vogelstimme, die etwas intonierte, das wie ,Schalke‘ klang. Unwillkürlich musste Charlotte lachen, während sie zur Seite trat, um die Trauernden vorbeizulassen. Gott musste ein Witzbold sein, wenn er das Lied eines Vogels wie ,Schalke‘ klingen ließ und diesen Vogel dann in Dortmund beheimatete. Andererseits war es ein beruhigender Gedanke, dass ein allmächtiges Wesen mit Humor über die Menschen wachte. Dortmund konnte allmächtigen Beistand mit einer Portion Humor gut gebrauchen.

Noch während Charlotte ihren Lachanfall unterdrückte und in einen unkontrollierten Schluckauf verfiel, sah sie Gustav. Gustav in seinem schwarzen Anzug, dem weißen Hemd und der schwarzen Krawatte. Gustav in Lebensgröße. Große Füße in blank geputzten schwarzen Lederhalbschuhen. Eine hoch aufgeschossene Gestalt mit langen Extremitäten. Der Kopf länglich mit dichtem Haar, der Gesichtsausdruck verschlossen und dem Anlass gemäß. Gustav überragte Charlotte um eine Haupteslänge, als er schleppenden Schrittes vorüberging, die Trauer fest verpackt in seinen gravitätischen Gang. Er würdigte Charlotte keines Blickes. Er war ein Trauerprofi, der sich durch nichts ablenken ließ und niemals in ungebührliche Hast verfiel.

Charlotte vergaß die Umgebung, den Schluckauf und den Rentner. Der Vogel mit dem eigentümlichen Ruf wurde aus ihrem Gedächtnis gelöscht. Wie gebannt folgte sie mit ihren Blicken dem Trauerzug. Sie konnte sich nicht sattsehen an dem großen Mann in Schwarz, der die Sargträger anführte. Ein Bild von Mann, ruhig und voller Würde. Ein Mann, der so ganz anders wirkte als alle anderen Männer, die um sie herumscharwenzelten und sich dabei großartig vorkamen. Das Herz klopfte ihr bis zum Hals und in ihrer Bauchgegend braute sich etwas zusammen. Ihr Kleid und die farbenfrohen Schuhe brachten ihr eisige Blicke von den Angehörigen des Verstorbenen ein, aber Charlotte bemerkte sie nicht.

Ohne nachzudenken, folgte Charlotte den Trauernden. Wäre sie einem Spaziergänger begegnet, hätte dieser den schwärmerischen Ausdruck in ihren Augen bemerkt. Charlottes Gang war unsicher und sie wirkte geistesabwesend. Hätte man Charlotte gefragt, warum sie einem auffallend hochgewachsenen Mann in einem abgetragenen schwarzen Anzug folgte, sie hätte die Frage nicht zur Zufriedenheit beantworten können. ,Es hat mich erwischt, schwer erwischt‘, wäre die wohl korrekte Version gewesen, aber Charlotte konnte ihre Kurzatmigkeit und das Ziehen in der Bauchgegend nicht zuordnen. Es war ihr noch nie passiert, was ihr gerade auf einem Kiesweg des Friedhofs widerfahren war. Eva würde sie lauthals auslachen, wenn sie je davon erfuhr.

Es war der Minibaggerfahrer, der mit Aushubarbeiten beschäftigt war, ein vierschrötiges, untersetztes Exemplar, der einer errötenden Charlotte auf ihre halb gestammelte Frage hin antwortete, bei dem Anführer des Trauerzuges handele es sich um Gustav Schmidt. ,Unseren Gustav‘, sagte er noch. ,Klemens heiße er selbst und das da drüben sei Jens‘ und wies mit dem Daumen auf einen wissend grinsenden Jüngling in Gärtnerkluft. ,Jetzt kenne die Dame die ganze Mannschaft. Vielleicht könne man sich treffen, mit oder ohne Gustav‘. Charlotte hatte genug gehört und drehte sich auf dem Absatz um. Gustav. Sie ging in Richtung Kapelle zurück. Klemens und Jens hatte sie bereits aus ihrem Gedächtnis gelöscht.

Charlotte harrte lange aus. Die Schatten der Bäume wurden länger und griffen nach ihr. Sie fröstelte. Endlich waren alle gegangen. Fast alle. Alle bis auf Gustav, der in die kleine Kapelle zurückgekehrt war, die einige Meter abseits der Wege stand. Charlotte merkte, dass sie nicht mehr geatmet hatte, seit sie den Entschluss gefasst hatte, die Kapelle zu betreten.

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