Читать книгу: «Das Feuerdrama von Cottbus»
Wolfgang Swat
Das Feuerdrama
von Cottbus
Authentische Kriminalfälle
aus der DDR
Bild und Heimat
Von Wolfgang Swat liegen bei Bild und Heimat außerdem vor:
Die Schneeleiche von Lübbenau und zwölf weitere authentische Kriminalfälle aus der DDR (3. Auflage, 2019)
Tödliche Spreewald-Liebe und 13 weitere authentische Kriminalfälle (Blutiger Osten, 2020)
ISBN 978-3-95958-802-7
1. Auflage
© 2020 by BEBUG mbH / Bild und Heimat, Berlin
Umschlaggestaltung: fuxbux, Berlin
Umschlagabbildung: oben: © Deutsche Fotothek / Heine, Kurt;
unten: © Deutsche Fotothek / Vogel, Norbert
Ein Verlagsverzeichnis schicken wir Ihnen gern:
BEBUG mbH / Verlag Bild und Heimat
Alexanderstr. 1
10178 Berlin
Tel. 030 / 206 109 – 0
www.bild-und-heimat.de
Zum Buch
Alle in diesem Buch geschilderten Kriminalfälle haben sich tatsächlich zugetragen. Die Namen von Tatbeteiligten und Tatopfern sowie von anderen an den Fällen beteiligten Personen wurden aus datenschutzrechtlichen Gründen verändert. Übereinstimmungen oder Ähnlichkeiten zu anderen lebenden oder verstorbenen Personen wären rein zufällig. Ausnahmen sind kenntlich gemacht. Die im Buch enthaltenden Dialoge sind inhaltlich korrekt wiedergegeben, wurden jedoch, wenn geboten, sprachlich überarbeitet.
Vielfach wird nach dem Schicksal von Hinterbliebenen der Verbrechensopfer gefragt. Diese zu ermitteln und zu befragen, war dem Autor im überwiegenden Teil der Fälle nicht möglich. In Einzelfällen wurden Kontakte abgelehnt.
Nicht alle der in diesem Buch dargelegten Kriminalfälle haben sich in der DDR ereignet. Sie hatten aber fast alle von den Biografien der Täter her ihren Ursprung in der DDR. Es ist ein Anliegen dieses Buches, anhand authentischer Kriminalfälle publizistisch darzustellen, wie Polizei und Justiz nach der Wende in der ehemaligen DDR die schwierige Phase des Zusammenwachsens und der Neuordnung des Behördenaufbaus gemeistert haben.
Ich bedanke mich herzlich bei der Generalstaatsanwaltschaft des Landes Brandenburg und der Staatsanwaltschaft Cottbus für die unbürokratische Unterstützung.
Wolfgang Swat
Rasender Hass
Der Beschäftigungslose Lothar Kahl wird angeklagt, durch Totschlag vorsätzlich das Leben eines Menschen vernichtet zu haben.
Der Anklage der Staatsanwaltschaft Cottbus widerspricht der Angeklagte Kahl bei der Verhandlung im Juni 1991 vor dem Bezirksgericht Cottbus nicht. Mit einer Einschränkung: Was sich in der Nacht vom 29. zum 30. Juni 1990 in der Wohnung seiner Mutter abgespielt habe, daran habe er »keine Erinnerung«, sagt er.
Das Leben des inzwischen zweiundvierzig Jahre alten Lothar Kahl war, bei allen Höhen und Tiefen, die es bereithielt, bis dahin wenig auffällig. Als Gewalttäter ist er nie in Erscheinung getreten. In seinem Strafregisterauszug gibt es keine einzige Eintragung.
Geboren und aufgewachsen im sorbischen Dorf Tranitz bei Cottbus, das 1983 vom Braunkohletagebau geschluckt wurde, verlebt er unbeschwerte Kinder- und Jugendjahre. Er meistert alle zehn Klassenstufen der allgemeinbildenden Schule, erlernt den Beruf des Bäckers und arbeitet anschließend im Backwarenkombinat Cottbus. Noch mehr als das Backen von Brot, Brötchen und Kuchen interessiert ihn jedoch die Musik. Vor allem Schlagzeug und Bass sind seit dem fünfzehnten Lebensjahr seine große Leidenschaft. Bereits 1970 heiratet der einundzwanzigjährige junge Mann und wird Vater von zwei Kindern. Die Ehe hält aber nur fünf Jahre. Nach der Scheidung kehrt der verlorene Sohn nach Tranitz ins Elternhaus zurück und versorgt dort Haus, Garten und Kleintierhaltung. Vom Bergbau vertrieben, siedelt die Familie in ein Haus am Stadtrand von Cottbus um. Seine große Leidenschaft, die Musik, macht er 1985 zu seinem Beruf.
Lothar Kahl sehnt sich nach neuer Liebe und Geborgenheit. Eine feste Partnerschaft gelingt ihm nicht. Zweimal noch lebt er mit Partnerinnen im elterlichen Wohnhaus zusammen, zweimal flüchten die Frauen jeweils nach nur zwei Jahren des Zusammenseins. »Die sind von meiner Mutter aus dem Haus geekelt worden«, wird er später vor Gericht aussagen.
Statt weiblicher Harmonie und familiärem Zusammenhalt wird Alkohol im Hause Kahl heimisch. Unter Alkoholeinfluss kommt es immer öfter zum Streit und auch zu Handgreiflichkeiten zwischen Mutter und Sohn, bei denen die alte Dame auch für Außenstehende sichtbare Verletzungen im Gesicht und am Körper erleidet. Letztlich flüchtet die Lebensgefährtin von Lothar Kahl, Sandra Schuster, im Mai 1990 vor dem Jähzorn und der Aggressivität ihres Freundes und den anhaltenden Streitigkeiten innerhalb der Familie aus dem Haus.
Am letzten Wochenende im Juni 1990 nimmt das Unheil seinen Lauf. Kahl sucht seine Ex-Freundin Sandra Schuster an ihrem Arbeitsplatz auf. Beide verabreden sich für den Freitagabend im Haus der Familie Kahl. Lothar hofft auf ein klärendes Gespräch, Sandra will letzte, dort verbliebene persönliche Sachen abholen.
Das geplante Versöhnungstreffen hält Lothar Kahl nicht davon ab, am Nachmittag des 29. Juni in der Gaststätte Spreewehrmühle in Cottbus, einem Ausflugslokal nahe der Spree, kurz vorbeizuschauen. Der »kurze« Besuch dehnt sich über viele Stunden bis zum Gaststättenschluss um Mitternacht aus. In dieser Zeit will Kahl fünfzehn große Glas Bier, fünfzehn doppelte Schnäpse und drei bis vier Flaschen Wein getrunken haben. Der derart betankte Mann radelt von der Gaststätte mit dem Fahrrad sturzfrei zum etwa eineinhalb Kilometer entfernten Grundstück seiner Eltern. Als er die Gartentür verschlossen vorfindet, schließt er daraus, dass seine Mutter die Freundin erst gar nicht ins Haus gelassen oder sie wieder rausgeschmissen hat. Voller Wut und Hass beschließt er, die Mutter zur Rede zu stellen. Er reißt die Tür zum Schlafzimmer auf, in dem die Eltern bereits im Bett liegen. Er stellt die Mutter zur Rede und bemerkt dabei, dass diese einigen Alkohol getrunken haben muss. Lothar Kahl holt aus dem Bad eine Schüssel mit kaltem Wasser und schüttet es mit den Worten »Damit du wieder nüchtern wirst« über die Mutter. »Du hast Sandra schon wieder aus dem Haus geekelt«, brüllt er los. »Immer wieder vertreibst du meine Freundin.«
Mutter Kahl lässt sich davon nicht beeindrucken, springt aus dem Bett und beharrt auf ihrem Standpunkt: »Die Schlampe hat in meinem Haus nichts zu suchen«, giftet sie. »Sei froh, dass sie weg ist.«
Es gibt für Sohn Lothar kein Halten mehr. Wahllos schlägt er mit den Fäusten auf die Mutter ein, ohne dass der Vater in den Streit eingreift. Wohin er boxt, sieht der Sohn in dem dunklen Zimmer nicht. Es ist ihm auch egal. Er bemerkt jedoch, dass die Fäuste Gesicht und Kopf treffen. Dass er die Mutter mit den Füßen tritt und den Kopf gegen Wand und Boden schlägt, dazu fehlt ihm später jegliche Erinnerung. Ohne sich um die Verletzte zu kümmern, die zusammengekrümmt und blutend auf dem Fußboden neben dem Bett liegt, geht der Sohn aus dem Haus. Der Täter schnappt sich sein Fahrrad und fährt zur Wohnung von Ex-Freundin Sandra. Die ist allerdings nicht zu Hause, oder sie öffnet dem Betrunkenen nicht die Tür. Kahl fährt schimpfend davon und nächtigt, berauscht vom Alkohol, bis in den späten Vormittag hinein irgendwo im Freien. Als er munter wird, ist sein nächstes Ziel erneut die Spreewehrmühle.
Am 30. Juni 1990 gegen 22 Uhr wird Lothar Kahl in der Gaststätte verhaftet. Eineinhalb Stunden später stellen Ärzte bei ihm eine Blutalkoholkonzentration von 1,7 Promille fest.
Zu diesem Zeitpunkt ist die Mutter von Lothar Kahl seit einem Tag tot. Sie ist noch in ihrem Schlafzimmer, dem Ort der Gewaltorgie, verstorben. Das Opfer hatte 1,2 Promille Alkohol im Venenblut.
Das Obduktionsprotokoll der gerichtsmedizinischen Sektion listet eine Vielzahl von Verletzungen am gesamten Körper des Opfers auf: Kopfschwartenablederung, Nasenknorpelzertrümmerung, Wirbelsäulenbruch, Brustbein- und Rippenbrüche mit Lungenverletzung, Leber- und Milzrisse sowie ein Riss der Beckenblutader. Nach Ansicht der Gerichtsmediziner muss der Täter nicht nur mit den Fäusten auf seine Mutter eingeschlagen haben, sondern sie auch mit den Händen gewürgt und auf ihrer Brust gekniet oder mit dem Fuß gegen den Oberkörper getreten haben.
Das Gericht verurteilt Lothar Kahl wegen vorsätzlichen Vollrausches zu einer Freiheitsstrafe von vier Jahren und sechs Monaten. Die Richter beziehen in ihrem Urteil die erhebliche Menge von Alkohol ein, die Kahl von Nachmittag an konsumiert hatte. Die vom Angeklagten genannte Trinkmenge mag überhöht erscheinen, so das Gericht. Dennoch sei von einer Blutalkoholkonzentration von drei Promille auszugehen. »Damit war zur Tatzeit die Fähigkeit des Angeklagten, das Unrecht seines Tuns einzusehen und nach dieser Einsicht zu handeln, ausgeschlossen.« Zumindest habe der Angeklagte die strafrechtlich relevante Grenze zur erheblich verminderten Schuldfähigkeit hinüber zum Vollrausch sicher überschritten. Dass der Angeklagte zu irgendeinem Zeitpunkt die Absicht oder auch nur den bedingten Vorsatz gehabt hatte, das Opfer zu töten, habe die Hauptverhandlung nicht ergeben.
Angewandt wird vom Gericht nicht das Strafrecht der DDR, sondern das für Vollrausch geltende mildere Recht der BRD, so wie es im Einigungsvertrag verankert ist. In dem heißt es, dass bei Straftaten, die vor der Wiedervereinigung der beiden deutschen Staaten begangen wurden und erst danach abgeurteilt werden, das jeweils mildere Strafrecht angewandt werden müsse.
Der rosa Riese
Wolfgang Schmidt, geboren in Lehnin und aufgewachsen in einem kleinen Dorf nahe bei Beelitz im Land Brandenburg, ist ein verurteilter Totschläger und Mörder. Man darf seinen Namen gewiss nennen, denn er ist durch seine Taten eine relative Person der Zeitgeschichte geworden. Ohnehin dürfte der Allerweltsname Schmidt bei der Mehrzahl der Menschen in Deutschland kaum im Gedächtnis verhakt sein. Eher wohl sind ihnen zwei Pseudonyme geläufig: der »Rosa Riese« und die »Bestie von Beelitz«. Die Medien, allen voran die Boulevardpresse, haben sie geprägt. Wolfgang Schmidt hat im Zeitraum von knapp zwei Jahren sechs Menschen getötet und drei weitere schwer verletzt. Es war Glück, dass diese bei den Angriffen des Serienmörders mit dem Leben davonkamen.
Den Beinamen »Rosa Riese« kann man durchaus als zutreffend bezeichnen, zum einen ob seiner Körpergröße von über 1,90 Metern und zum anderen wegen der Fetische, die er an den Tatorten hinterlassen hat: Damenwäsche, Höschen, Unterröcke, Büstenhalter, vorzugsweise in der Farbe Rosa und um seine Opfer drapiert. Doch sollte man von »Bestie«, einem Barbar, Scheusal, Unmensch, Bluthund reden? Und davon, dass nur die Todesstrafe, ein »Aufhängen« oder »Kopf kürzer«, als gerechte Strafe in Frage käme und dass die Verlobte das Baby unter ihrem Herzen, gezeugt von der »Bestie«, abtreiben müsse? Das jedenfalls fordern aufgebrachte Teile der Bevölkerung. Ein renommierter Psychiater der Freien Universität Berlin kam nach eingehender Untersuchung von Wolfgang Schmidt zu dem Schluss, dass der Mörder trotz auffälliger Persönlichkeitsstörungen strafrechtlich für seine Taten verantwortlich ist. Allerdings sei aus psychiatrisch-psychologischer Sicht eine erhebliche Verminderung der Schuldfähigkeit anzunehmen.
Was aber hat Wolfgang Schmidt zur »Bestie«, zum »Rosa Riesen« gemacht? Wären seine Verbrechen in diesem kaum zu ertragenden Ausmaß zu verhindern gewesen?
Vielleicht. Vielleicht nicht. Die Antwort ist spekulativ. Bezüglich des Ausmaßes der Verbrechen wären sie es jedoch mit hoher Wahrscheinlichkeit gewesen.
Die mörderischen Taten begannen im Oktober 1989, und sie endeten am 1. August 1991. Gesellschaftliche Strukturen in der DDR zerbröselten, auch die bei Polizei und Justiz. Spuren, die spätestens nach dem zweiten Mord auf ein gleiches Tatmuster hinwiesen, wurden nicht erkannt. So war es letztlich »Kommissar Zufall«, der zur Ergreifung des »Rosa Riesen« führte. Doch schon viel früher deutete manches auf Abnormes in der Entwicklung des Wolfgang Schmidt hin.
Am 5. Oktober 1966 meldet Säugling Wolfgang in Lehnin mit einem Schrei sein Erdendasein an. Später wird die Familie in dem kleinen Dorf Rädel in der Nähe von Beelitz im DDR-Bezirk Potsdam sesshaft. Es ist beschaulich in dieser Gegend, in der es viele Wiesen, Wälder und Seen gibt und kleine Orte, wie eben Rädel einer ist. Drei Jahre nach ihm wird sein Bruder Jürgen geboren. Danach kommt ein weiteres Kind zur Welt. Wie alt seine Mutter bei seiner Geburt war, weiß er nicht. »Solche Daten behalte ich selten im Kopf«, sagt er nach seiner Verhaftung dem Psychiater.
Der Familie geht es gut in ihrem Zuhause. Dass Mutter und Vater Arbeit haben, ist in der DDR nahezu selbstverständlich. Die Mutter ist Reinemachfrau in einem Kinderheim, der Vater Traktorist in der Landwirtschaft. Nach Feierabend ist zu Hause viel zu erledigen, zumal noch ein Garten zu bewirtschaften ist und Tiere zu versorgen sind. Mit Obst, Gemüse und den Kaninchen kann man gut verdienen, wenn man alles an den Handel veräußert. Erst recht, wenn man als Kleintierhalter Kaninchen »hinten« teuer verkauft und »vorn« an der Ladentheke für das geschlachtete Tierchen nur die Hälfte bezahlen muss. Das Geld für das abgelieferte Kaninchenfell gar nicht mitgerechnet.
Wolfgang muss als Ältester der drei Geschwister mitarbeiten, um die Nebenwirtschaft am Laufen zu erhalten. Die Mutter führt das Regime, und das ist streng. Bruder Jürgen hat es besser. Er ist kränklich und wird von Mutti eher mit »Samthandschuhen« angefasst als mit Schlägen, die Wolfgang kassiert, wenn er nicht spurt wie gewünscht. Während die Dorfkinder am See, auf Wiesen und Wäldern herumtollen, baden oder Höhlen bauen, baut Wolfgang Gemüse an, jätet Unkraut, gräbt Beete um. Mehr und mehr fühlt er sich isoliert von Gleichaltrigen. Er ist es auch. Darf er in der Sommerhitze doch einmal baden gehen, dann höchstens eine halbe Stunde. Mit Klassenkameradinnen und -kameraden gibt es kaum Kontakt. Wie auch. Will er mit Gleichaltrigen mitreden, rümpfen diese nur die Nasen. »Ach Schmidt, du hast doch sowieso keine Ahnung, du darfst ja kein Fernsehen gucken.« Nach dem »Sandmann« geht es für Wolfgang ins Bett, auch dann noch, als er dem Sandmännchen-Alter längst entwachsen ist. Es hagelt bei kleinsten Vergehen Stubenarreste; manchmal zwei Tage oder drei, zuweilen eine Woche oder gar zwei Wochen. »Das hat weh getan«, gibt er beim Psychiater zu. »Der Vater wollte keinen Streit, wollte Ruhe haben, wollte die Mutter nicht verlieren«, beschreibt er das häusliche Milieu. Und Unterstützung gab es schon gar nicht, auch nicht bei Angriffen von Klassenkameraden. »Wenn se dir verprügeln wollen, dann lass dir eben verhauen, aber komm nach Hause und erzähl das. Nicht dass de zurückschlägst«, so die Ansage des Vaters.
Der Junge fühlt sich einsam. Dann entdeckt er etwas, was ihn zunächst nur neugierig macht, dann mehr und mehr anzieht, ihn befriedigt: den Kleiderschrank seiner Mutter. Er sieht und fühlt deren Unterwäsche, die Schlüpfer, Unterröcke, Büstenhalter. Der Kleiderschrank lockt ihn an, vor allem aber diese Wäsche, die er angezogen bei seiner Mutter kaum gesehen hat. Sieben Jahre alt ist er da, oder auch acht, so genau weiß er es nicht mehr. Irgendwann lässt er alle Kleidung von sich abfallen, steht nackt da und zieht das Verbotene von der Mutter an, das Höschen, den Unterrock, den BH, der natürlich an seinem dürren Oberkörper schlaff herumhängt. Sexuelles spielt in dem Alter noch keine Rolle. Es passiert anderes. Er »strullt ein«, wie er es ausdrückt, und auch sein Darm entleert sich. Ein »wahnsinniges Gefühl« hat er dabei, sagt er dem Gutachter. »Ich habe mich richtig wohlgefühlt.« Später, bei der Erörterung der Taten mit dem Psychiater, wird dieses »wahnsinnige Gefühl« immer wieder eine Rolle spielen.
Er kann sich der magischen Anziehungskraft des Wäscheschranks im Schlafzimmer seiner Eltern nicht erwehren. Oft kann er sich das Begehrte nur anschauen, schließlich weiß die Mutter, was sie an Unterwäsche besitzt. Doch richtig befriedigt ist er erst, wenn er darin »einstrullen« und einkoten kann. Dann muss er die Intimwäsche verstecken. Er tut es in der Scheune.
Es kommt, was nicht ausbleiben kann. Die Scheune wird zu seiner Intimfalle, als er wieder einmal in Mutters Wäsche flaniert. Sie erwischt ihren Jungen, der zehn Jahre und noch immer Bettnässer ist, in ihrem Schlüpfer und dem BH, der an seiner Brust schlackert.
Das Donnerwetter der Mutter ist wortgewaltig. Natürlich setzt es auch Schläge. Dieser Schmerz vergeht. Ein anderer, viel schlimmerer Schmerz, der der Erniedrigung, nicht. Der Knabe wird hochnotpeinlich verhört. Beschämend ist, dass andere, fremde Leute, davon erfahren. Nicht auszuhalten für Wolfgang ist, dass er keinen Zugang mehr hat zu den Fetischen, die ihn so sehr befriedigen.
Die Mutter geht mit ihrem Sohn zum Arzt, weil der immer noch ins Bett pullert und auch in die Hose. Sie hat Angst, dass er krank ist. Der Mediziner aber wiegelt ab. Das sei noch normal in dem Kindesalter, dieses Einnässen. Ob er etwas von dem abartigen, fetischhaften Drang des Jungen nach Frauenwäsche erfahren hat? Wohl kaum. Die Mutter mag davon ausgegangen sein, dass ihr Junge ablässt von dieser Lust, wenn sie ihren Wäscheschrank und damit den Zugang zur Intimwäsche verschließt.
Das Gegenteil ist der Fall. »Im Laufe der Zeit hat sich das alles noch gesteigert«, wird Schmidt später gestehen, vor allem mit der einsetzenden Pubertät. Davon bekommt aber niemand etwas mit, auch nicht die Mutter. Er wechselt auf die Schule in Lehnin, die er mit siebzehn Jahren erfolgreich abschließt, wie später auch seine Maschinisten-Lehre im Stahl- und Walzwerk Brandenburg.
Er ist zurückhaltend, hat noch keine Freundin, besucht zum ersten Mal mit achtzehn Jahren eine Disko. Dann lernt er doch ein Mädchen kennen. An einem der vielen Seen in der Umgebung trifft er Moni. Sie ist dreizehn und damit fünf Jahre jünger als Wolfgang. Es ist eher eine platonische Liebe, die sich nur langsam entwickelt: Händchen halten, schmusen, Küsschen, mehr zunächst nicht. Er hat natürlich sexuelle Gelüste, und er hat dennoch seine sexuelle Befriedigung. Die Fetische von Frauen.
Im Wäscheschrank der Mutter sind die Objekte der Begehrlichkeit eingeschlossen. Doch es gibt sie. Sie sind woanders zu finden. Auf Müllkippen.
Die gibt es zuhauf in der DDR, vor allem in den Dörfern, aber auch an den Rändern kleinerer und größerer Städte. Keine Mülldeponien, wie man sie heute kennt, sondern aufgeschüttete Berge, meistens illegal, aber beliebt: als Orte billiger Entsorgung von Trödel, den die einen nicht mehr brauchen und loswerden wollen und den andere durchforsten auf der Suche nach Nutzbarem für den eigenen Bedarf oder den Verkauf.
Hier, auf diesen »Müllkuten«, wie es Schmidt ausdrückt, sucht er, was ihm daheim verwehrt wird. Auf solch einer Kutte entdeckt er eines Tages einen prall gefüllten Sack. Als er ihn öffnet, quillt Damenwäsche heraus. Fortan wecken Müllhalden Begehrlichkeiten und erfüllen sie. Denn er findet, was er sucht. Vor allem solcherart Damenwäsche, die Frauen direkt auf der Haut tragen, interessiert ihn. Diese zieht er an. Die Büstenhalter füllt er wegen fehlender Oberweite mit allerlei Material zu Busen auf, zieht sich Höschen und Unterröcke an, nachdem er sich seiner Männerbekleidung entledigt hat, flaniert mit Röcken darüber herum, »strullt« in die Höschen und bekotet diese. In dieser Verkleidung erlebt der Heranwachsende den Samenerguss eines Jünglings, der vom Knaben zum Manne heranreift. Immer weiter zieht er seine Kreise, legt vielerorts Depots an mit Frauenwäsche und Damenkleidung: mehr und immer mehr.
Der »Rosa Riese« ist geboren.
Noch einmal gibt es eine Chance, dem Unheil Einhalt gebieten zu können. Über berufliche Umwege zur Bereitschaftspolizei gelangt, weil ihm »Recht und Ordnung schon immer am Herzen gelegen« hätten, sieht er dort seine Zukunft. Doch es kommt zu einem Vorfall, den die Staatsmacht nicht tolerieren kann. Die Schmidt-Kameraden in Uniform planen zum hundertsten Geburtstag von Adolf Hitler am 20. April 1989 eine heimliche Feier, man kann auch sagen: ein Besäufnis. Doch was bleibt schon unentdeckt? Die Vorgesetzten erfahren von der Hitlerverehrung und handeln. Spinte werden nach Verdächtigem durchsucht, auch der von Schmidt. In einem Fach des schmalen Schrankes wird Damenwäsche gefunden. »Ich sammle die, seit ich klein bin. Ich bin aber nicht schwul«, erklärt er seinen Vorgesetzten. Die empfehlen ihm, einen Arzt aufzusuchen. Mehr nicht. Dann wird der Obermeister Schmidt in Unehren entlassen.
Der geschasste Polizist findet Arbeit im Walzwerk Brandenburg, seinem Lehrbetrieb, und zieht zu seiner Moni, die noch bei ihren Eltern in einem Nachbarort von Rädel wohnt. Fünf Jahre kennen sich die jungen Leute nun schon seit ihrer ersten romantischen Begegnung am Ufer eines Sees. Mehr als Händchen halten, Küsschen und Fummeln mit der Hand an Geschlechtsteilen ist bisher nicht passiert. Sie ist jetzt achtzehn, er dreiundzwanzig Jahre alt. Sie verloben sich und haben zum ersten Mal richtigen Sex. Sie probieren vieles aus, und es befriedigt beide. »Aus der Freundschaft ist eine wahnsinnige Liebe entstanden«, sagt er später dem psychiatrischen Gutachter. Moni überredet den Verlobten sogar, einmal einen ihrer String-Tangas anzuziehen. Erinnerungen an den kleinen Wolfgang in der Wäsche der Mutter ruft das bei ihm hervor. Nein, das will er nicht tun vor seinem Mädchen.
Er will anderes. Der »Rosa Riese« ist groß geworden. In ihm wird der Wunsch – bei aller »wahnsinnigen Liebe« zu Moni – unbeherrschbar, es auch mal mit einer anderen Frau zu machen. »Der Drang danach, jetzt det mit jemand anders noch durchzuführen, war zu groß«, sagt er später dem Psychiater. Der »Rosa Riese« ist nicht mehr aufzuhalten.
Tagelang durchstreift er Wälder rund um Beelitz. Geht seine Verlobte Moni aus dem Haus, macht sich der Mann auf zu Deponien, auf denen er nach weiblicher Reizwäsche sucht. Es gibt genug davon. Die Verstecke mit BHs, Unterhöschen, Unterkleidern, Röckchen wachsen an in Zahl und Umfang. Den Zwang, mehr und immer mehr zu sammeln, das Intime zu besitzen, es zu fühlen mit den Händen und es auf seiner nackten Männerhaut zu spüren, kann er nicht unterdrücken. Er zieht sie sich an, spaziert als Frau verkleidet um die Bäume, lässt seinen Exkrementen freien Lauf in die Schlüpfer, säubert sich, so gut es geht, im Wald mit dem, was die Natur dafür liefert, und ist oft spätabends daheim. Er fährt nahezu täglich mit dem Fahrrad oder dem Moped seiner Verlobten herum, nur aber nicht zur Arbeit. Mehrfach hat er inzwischen seine Arbeitsstelle verloren, doch was der Bummelant tagsüber draußen treibt, davon ahnen weder seine Verlobte noch die Eltern und angehenden Schwiegereltern noch die Chefs in den Betrieben, in denen er meist kurzfristige Anstellungen hat, etwas. Die Spirale des Abnormen dreht sich immer schneller Richtung Gewalt. Die Mordserie nimmt ihren schrecklichen Anfang.
Dienstag, 24. Oktober 1989.
Tat eins: Mord an Gisela Dörfler
Wolfgang Schmidt hat seit kurzem wieder Arbeit im Elektrostahlwerk Brandenburg. Er hat an diesem Tag Spätschicht. Die beginnt um 14 Uhr. In den Vormittagsstunden ist er wieder einmal mit dem Moped unterwegs. Er kennt sich in der Mülldeponie-Landschaft der Umgebung bestens aus. Wieder ist er dort fündig geworden, hat begehrte Kleidungsstücke eingesammelt. Gegen 11.30 Uhr ist er am Fuße des Götzer Berges eingetroffen, der sich in der Osthavelniederung gut hundert Meter über das flache Landschaftsschutzgebiet erhebt. Es drängt ihn, die aufgelesenen neuen Trophäen zu tragen. Bei seinem Herumstromern gelangt er an eine Bungalowsiedlung in Deetz, einer Gemeinde, die heute Ortsteil von Groß Kreutz und herrlich an der Havel gelegen ist. Schmidt erhofft sich, in den Bungalows weitere Damenwäsche zu finden. Er ist inzwischen süchtig danach.
Bereits im ersten Gartenhäuschen, in das er eingebrochen ist, hat er Glück und findet mehrere Schlüpfer. Mit einem Hammer bewaffnet, den er im Geräteraum der Laube gefunden hat, setzt er seine Suche ein Stück weiter entfernt im Bungalow der Familie Dörfler fort. Die Tür des Häuschens steht einladend offen. Der Dieb findet einen Bikini, Frauenunterwäsche und eine braune Ledereinkaufstasche, in der Zigaretten und 10 DDR-Mark stecken. Gisela Dörfler, die draußen mit dem Kopf nach unten und dem Hintern nach oben mit einer Hacke Beete bearbeitet, sieht er nicht. Dafür bemerkt die einundfünfzig Jahre alte Frau den Eindringling an der Rückfront des Grundstücks. Als Gisela Dörfler aus Angst, Empörung, Wut über den Einbruch am helllichten Tag ihr Entsetzen herausschreit, würgt sie der riesenhaft erscheinende Dieb, der blitzschnell bei ihr ist, mit beiden Händen. Das Opfer bekommt keine Luft mehr und sackt zu Boden. Schmidt registriert in einiger Entfernung einen hellen »Trabant Kombi«, den er zuvor dort nicht gesehen hat. Er schleift die leblos wirkende Frau in den Bungalow. Als diese drinnen im Sommerhäuschen wieder zur Besinnung kommt, schlägt er ihr mit dem mitgebrachten Hammer mehrfach auf den Kopf. Das Opfer überlebt diese Tortur nicht. Von seinem Vorhaben, Sex mit der Frau zu haben, rückt der Täter nicht ab. Er entkleidet den Unterleib der Toten, und als eine Erektion bei ihm ausbleibt, manipuliert er mit einer Kerze an ihr herum.
Schmidt will die Leiche in der Havel verschwinden lassen. Aus dem Schlafzimmer holt er eine gelbe Steppdecke, breitet diese auf dem Wohnzimmertisch aus, wickelt den Leichnam darin ein und verschnürt ihn wie ein Paket mit einem Draht und dem Gürtel eines Bademantels. Die »Entsorgung« der Toten misslingt. Der Fahrer des »Trabant«, der in einer Entfernung von fünfundzwanzig Metern geahnt haben mag, dass in der Nachbarschaft etwas nicht stimme, nähert sich dem Dörfler-Grundstück. Wolfgang Schmidt hastet davon und fährt mit dem Moped in Richtung Götzer Berg. Dort säubert er sich, legt die Damensachen ab, zieht seine eigene Kleidung an und fährt zum Elektrostahlwerk Brandenburg. Er tritt mit einer Stunde Verspätung seine Spätschicht an.
Donnerstag, 24. Mai 1990.
Tat zwei: Totschlag an Monika Neufeld
Es ist »Männertag«, Wolfgang Schmidt hat sich, kostümiert mit einem Schlafanzug, mit Freunden zu einer Fahrradtour verabredet. Ob die Kumpel zu zeitig am Treffpunkt sind oder er zu spät eintrifft, lässt sich späterhin nicht mehr feststellen. Auf jeden Fall steht Schmidt einsam und verlassen da. Er beschließt, sich allein einen schönen Tag zu machen – auf einer Mülldeponie, wo sonst, und der Suche nach zarter Unterwäsche.
Er radelt nach Ferch. Er will den öffentlichen Weg benutzen, doch der Bauwagen, der an der Seite des Weges am Rande der Müllkutte steht, ist besetzt. Dort wohnt Monika Neufeld. Er macht kehrt und fährt auf einem Schleichweg zurück an den Ort der Begehrlichkeit. Wieder wird er bei der Suche gestört. Aus Richtung des Bauwagens vernimmt er Schreie, Schläge und Geräusche von splitterndem Holz. Neugier treibt ihn in Richtung Bauwagen, der in der Tat lädiert aussieht. Als er die Tür der primitiven Behausung öffnet, sieht er darin die ihm unbekannte Monika Neufeld sitzen. Sie scheint, vorsichtig ausgedrückt, nicht mehr ganz nüchtern zu sein. Für die Beschädigungen an ihrem Holzgefährt macht sie den in dieser Beziehung Unschuldigen als Schuldigen aus und droht mit der Polizei. Die Frau lässt sich durch nichts beruhigen, zetert wieder und immer wieder in zunehmender Lautstärke. Verbal ist sie von Schmidt trotz dessen Bemühungen nicht zu beruhigen. »Um ihre Stimme zu mildern«, wie er später sagt, schlingt er seinen rechten Arm um den Hals der Tobenden, fest, aber nicht zu fest. Monika Neufeld kann sich losreißen und flüchtet Richtung Deponie-Ausgang. Schmidt holt sie ein, schlingt ein Elektrokabel, das er sich aus dem Müll gegriffen hat, um den Hals der Frau und zieht zu. Leblos sackt die Überfallene auf den Boden. Er schleift die inzwischen Tote an den Händen über die Deponie bis zu einer Böschung, wo er sie auf einer ausrangierten Campingliege ablegt. Dann geht er auf die Suche nach Frauenwäsche. Nur eine halbe Stunde braucht er, dann hat er genug eingesammelt. Schmidt kehrt zu Monika Neufeld zurück, steigt aus seiner Männertagkostümierung, dem Schlafanzug, in die eingesammelte Unterwäsche, entblößt die Brust der toten Frau und führt mit ihr den Geschlechtsverkehr bis zum Samenerguss durch. Schließlich drapiert er die Damenwäsche um die Leiche.
Montag, 9. Juli 1990.
Tat drei: Versuchter Mord an Erna Stricker
Wieder ist es ein Tag, an dem es Wolfgang Schmidt hin-
auszieht zu seinen Lieblingsorten. Zeit hat er, denn ihm ist wieder einmal gekündigt worden. Gegen
11 Uhr erreicht er die Deponie in Wust. Er sucht die von ihm so verehrte weibliche Kleidung und nach Katalogen, in denen schöne Frauen in herrlichen Dessous abgebildet sind. Zur gleichen Zeit klappert die achtundfünfzigjährige Erna Stricker den Müllberg auf der Suche nach Brauchbarem ab. Schmidt, der durch die ergatterte Intimbekleidung sofort sexuell stimuliert ist, will seine Begierde mit der Frau »teilen«, wie er es empfindet. Er träumt von Geschlechts- und Analverkehr, wobei auch gegenseitiges Urinieren und Bekoten in seiner Gedankenwelt rumoren. Der von dieser Vorstellung Besessene nähert sich von hinten der Frau, umschlingt mit dem rechten Arm deren Hals und drückt zu. Sein Opfer kämpft mit Entschlossenheit ums Leben, schreit und wehrt sich mit allen Kräften. Der Kampf ist ungleich. Schmidt klappt sein Taschenmesser auf, sticht der Frau in den Hals und in die Brust und reißt sie nieder. Vom Boden ergreift er einen etwa eineinhalb Meter langen Holzpfahl und schlägt der wehrlosen Frau mehrfach auf den Kopf und zerrt sie in ein angrenzendes Waldstück. Er geht davon aus, dass Erna Stricker tot ist. Ein näher kommendes Motorengeräusch fährt ihm in die Glieder. Aus Angst vor Entdeckung stapelt er Bretter über das Opfer. Um die Frau kümmert er sich nicht, wohl aber um die Wäschestücke, die er zuvor erobert hatte. Er kann nicht anders, sondern muss sich die Kleidung anziehen, was ihn sexuell derart erregt, dass er auf Umwegen zu Erna Stricker zurückkehrt. Als er Personen sieht, die sich um die Frau kümmern, und dann auch noch die Sirene eines Fahrzeugs ertönt, verlässt Schmidt in panischer Angst vor Entdeckung den Ort des Verbrechens.