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Kapitel 5

Tag 4, vormittags

Dienststelle der Autobahnpolizei

am Emstunnel24

Der Leiter des Fachkommissariates, Renko Dirksen, hatte Jan Broning gebeten, die Fahndung zusammen mit Anton Martens, dem Leiter der Autobahnpolizei, zu koordinieren. Die Suche nach dem vermissten Kollegen sollte vom Dienstgebäude der Autobahnpolizei aus organisiert werden. Kurze Wege waren immer gut. Sie saßen sich in einem Nebenraum der Wache gegenüber, der für die Schichtleiter gedacht war. Man konnte durch große Fenster in den Wachraum sehen. Dieses kleine Büro diente jetzt als Einsatzzentrale.

Anton sah blass und besorgt aus. Immer wieder stand er auf, sah hinüber zur Wache. Er hoffte immer noch, dass jeden Moment eine gute Nachricht eintreffen würde. Sie hatten gemeinsam die Einsatzkräfte eingewiesen. Dazu gehörten ein Polizeihubschrauber und die Hundeführerstaffel. Außerdem hatten sich etliche Kollegen freiwillig für die Suche zum Dienst gemeldet.

Jans Diensthandy klingelte. »Broning!«

»Hier ist Stefan. Wir sind auf dem Parkplatz fertig. Wir haben das Handy von Rolf Berger, und die Zündschlüssel des Streifenwagens haben wir auch in der Grünanlage gefunden. Der Wagen ist jetzt auf dem Weg zur Halle des Abschleppers. Albert und ich wollen ihn uns dort genauer ansehen und die Spurensicherung durchführen. Ist das okay?«

»Mach es so. Danke, Stefan. Sobald ihr was im Auto gefunden habt, meldet euch bitte. Ich bleib erst mal hier bei der Autobahnpolizei.«

Jan legte das Handy auf den Tisch. Anton sah ihn erwartungsvoll an. »Es war Stefan Gastmann, der Streifenwagen wird jetzt abgeschleppt und nach Spuren untersucht.« Jan sah die Enttäuschung in Antons Gesicht. »Ich weiß, viel haben wir noch nicht, aber jetzt können wir die Hundeführer einsetzen.«

Anton hatte Rolf Bergers Spind mit einem Zweitschlüssel geöffnet. Hundeführer Hermann Blohm hatte einige Bekleidungsstücke mitgenommen. Er stand zusammen mit seiner Kollegin Insa Boomgarden auf dem Innenhof, sein belgischer Schäferhund Bronko und ihr Labrador Rambo einsatzbereit in den Fahrzeugen.

Anton öffnete das Fenster. »Kollegen, kommt doch mal rein, kann gleich losgehen.«

Gemeinsam überlegten sie in der Einsatzzentrale, wie man jetzt vorgehen wollte. Zuerst war natürlich der gesamte Parkplatzbereich Rheiderland an der Reihe. Danach systematisch alle anderen Parkplätze in der Umgebung.

Tag 4, mittags

PP Rheiderland, Rtg. Mep./Ndl.25

Anton hielt im Büro die Stellung. Jan Broning war mit rausgefahren. Auf dem Parkplatz Rheiderland schnüffelten Bronko und Rambo an der Tüte mit der Bekleidung des Kollegen Berger.

Die Suche verlief enttäuschend. Am Ende blieben beide Tiere an einer Stelle auf der Pflasterung des Parkplatzes stehen und bellten. Diese Stelle markierten die Kollegen mit Kreide.

Die Hundeführer waren sich einig: Rolf Berger hatte sich nur in einem Bereich von maximal zehn Metern um die markierte Stelle herum aufgehalten. Ein wenig ratlos versuchte Jan, die Situation einzuschätzen. Die Stelle war mindestens 200 Meter von der Einfahrt zum Parkplatz entfernt, wo Bergers Streifenwagen gestanden hatte. Diese Suchaktion verlief immer rätselhafter.

Er bat die Hundeführer, noch einmal die Strecke von der Einfahrt bis zur markierten Stelle abzusuchen, erkannte aber am Verhalten der Hunde, dass sie in diesem Bereich keine Witterung aufnahmen. Wie war das möglich, hatten sich die Hunde geirrt?

»Auf keinen Fall!«, wehrte Hermann Blohm ab.

»Es hat nicht geregnet«, sagte Insa Boomgarden. »Außerdem sind die Spuren frisch.«

Es gab nur eine Erklärung: Eine andere Person hatte den Streifenwagen zur Parkplatzeinfahrt gefahren. Diese Person hatte den Parkplatz mit dem Streifenwagen bewusst gesperrt. Aber weshalb ?

Jan beantwortete sich die Frage selber: Die oder der Täter wollten ungestört sein, Zeit gewinnen.

Rolf Berger hatte sich an der markierten Stelle aufgehalten. In einem anderen Fahrzeug hat er den Parkplatz verlassen. Freiwillig? Oder war er gezwungen worden?

Die Notiz im Streifenwagen fiel Jan wieder ein, der Hinweis auf eine andere Frau. Aber warum sollte Berger den Streifenwagen ausgerechnet an der Einfahrt abstellen, um dann in den Wagen seiner Freundin einzusteigen? Warum sollte er sein Handy und die Zündschlüssel in die Botanik werfen? Das ergab überhaupt keinen Sinn.

Nein. Der Vermisste hatte den Parkplatz in einem fremden Fahrzeug verlassen, und vermutlich hatte er das nicht freiwillig getan.

Hermann Blohm kam auf Jan zu. »Wir fahren jetzt weiter zum PP Rhede. Oder hast du eine andere Idee?«

»Okay, und danke erst mal. Ihr habt uns schon weitergeholfen«, erwiderte Jan nachdenklich. Die Spurensicherer mussten sich später unbedingt noch einmal die markierte Stelle ansehen.

Er hörte den Polizeihubschrauber, bevor er ihn sehen konnte. Im Zivilwagen nahm Jan Kontakt mit dem Piloten auf und bat ihn um einige Übersichtaufnahmen vom Parkplatz mit der Bordkamera. Die beiden Teams der Hundeführer hatten den Platz inzwischen verlassen. Endlich konnte er sich den Tatort noch einmal genau ansehen. Hätte er dies vorher getan, wäre die Arbeit der Hundeführer noch komplizierter geworden. Seine hinterlassenen Geruchsspuren hätten die Hunde irritiert.

Jan Broning ging noch einmal die Strecke von der Einfahrt bis zu den Parkflächen ab. Auf die Geräusche der vorbeifahrenden Autos und des Hubschraubers achtete er nicht mehr. Immer wieder blieb er stehen, sah sich um und ging die Stecke wieder zurück. Er versuchte, sich die Situation in der Nacht vorzustellen, immer wieder fuhr der Streifenwagen in seinen Gedanken auf den Parkplatz. Einmal befand sich der Streifenwagen vor einem anderen Fahrzeug, dann wieder hinter einem Fahrzeug.

Sein Handy klingelte. »Broning!«, meldete er sich.

»Hallo, Jan, hier ist Hundeführer Blohm.« Der Kollege klang aufgeregt und außer Atem. »Wir haben auf dem Parkplatz Rhede eine Leiche gefunden.«

*

Tag 4,

PP Rhede, Rtg. Mep.26

Jan Broning zwang sich, ruhig zum Parkplatz Rhede zu fahren. Er parkte neben den anderen Polizeiwagen. Vor den Einsatzfahrzeugen flatterte das Absperrband im Wind. Wie versprochen, hatten die Hundeführer den halben Rastplatz abgesperrt.

Blohm kam auf ihn zu, als Jan ausstieg. Während er wartete, bis Jan sich den weißen Overall angezogen hatte, schilderte er kurz, wie sie den Toten gefunden hatten. Jan folgte ihm auf dem angelegten Trampelpfad. Es roch nach Wald und abgebrochene Zweige raschelten unter den Füßen der Polizisten. Jan Broning sah zuerst auf das Gesicht des Toten und atmete erleichtert tief durch. Vor ihm lag nicht der gesuchte Kollege Berger.

Der Tote, Jan schätzte ihn auf etwa 40, lag auf dem Rücken. Wie bei der ersten Leiche fehlte auch hier der rechte Zeigfinger, und die Gesichtsfarbe war unnatürlich rot. Jans Blick suchte vergeblich nach einem Ring an den Fingern des Toten. Dafür trug er eine Halskette.

Stefan Gastmann und Albert Brede waren vermutlich noch mit der Spurensicherung am Fahrzeug des ersten Opfers beschäftigt, aber Jan brauchte hier unbedingt Unterstützung. Er wählte Stefans Nummer. »Stefan, ich brauche euch beide hier. Die Arbeit am Auto könnt ihr später erledigen.« Jan erklärte kurz die Anfahrt zum Parkplatz, dann wartete er auf die beiden und dachte über die aktuelle Lage nach.

Die Suche nach dem vermissten Kollegen war bis jetzt negativ verlaufen. Keine Spuren oder Hinweise auf Rolf. Dafür hatten die Hundeführer jetzt diesen zweiten Toten gefunden. Die Übereinstimmungen zu der ersten Leiche auf dem Parkplatz Uplengen waren nicht zu übersehen. Das Ergebnis der Obduktion der ersten Leiche lag noch nicht vor. Aber Jan war sicher, dass die Todesursache eine Kohlenmonoxid-Vergiftung war, und die würde man garantiert auch bei der zweiten Leiche feststellen.

Sie hatten Glück gehabt, ohne die Großfahndung nach dem vermissten Kollegen hätten sie die zweite Leiche nicht so schnell gefunden. Handelte es sich hier wieder um eine besondere Form des Nachtatverhaltens? Wollten der oder die Täter die Identifizierung der Leiche durch die Abtrennung des Zeigefingers erschweren? Nein, das erschien unlogisch. Und dann war da ja noch diese Kette um den Hals des Toten. Und dieses Schmuckstück sah auf den zweiten Blick auch wieder billig aus.

Er hörte den lauten Motor des weißen Bulli der Spurensicherung und ging zurück zum Parkplatz, um die Kollegen einzuweisen. Albert sah genervt aus.

»Albert, ich weiß, du brauchst deine Ruhe und Zeit bei der Arbeit, aber im Moment überschlagen sich die Ereignisse. Ich kann es nicht ändern. Ich helfe euch erst mal bei der Ausrüstung. Dann sehen wir uns den Toten gemeinsam an. Den Bestatter ruf ich an, da braucht ihr euch nicht drum zu kümmern. Anschließend fahre ich noch einmal zum Parkplatz und sehe mir die markierte Stelle ein zweites Mal an.«

Das Klingeln seines Diensthandys unterbrach ihn. »Jan, hier ist Renko. Ich habe gehört, ihr habt einen zweiten Toten auf einem Parkplatz gefunden.«

»Ja, und es sieht so aus, als hätte derselbe Täter zugeschlagen. Der Modus Operandi ist identisch.«

»Jan, sprechen wir über einen Serientäter?«

»Ja, ich glaube, es ist so.«

Am anderen Ende der Leitung entstand eine Pause. Dann fragte Renko: »Jan, was ist mit unserem vermissten Kollegen Berger – immer noch keine Spur?

»Nee, Renko, Fehlanzeige. Du, wo wir gerade beim Thema sind: Ich brauch noch ein zweites Team für die Spurensicherung. Ein markierter Bereich auf dem Pflaster des Parkplatzes Rheiderland muss noch abgesucht werden.«

»Okay, Albert mault sicher schon rum, so wie ich ihn kenne.«

Na, dachte Jan, der Chef kennt seine Schweine auch schon am Gang. »Ich fahr gleich zurück zum Parkplatz und warte auf das zweite Team.« Er suchte nach den richtigen Worten. »Renko, ich vermute einen Tatzusammenhang zwischen unserem vermissten Kollegen und den beiden Toten.«

Renko legte eine kurze Denkpause ein. Dann sagte er: »Ich stimme dir zu, es kann kein Zufall sein. Wir haben zwei Tote auf Autobahnparkplätzen, gleichzeitig verschwindet ein Polizist von der Autobahnpolizei … Ich kümmere mich um das zweite Team, dann geh ich zum Rapport in die Teppich-Etage. Macht ihr da draußen erst mal weiter.«

*

Jan bestellte den Bestatter Erdmann zum Parkplatz Rhede, dann ging er zu seinen Kollegen Albert und Stefan hinüber.

Stefan kniete neben der Leiche. Er hatte gerade die Kleidung des Toten durchsucht. Er stand auf, sah Jan an und zuckte mit den Schultern. »Keine Papiere oder Hinweise auf die Identität. Wie bei der ersten Leiche. Nur diesmal ist unser Opfer … sagen wir mal, etwas salopp formuliert, frischer. Die Leichenstarre ist fast vollständig ausgeprägt. Die Leichenflecken lassen sich noch wegdrücken. Beim ersten Toten hatte sich die Leichenstarre bereits gelöst und die Leichenflecken ließen sich nicht mehr wegdrücken. Bei dieser trat der Tod mindestens vor 20 Stunden ein. Also 20 Stunden plus X. Die Differenz zwischen der Körperkerntemperatur und der Umgebungstemperatur lässt sich nicht berechnen, weil die Temperatur in der Nacht abgefallen ist. Mit dem Lauf der Sonne lag die Leiche im Bereich der Sonneneinstrahlung oder im Schatten, mit diesen unterschiedlichen Temperaturen lässt sich nicht vernünftig rechnen.« Stefan notierte die Körpertemperatur für den Tatortbericht und verstaute das Thermometer im Koffer.

Jan wusste, dass die Bestimmung der Todeszeit sehr kompliziert war. Es gab natürlich Fälle, wo die Umgebungstemperatur konstant war, zum Beispiel wenn man Tote in einer Wohnung auffand. Öffnete dann jemand ein Fenster und die Temperatur variierte, war es aber auch wieder ähnlich wie hier draußen. Dies führte zu ungenauen Ergebnissen bei den Berechnungen.

»Lasst euch Zeit. Ich hab mit Renko telefoniert. Er schickt ein zweites Team zum Parkplatz Rheiderland und ich fahr gleich noch einmal hin. Den Bestatter hab ich auch schon angerufen.«

Stefan verzog das Gesicht. »Sag bloß nicht, dieser Wiener Sängerknabe, dieser Erdmann, holt ihn ab.«

Jan grinste. »Tschüss, ich muss los.« Er hoffte, dass die Kollegen auf dem anderen Parkplatz bereits auf ihn warteten.

Tag 4, nachmittags

PP Rheiderland, Rtg. Mep.27

Auf der Fahrt zum Parkplatz Rheiderland saß Jan Broning wieder alleine im Auto. Fahrten zum Einsatzort nutzte er sonst meist, um sich mit einem Kollegen zu besprechen. Im Dialog kamen ihm die besten Ideen. Diese Alleinfahrten waren für ihn schrecklich. Ich brauche unbedingt einen Partner an meiner Seite, dachte er. Natürlich war das im Idealfall Maike.

20 Minuten später fuhr er an der immer noch gesperrten Einfahrt des Parkplatzes vorbei, stoppte an der Ausfahrt und fuhr rückwärts auf den Platz. Die weißen Overalls der Kollegen Anni Ruiter und Egon Kromminga fielen sofort auf. Jan stieg aus und ging zu ihnen hinüber.

Er gab beiden die Hand. »Danke für eure Unterstützung. Wollen wir uns erst mal einen Überblick verschaffen?«

Sie gingen zusammen über den Parkplatz und Jan erklärte ihnen die Situation. Anschließend überlegten sie, wie man am besten vorgehen konnte. Der abgesperrte Bereich an der Zufahrt sollte gründlich abgesucht werden, besonders die Stellen, wo man das Handy und die Zündschlüssel gefunden hatte. Beide Bereiche waren markiert worden. Dazwischen befand sich auf einer Wiese eine Sitzgruppe aus Beton. Broning nahm sein Notizbuch und Handy aus der Tasche, legte beides auf den Tisch und setzte sich auf eine Bank, von der aus er einen guten Überblick hatte.

Jan machte sich Notizen und schaute zwischendurch auf, um zu sehen, wie weit die Kollegen waren. Sie bauten gerade ein elektronisches Metallsuchgerät zusammen. Jan lächelte, weil er sich freute, wie gut die beiden zusammenarbeiteten. Egon schwenkte den Teller des Suchgerätes langsam über dem Erdboden hin und her. Dabei näherte er sich der Stelle, wo man Rolf Bergers Handy gefunden hatte. Anni suchte in der Zwischenzeit noch einmal den Bereich auch außerhalb der Markierungen ab. Immer wieder bückte sie sich, um sich einzelne Gegenstände genauer anzusehen.

Jan Broning fertigte eine grobe Skizze in seinem Notizbuch und sah immer wieder auf, um die Zeichnung mit den tatsächlichen örtlichen Verhältnissen zu vergleichen.

Das Metallsuchgerät gab einen lauten Signalton ab. Aus den Augenwinkeln beobachte Jan, wie Egon sich hinunterbeugte, um an der Stelle den Boden genauestens abzusuchen. Dann sah er zu Jan hinüber und schüttelte den Kopf. Die Signaltöne des Gerätes und das Rascheln, wenn Anni sich durch die Büsche kämpfte, vermischte sich mit den Geräuschen des Verkehrs, der auf der Autobahn an ihnen vorbeirauschte.

Jan zeichnete die Fundstelle des Handys ein. Die Entfernung von dort bis zu dem Bereich, wo sich Berger aufgehalten hatte, schätzte er grob auf 15 bis 20 Meter. Das Handy war vermutlich zusammen mit den Schlüsseln in die Grünanlage geworfen worden. Fragte sich nur, von wem und warum. Sollte Berger sein Handy selbst weggeworfen haben? Sehr unwahrscheinlich.

Die oder der Entführer wollten vermutlich eine erfolgreiche Handypeilung verhindern. Dazu passte auch der schriftliche Hinweis auf eine andere Frau im Notizbuch des Kollegen: ein Ablenkungsmanöver, da war Jan sich inzwischen sicher. Die Begegnung der Täter mit dem Kollegen Berger hier auf dem Parkplatz war vermutlich Zufall gewesen. Trotzdem hatte er oder sie überlegt gehandelt, und das sagte viel über die Kaltblütigkeit aus.

Jan blickte von seinem Notizbuch auf, als ein Mercedes rückwärts auf den Parkplatz fuhr. Das Getriebe heulte protestierend auf, als der Wagen im Rückwärtsgang beschleunigte. Jan erkannte ihn sofort. Sein Chef hatte diesen ausgelutschten Streifenwagen von der Autobahnpolizei ›geerbt‹. Die blauen Folien und die Signalanlage hatte man entfernt.

Der Mercedes parkte neben Bronings Zivilwagen, und Renko Dirksen stieg aus. Jan winkte ihm zu. Dirksen achtete sehr auf sein Äußeres. Er trug edle Klamotten – Hut, langer Mantel und sauteure italienische Schuhe. Irgendwie sah er aus wie dieser Kommissar Maigret aus den alten Schwarzweiß-Fernsehkrimis. Fehlte eigentlich nur noch die Pfeife.

Jan lächelte, als Renko vorsichtig wie ein Storch im Salat durch das Gras auf ihn zukam. Der hatte sicher Angst, in Hundetretminen zu laufen. Er inspizierte sehr genau die Bank gegenüber von Jan, und setzte sich dann.

Jan bemerkte die tiefen Falten in Renkos Gesicht. Auch der Anteil der grauen Haare hatte in den letzten Jahren stark zugenommen. Sein Chef strahlte heute eine gewisse Anspannung aus. Renkos Blick wanderte ständig zwischen Jan, den Kollegen von der Spurensicherung und dem vorbeifließenden Verkehr hin und her.

»Hallo, Jan.« Er sah wieder hinüber zu Anni und Egon, dann schaute er Jan fragend an.

»Bis jetzt negativ«, kam Jan seiner Frage zuvor.

Für eine kurze Zeit schauten sie zu, wie die Spurensicherer konzentriert arbeiteten. Renko unterbrach die Stille. »Ich hab mit dem Kollegen Sprengel gesprochen. Insbesondere habe ich ihm von deiner Vermutung berichtet, dass zwischen den zwei Toten und dem vermissten Kollegen ein Zusammenhang bestehen könnte. Kurz gesagt, wir sind der Meinung, dass die Bildung einer Sonderkommission sinnvoll ist. Wir wollen uns gleich bei der Dienststelle der Autobahnpolizei treffen. Die Einzelheiten können wir dann gemeinsam mit dem Kollegen Martens besprechen.«

Jan war nicht überrascht. Vermutlich würde man ihm die Leitung der Soko übertragen. Eine große Verantwortung, insbesondere, weil das Leben eines Kollegen von seinen Entscheidungen abhing. Andererseits konnte er als Leiter einige Rahmenbedingungen aushandeln. Als Erstes würde er sich um einen Partner kümmern. Er hatte keine Lust mehr auf Alleinfahrten.

Jan zeigte seinem Chef die Situation auf dem Parkplatz und verabschiedete sich von den Kollegen der Spurensicherung. Hintereinander fuhren Jan und Renko mit ihren Autos vom Parkplatz. Ihr Ziel war das Autobahnpolizeigebäude am Emstunnel. Dazu mussten sie zunächst bis zur AS Weener fahren, dann ging es wieder zurück in Richtung Leer.

Sie parkten im Innenhof der Dienststelle und gingen gemeinsam ins Gebäude. Anton Martens, der Leiter der Autobahnpolizei, kam ihnen im Flur entgegen und begleitete sie in die Einsatzzentrale. Die Stimmung im kleinen Raum war gedrückt. Kein Lächeln, lange Gesichter und viel Stille.

»Ich mach es kurz«, sagte Renko. »Anton hat mir bereits den Sitzungsraum hier oben für die Soko angeboten. Der Leiter der Soko sollte natürlich entscheiden, von wo aus die Soko arbeiten soll.«

Jan wartete regungslos darauf, dass sein Chef die Katze aus dem Sack ließ.

»Jan, ich habe mich mit Thomas abgestimmt und wir sind uns einig: Wenn du möchtest, kannst du die Rahmenbedingungen festlegen …« Renko räusperte sich und entschied sich für eine klare Ansage: »Mit anderen Worten, wir bieten dir den Posten als Leiter der Soko an, was sagst du?«

Jan ließ seinen Chef etwas zappeln. »Angenommen, ich stelle mich als Leiter zur Verfügung, dann habe ich doch sicher etwas Beinfreiheit…. Zum Beispiel … könnte ich mitbestimmen, wer mich in der Soko unterstützt?«

Trotz der ernsten Lage konnte sich Renko ein Grinsen nicht verkneifen. »Hattest du denn an bestimmte Personen gedacht?« Der alte Fuchs wusste genau, worauf Jan hinauswollte.

Trotzdem spielte Jan den Unschuldigen. »Weißt du, Renko, bei der letzten Soko habe ich doch sehr gut mit der Kollegin Maike de Buhr zusammengearbeitet. Die hattest du mir ja an die Seite gestellt. Es wäre doch im Sinne der Ermittlungen, wenn wir wieder erfolgreich zusammenarbeiten können.«

Renko knirschte mit den Zähnen. Jan hatte seinem Chef elegant unter die Nase gerieben, dass dieser ihm Maike de Buhr damals selbst aufs Auge gedrückt hatte.

Lief da etwas zwischen Jan und Maike? Renko konnte nicht abstreiten, dass sich beide zumindest dienstlich hervorragend ergänzten. Sie würden schneller Ergebnisse erzielen als ein neues Ermittlerteam. Und das Privatleben seiner Beamten war ihm egal, solange es sich nicht auf den Dienst auswirkte. »Einverstanden. Such dir deine Ermittler selbst aus. Meinetwegen auch Kollegin de Buhr. Wo ist die eigentlich?«

»In Osnabrück, irgendeine Fortbildung«, antwortete Jan mit Unschuldsmiene. »Onno Elzinga sollte auch zum Team gehören.« Jan fügte schnell hinzu: »Wenn er möchte.«

Die Kollegen trennten sich. Renko Dirksen fuhr zurück zur Dienststelle in der Stadt. Jan folgte Anton hinauf in die erste Etage des Autobahnpolizeigebäudes. Der Treppenaufgang war an einer Wandseite verglast. Von hier konnte man weit in den Hammrich bis zum Deich sehen. Genau das Richtige für einen Ostfriesen. Der Blick konnte sich am Horizont verlieren.

Anton ging voraus, Jan trat hinter ihm ein und sah sich in dem hellen Raum um. »Na, was meinst du?«, fragte Anton. »Nebenan ist eine kleine Küche. Gar nicht schlecht, oder?«

Die Dienststelle gefiel Jan sehr, und dieser Raum machte davon keine Ausnahme. »Sehr schön – und wie sieht es aus mit Technik? Wir brauchen mindestens noch zwei Telefone, Fax und Computer. Vorläufig.«

»Kein Problem, der Chef hat grünes Licht gegeben. Ihr bekommt alles, was ihr wollt, und zwar mit Vorrang.« Anton ging zur Tür, drehte sich aber noch einmal zu Jan um, bevor er hinausging. »Ich bin auf der Wache, falls du mich suchst.«

Vom Fenster der neuen Soko-Zentrale konnte Jan auf den Innenhof der Autobahnpolizei blicken. Dort herrschte hektische Betriebsamkeit. Die Suchteams wechselten sich ab, betankten ihre Einsatzfahrzeuge.

Es war schon Nachmittag und sie hatten noch keine Spur vom vermissten Kollegen Berger. Nicht gut, dachte Jan, gar nicht gut. Die Chancen, ihn unversehrt aufzufinden, verringerten sich mit jeder abgelaufenen Stunde. Was konnte Jan noch unternehmen? Hatte er etwas übersehen?

Kurzfristig hatte die Suche nach Rolf Berger absoluten Vorrang. Der Hubschrauber zog seine Kreise über dem Suchgebiet. Die Hundeführer durchkämmten systematisch ihre zugewiesenen Sektoren. Auswärtige Dienststellen wie die Bundespolizei und der Zoll beteiligten sich ebenfalls. Man konnte jetzt nur noch abwarten und hoffen. Zurzeit organisierte Anton die Suche von der Wache aus. Jan wusste, dass er sich auf seine Kollegen verlassen konnte.

Seine Aufgabe war es jetzt, den aktuellen Fall – die Toten auf den Parkplätzen – aufzuklären.

Angenommen, die Suche nach dem Kollegen Berger verlief negativ. Dann war Jans Theorie, dass zwischen den zwei Toten und dem Verschwinden des Kollegen ein Zusammenhang bestand, besonders wichtig. Es wäre vielleicht die letzte Möglichkeit, Berger zu finden.

Ein Techniker betrat den Raum. »Ich soll Telefone und PC anschließen.« Sie besprachen kurz die Einzelheiten. »Brauchen Sie sonst noch etwas?«

»Zwei von diesen weißen Tafeln mit Magneten.«

»Kein Problem. Morgen früh haben wir alles erledigt.«

Hier war Jan nur im Weg und störte die Techniker bei ihrer Arbeit. Er ging in einen Nebenraum mit einem Telefon und einem Computer und wählte die Nummer der Wache.

»Autobahnpolizei, Rode!«

»Hallo, hier Jan Broning. Ich brauche die Telefonnummer vom Kollegen Onno Elzinga.«

»Sie können auch auf ihn warten. Onno hatte Nachtdienst, wollte aber an der Suche ab 17 Uhr teilnehmen. Müsste jeden Moment eintreffen.«

»Danke«, erwiderte Jan. »Wären Sie so nett und fragen ihn, ob er kurz zu mir nach oben in den Sitzungsraum kommen kann?«

»Mach ich.«

Jan Broning schloss seine Augen und ließ die Ereignisse vor seinem inneren Auge Revue passieren.

Der erste Tote war auf dem Parkplatz Uplengen gefunden worden. Der zweite Tote auf dem Parkplatz Rhede. Der oder die Täter waren also mobil.

Die Spurensicherer hatten ihm berichtet, dass nur geringe Blutmengen im Boden unterhalb der rechten Hand der Toten festgestellt worden waren. Die Opfer waren also bereits tot gewesen, als man sie verstümmelt hatte, sonst wäre eine größere Menge Blut aus der Wunde getreten.

Übereinstimmend bei den Opfern war auch die vermutete Todesursache Kohlenmonoxid-Vergiftung. Am Fundort wäre eine Vergiftung mit Autoabgasen schlecht durchführbar gewesen. Die Toten waren also bewegt worden. Zumindest von der gepflasterten Parkfläche, wo die Tötung vielleicht in einem Pkw oder ähnlichem geschehen war, bis in die Grünanlagen.

Die Beseitigung der beiden Opfer wirkte auf Broning improvisiert. Das Entdeckungsrisiko auf einem Autobahnparkplatz war hoch. Dies hatte sich ja bestätigt: Beide Opfer waren relativ schnell gefunden worden. Warum waren sie nicht zum Beispiel in einem einsamen Wald vergraben oder in einem See versenkt worden? Sollte man die Toten finden? Und der Schmuck? Zufall oder vom Täter hinterlassen?

Jan vermutete, dass es sich um eine Art Botschaft des Täters handelte.

Er massierte seine Schläfen, dann war die Stirn dran. Es half nichts, er hatte erheblich mehr Fragen als Antworten. Er nahm Zettel und Stift und begann, sich Stichworte untereinander aufzuschreiben.

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Дата выхода на Литрес:
25 мая 2021
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383 стр. 6 иллюстраций
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9783839264621
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