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Wolfgang Pohrt
Honoré de Balzac
Der Geheimagent der Unzufriedenheit
FUEGO
- Über dieses Buch -
»Für immer vorbei ist der Moment, wo es möglich war, den betörenden Zauber des Geldes so darzustellen, wie Balzac es tat, oder wie Marx und Engels das Kapitalverhältnis als von einem automatischen Subjekt vorangepeitschtes Ausbeutungsverhältnis zu dechiffrieren. Und eben deshalb, weil Balzacs Werk den vergänglichen und unwiederbringlichen Augenblick bannt, darf es als zeitlos gelten, solange die bestehende Gesellschaft eine Verfallsform der bürgerlichen ist.« Wolfgang Pohrt
Sechs Essays, die unter dem Titel »Der Geheimagent der Unzufriedenheit. Balzac« 1984 als Buch erschienen und ursprünglich Radiobeiträge für den WDR waren, die 1981 unter dem Titel: »Rückblick auf die Moderne« gesendet wurden.
»Es gibt ein großartiges Buch von Wolfgang Pohrt über Liebe und Geld bei Balzac, daraus habe ich natürlich auch nichts gelernt, aber es begeistert mich immer wieder aufs Neue.«
Sophie Rois, KulturSPIEGEL
»Kluger Essay.«
Claudius Seidl, Frankfurter Allgemeine Sonntagszeitung
»Die Literatur ist nur noch
ein Spekulationsobjekt!«
Unterhaltungskünstler und Geheimagent
Wer heute Neuerscheinungen rezensiert hat große Mühe einen langweiligeren und schlechteren Text zu schreiben als das besprochene Buch. Nichts Inferioreres als hohlköpfige Zeilenschinder unter der Berufsbezeichnung Schriftsteller habe die Menschheit in ihrer langen Geschichte hervorgebracht, muss er denken, und so stellt sich mit der Zeit eine gewisse Überheblichkeit bei ihm ein. Er sollte, wenn er sie kurieren oder dämpfen will, sich Balzac zuwenden, denn die Aufgabe, über Balzac zu schreiben, gibt ihm die verlorene Achtung vor der Literatur zurück. Am eigenen Leibe erfährt man ihre Kraft als Fähigkeit zur Rache am Literaturwissenschaftler, am Journalisten und am Rezensenten. Für die Erbsünde, zur Zunft verhinderter Romanciers oder Dramatiker zu gehören, wird der Schreiber bestraft durch die quälende Pflicht, nun seinerseits sowohl Balzac als auch dessen Bewunderer und Interpreten lesen zu müssen. Gegen die Sekundärliteratur aber, die man mit dem eigenen Text noch verlängert, ist der Geschmack gerade durch Balzac selbst vorzüglich immunisiert.
Von Balzacs Romanen verwöhnt, ist man unfähig, sich durch seine von André Maurois geschriebene Biografie hindurchzubeißen, einen Wälzer, der durch seinen Umfang wie durch seine blumige Sprache ebenso offenkundig wie vergeblich versucht, Balzacs Gestus zu imitieren. Man liest Hugo von Hofmannsthals Hymne an Balzacs überströmende und unerschöpfliche Fantasie und Schaffenskraft und wird den Nebengedanken nicht los, dass Balzac selbst diesem Lobredner in der »Menschlichen Komödie« nach spätestens einer halben Seite das Wort entzogen hätte. Man leidet schließlich unter Stefan Zweigs aufdringlichen Bemühungen um Poesie und Tiefsinn, man stellt sich dabei unwillkürlich einen Provinzdichter und frischgebackenen Journalisten vor, wie er gerade seine Kollegen langweilt, und man wartet ungeduldig darauf, dass ihn endlich Balzacs Emile Blondet mit der Bemerkung unterbricht: »Mein Lieber, du vergeudest für zwölf Sous Feuilleton.«
Der Titel, unter dem Stefan Zweigs Essay über Dickens, Dostojewski und Balzac erschienen ist, lautet: »Drei Meister«, und mit dem programmatischen Missverständnis, welches in dieser Auszeichnung steckt, ist das Misslingen von Zweigs Aufsatz über Balzac bereits vorgezeichnet. Die Verleihung des Meistertitels nämlich setzt den Schriftsteller als Handwerker und Hoflieferanten voraus, sie unterstellt das Gelten einer Art Zunftordnung in der Literatur, welche das Verhältnis von Lehrlingen, Meistern und Gesellen regelt, ferner die Einhaltung tradierter Qualitätsnormen und Fertigungsverfahren überwacht und schließlich die Etablierten vor ruinöser Konkurrenz schützt, indem sie die Gründung neuer Betriebe verhindert.
Balzac aber war kein Nutznießer der Zunftordnung, sondern der Gewerbefreiheit, er hatte keine Lehre absolviert, sondern er war Autodidakt, er gehörte nicht zur Gilde, sondern er war Außenseiter und Parvenü, er lieferte nicht auf Bestellung und persönlichen Wunsch, sondern er belieferte den Markt, er respektierte weder tradierte Techniken noch Qualitätsmaßstäbe, und er war als Schriftsteller weder Geselle noch Meister, sondern er war eine kleine Romanfabrik. Die Absichten, die Zweig ihm unterstellt – »die ganze Weltfülle gierig zu erstreben« oder »das geheimnisvolle Räderwerk der Urtriebe zu erlauschen« – hätte er einem unbedarften Provinzdichter in den Mund gelegt, einem dilettierenden Schwarmgeist vom Lande, der ein überaus dankbares ortsansässiges Lesepublikum mit dem Vortrag seiner wenigen und darum umso kostbarer erscheinenden Verse beglückt, und der in seiner Borniertheit nicht die mindeste Ahnung davon hat, dass schriftstellerischer Heroismus im 19. Jahrhundert heißt: die Tageszeitungen mit Feuilletonromanen zu beliefern und sich in Paris gegen die Konkurrenz tausender anderer Schriftsteller zu behaupten. So steht Balzac einschließlich seiner Affären und seiner Schulden dem Drehbuchautor näher, der für »Dallas« oder »Denver« schreibt, als irgendeinem alten, großen, langweiligen Meister namens Eckehart. Viel genauer als der um Klassizität – seine eigene und die Balzacs – ringende und dabei ins Raunen verfallende Stefan Zweig trifft deshalb Gottfried Benn mit ein paar respektlosen Zeilen die Großartigkeit von Balzac:
Balzac, der trug kein Amulett und sehnte sich nicht nach Abrahams Schoß, trank dafür fünfzig Tassen Kaffee an seinem Arbeitstag, denn er mußte liefern, Vorschuß abdecken, drei Romane im Jahr waren das Mittel, der Redaktionsbote stand neben ihm am Schreibtisch wegen der Fortsetzung für das Abendblatt. Von da auf jeder Seite das fast planmäßige Gemisch von Kolportage und Genie, von geradezu systematisch vorgebrachtem Feuilletonismus und hinreißender Caprice. Gleicherweise Zeilenschinderei wie sprachlich wachsende Visionen, Geschwätz und Unwiderstehlichkeit, Kino und Erkenntnis.
Also kein fröhlicher Schaffensdrang oder unbezähmbarer künstlerischer Ausdrucks- und Gestaltungswille trieben Balzac voran, sondern toxische Mengen von Kaffee mussten ihn beim Schreiben unterstützen. Den gewaltigen Strom von fünfzigtausend Tassen hat nach Schätzung irgendwelcher Statistiker seine »Menschliche Komödie« verschluckt. Sein Tagwerk begann er, dabei stets in dieselbe Kutte gekleidet, um ein Uhr nachts, die Füße bisweilen im Senfbad und den Kopf in Ausnahmefällen, wenn ihm trotz drückender Verpflichtungen gar nichts einfallen wollte, von der Opiumpfeife umnebelt. Er arbeitete abwechselnd in luxuriösen, mit kostspieligem Ramsch vollgestopften Wohnungen oder in irgendeiner Absteige, wo er sich unter falschem Namen vor seinen Gläubigern und Gerichtsvollziehern verbarg. Fürs Schuldenmachen hat er die Formel »seinen Kredit vergrößern« gefunden, er verkaufte skrupellos Bücher, von denen noch keine Zeile existierte, und wenn er sich vom Verleger einen Vorschuss erschwindelt hatte, dann reiste er vielleicht wegen einer Frau, die er noch nie gesehen, in deren Briefe er sich aber verliebt hatte, erst einmal nach Italien. Unter diesen Bedingungen schrieb Balzac in 20 Jahren 80 Romane. Dann starb er, völlig erschöpft und krank, im August 1850 im Alter von einundfünfzig Jahren.
Mag diese kräftezehrende Turbulenz auch in Balzacs Naturell oder in Zufälligkeiten des Alltags begründet sein, so besteht ihre Bedeutung jedenfalls darin, die Verfassung der Literatur in einer für ihre weitere Entwicklung wichtigen Epoche zu spiegeln. Während der Juli-Monarchie in Frankreich von 1830 bis 1848 nämlich, welche mit der Arbeit Balzacs an der »Menschlichen Komödie« fast genau zusammenfällt, unter der Herrschaft des Bürgerkönigtums also, welches die Restauration ablöst, erobern Literatur und Presse erstmals in der Geschichte gemeinsam einen Markt, und es deutet sich an, dass beide Branchen zur Unterhaltungsindustrie fusionieren werden. Walter Benjamin schreibt in seiner Studie »Das Paris des Second Empire bei Baudelaire« über diesen epochalen Einschnitt, über dieses historische Novum:
Der literarische Tagesbetrieb hatte sich hundertundfünfzig Jahre lang um Zeitschriften bewegt. Gegen Ende des ersten Jahrhundertdrittels begann das sich zu ändern. Die schöne Literatur bekam durch das Feuilleton einen Absatzmarkt in der Tageszeitung. In der Einführung des Feuilletons resümieren sich die Veränderungen, die die Julirevolution der Presse gebracht hatte. ... 1824 gab es in Paris 47.000 Bezieher von Zeitungen, 1836 waren es 70 und 1846 200 Tausend. Eine entscheidende Rolle hatte bei diesem Aufstieg Girardins Zeitung »La Presse« gespielt. Sie hatte drei wichtige Neuerungen gebracht: die Herabsetzung des Abonnementpreises auf 40 Francs (d.h. seine Halbierung), das Inserat sowie den Feuilletonroman.
Die Tageszeitung »La Presse«, die Benjamin erwähnt, wurde 1836 gegründet. Von 1837 an bis 1847 schrieb Balzac für dieses Blatt pro Jahr einen Roman. Zwischen dem in täglichen Fortsetzungen erscheinenden Feuilletonroman einerseits, andererseits den Inseraten, die einen längst üblich gewesenen Brauch legalisierten, den man damals »réclame« nannte und den man heute Schleichwerbung nennen würde, und schließlich der Halbierung des Bezugspreises bestand ein zwingender Zusammenhang. Der konkurrenzlos billige Preis war ökonomisch nur möglich unter der Voraussetzung, dass sich die Zeitung zum großen Teil über das Anzeigengeschäft finanzierte. Weil der Erlös aus dem Anzeigengeschäft aber unmittelbar von der Auflagenhöhe abhing, brauchte die Tageszeitung eine von den Zufällen der Nachrichtenbörse unabhängige Publikumsattraktion, welche für hohen und regelmäßigen Absatz dergestalt sorgte, dass sie die Leser dauerhaft an ein bestimmtes Blatt zu binden verstand.
Diese Publikumsattraktion, welche die Verkaufsauflage einer Tageszeitung unabhängig von den sensationellen oder langweiligen Nachrichten des Tages und damit kalkulierbar machte, war der Feuilletonroman. Auch wenn sich auf der Welt absolut nichts Berichtenswertes ereignen wollte, war man gezwungen, die Tageszeitung zu kaufen, um nicht die tägliche Fortsetzung zu verpassen.
Die Neugier auf die tägliche Fortsetzung aber stieg oder fiel mit der Ausstrahlung, mit der Prominenz, mit dem Ruhm des Verfassers. Der Autor, dem es gelang, sich beim Publikum einen Namen zu machen, wurde zum Star, zum lebendigen Markenzeichen, zur Absatz- und Erfolgsgarantie in einem Geschäft, worin bedeutende Summen auf dem Spiel standen, seit die Zeitung ein Massenartikel geworden war. Entsprechend teuer wurde sein Name gehandelt.
In seiner Studie über Charles Baudelaire beschreibt Benjamin die damals üblichen Honorare und Usancen im Geschäftsverkehr zwischen Literatur und Presse:
1845 schloss Dumas mit dem »Constitutionnel« und der »Presse« einen Vertrag, in dem ihm für fünf Jahre ein jährliches Mindesthonorar von 63000 Francs bei einer jährlichen Mindestproduktion von achtzehn Bänden ausgesetzt wurde. Eugène Sue erhielt für die »Mystères de Paris« eine Anzahlung von 100000 Francs. Die Honorare von Lamartine hat man für den Zeitraum von 1838 bis 1851 auf fünf Millionen Francs berechnet ... Die üppige Honorierung von literarischer Tagesware führte notwendig zu Übelständen. Es kam vor, dass Verleger sich beim Erwerb von Manuskripten das Recht vorbehielten, sie von einem Verfasser ihrer Wahl zeichnen zu lassen. Das setzte voraus, dass einige erfolgreiche Romanciers mit ihrer Unterschrift nicht heikel waren. Näheres berichtet ein Pamphlet »Fabriken des Romans, Maison Alexandre Dumas et Cie.« Die »Revue des deux Mondes« schrieb damals: »Wer kennt die Titel aller Bücher, die Herr Dumas gezeichnet hat? Kennt er sie selber? Wenn er nicht ein Journal mit Soll und Haben führt, so hat er bestimmt mehr als eines der Kinder vergessen, von denen er der legitime, der natürliche oder der Adoptivvater ist.« Es ging die Sage, Dumas beschäftige in seinen Kellern eine ganze Kompanie armer Literaten. Noch zehn Jahre nach den Feststellungen der großen Revue – 1855 – findet man in einem kleinen Organ der Bohème die folgende pittoreske Darstellung aus dem Leben eines erfolgreichen Romanciers, den der Autor de Sanctis nennt: »Zuhause angekommen, schließt Herr Sanctis sorgfältig ab ... und öffnet eine kleine hinter seiner Bibliothek verborgene Tür. – Er befindet sich damit in einem ziemlich schmutzigen, schlecht beleuchteten Kabinett. Da sitzt, einen langen Gänsekiel in der Hand, mit verwirrtem Haar ein düster, doch unterwürfig blickender Mann. In ihm erkennt man auf eine Meile den wahren Romancier von Geblüt, wenn er auch nur ein ehemaliger Ministerialangestellter ist, der die Kunst Balzacs bei der Lektüre des ›Constitutionnel‹ erlernt hat.«
Andere Quellen wollen wissen, dass für Alexandre Dumas genau 73 Autoren geschrieben haben, und von Scribe ist bekannt, dass er für die Dialoge seiner Stücke eine Reihe anonymer Mitarbeiter, »Neger« genannt, beschäftigte. Bei Balzac taucht die Figur des »literarischen Kupplers« bereits in einem der ersten erfolgreichen Romane auf, im »Chagrinleder«, erschienen 1831.
Raphael de Valentin, selber in jungen Jahren Schriftsteller aus Leidenschaft, klatscht über Finot, den Namenspatron zahlloser von ihm nie geschriebener Texte. Der Ort ist das Café de Paris, bekannt für besonders frische Austern, Finot sitzt außer Hörweite am Nebentisch:
*Honoré de Balzac, »Die Menschliche Komödie«, Gesamtausgabe in 12 Bänden, übersetzt, eingeleitet und herausgegeben von Prof. Dr. Ernst Sander. München 1971. Alle Zitate Balzacs sind im folgenden dieser Ausgabe entnommen. Die in Klammern gesetzten Ziffern beziehen sich auf Bandnummer und Seitenzahl.
»Dieser Bursche«, flüsterte Rastignac mir zu, »hat die Ehrenlegion bekommen, weil er Werke veröffentlicht hat, die er nicht versteht; er ist Chemiker, Historiker, Romanautor und Publizist, ist mit einem Viertel, einem Drittel, der Hälfte an wer weiß wie vielen Theaterstücken beteiligt und dabei dumm wie Don Miguels Maulesel. Er ist kein Mensch, sondern ein Name, ein dem Publikum vertrautes Warenschild. Daher wird er sich sorglich hüten, eines jener Kabinette zu betreten, die die Inschrift tragen: ›Hier kann man selber schreiben.‹« (XI., S. 134)*
Im Maße also, wie die Literatur eine Sparte der Unterhaltungsindustrie wurde, verwandelte das Namenszeichen des arrivierten Autors sich in ein wertvolles und vielseitig verwendbares Gütesiegel, zumal nach der Ausweitung des Marktes auch die Zeit vorüber war für das Lesepublikum im antiquierten Sinne, für die begrenzte, überschaubare Gruppe von Kennern. Adressat auch der Literatur wird nun die anonyme Masse der Käufer und Wähler, jenes unberechenbare und bisweilen schwer kontrollierbare Gebilde, um dessen Gunst seit der Großen Revolution sich bemühen muss, wer ökonomischen, literarischen oder politischen Erfolg haben möchte. Mit seinem Einfluss auf die Masse, die er dem vertrauenerweckenden Klang seines Namens verdankt, befindet sich der erfolgreiche Romancier also im Besitz einer schwer zu erwerbenden und daher gesuchten Fähigkeit. Als potenzieller Demagoge und Propagandist wird er nicht einem separaten Bereich der arbeitsteiligen Gesamtproduktion zugerechnet, sondern er rückt ins Zentrum des öffentlichen Interesses und des gesellschaftlichen Lebens. Umso größer ist nun die Versuchung für ihn, sich als Werbeträger engagieren zu lassen oder zum Typus des Unterschriftstellers zu mutieren, als jeder öffentliche Auftritt im Dienst der guten Sache zugleich Reklame für den eigenen Namen bedeutet, auf dessen Lancierung ein moderner Schriftsteller sich verstehen muss.
Aus objektiven Gründen, eben weil auf dem Unterhaltungsmarkt zahllose Anbieter zahllosen zunächst orientierungslosen Nachfragern gegenüberstehen, ist sein literarischer Erfolg an seinem Ruhm als Person der Zeitgeschichte geknüpft, denn ohne den zugkräftigen Namen auf dem Umschlag fänden seine Bücher keine Verbreitung. Die Eroberung des Marktes und der Masse wird daher zur dominierenden Publikationsstrategie, und eine draufgängerische Haltung, wie sie in Deutschland gern guten Journalisten von unbegabten Literaten vorgeworfen wird, prägt die Literatur selber. Als literarischen Ausdruck des Verschmelzens von Reklame, Literatur, Unterhaltung und Politik könnte man stilistische Eigentümlichkeiten Balzacs interpretieren, die Hugo Friedrich in ganz anderem Zusammenhang erwähnt:
Balzac liebte es, sich die Wirkung seiner Feder vorzustellen wie einen Feldzug Napoleons: unwiderstehlich. Sein Künstlertum ist propagandistisch. Er erzwingt sich die Aufmerksamkeit seiner Leser mit der Wucht seiner tragischen Akzente, er wühlt elementare Gefühle auf: Schreck, Angst, Spannung, Sorge, Mitleid, Erschauern vor dämonischen Untergründen, vor dem Halbdunkel krimineller oder geisterhafter Geschehnisse.
Der Wille, im Handstreich die Massen und die große Welt zu erobern, wird gerade bei Balzac von der in Briefen oft geäußerten Hoffnung genährt, nach Veröffentlichung seines nächsten Romans werde ihm die ganze Welt, aller Reichtum und alle schönen Frauen zu Füßen liegen, ihn »hüten wie ihren Augapfel«, wie er einmal schreibt. Sein liebenswerter und unerfüllbarer, weil maßloser Kinderwunsch ist trotz aller fantastischen Überspitzung nicht einfach wirklichkeitsfremd, insofern schon damals ein politisches Amt die Karriere eines Unterhaltungsschriftstellers krönen konnte. Benjamin beschreibt die Verflechtung von Politik und Feuilleton:
Die hohe Dotierung des Feuilletons verbunden mit seinem großen Absatz verhalf den Schriftstellern, die es belieferten, zu einem großen Namen im Publikum. Es lag für den Einzelnen nicht fern, seinen Ruf und seine Mittel kombiniert einzusetzen: Die politische Karriere erschloß sich ihm fast von selbst. Damit ergaben sich neue Formen der Korruption, und sie waren folgenreicher als der Mißbrauch bekannter Autorennamen. War der politische Ehrgeiz des Literaten einmal erwacht, so lag es für das Regime nahe, ihm den rechten Weg zu weisen. 1846 bot Salvandy, der Kolonialminister, Alexandre Dumas an, auf Regierungskosten – das Unternehmen war mit 10.000 Francs bedacht – eine Reise nach Tunis zu unternehmen, um die Kolonien zu propagieren. Die Expedition mißriet, verschlang viel Geld und endete mit einer Kleinen Anfrage in der Kammer. Glücklicher war Sue, der aufgrund des Erfolges seiner »Mystères de Paris« nicht nur die Abonnentenzahl des »Constitutionnel« von 3600 auf 20.000 brachte, sondern 1850 mit 130.000 Stimmen der Arbeiter zum Deputierten gewählt wurde.
Mit dem Erwerb von Ruhm und öffentlicher Anerkennung zunächst, die dann als Sprungbrett für den Vorstoß zur Macht benutzt werden können, sind die Erwartungen umrissen, die damals ein Schriftsteller mit einer erfolgreichen Karriere verbinden durfte. Das Feuilleton – im Jahre 1800 von Abbé de Geoffroy am »Journal de L'Empire«, dem späteren »Journal des Débats«, eingeführt und schon damals bezahlte Reklame – war die Lotterie, wo man durch den Einsatz allein seines Kopfes und seiner Feder Ruhm, Macht und Reichtum gewinnen konnte. Und mehr als seinen Kopf und seine Feder einsetzen konnte Balzac nicht, da er aus mittelmäßigen Verhältnissen stammte – er wurde 1799 als Sohn eines Beamten in der Provinz geboren. Er hätte also Advokatenschreiber bleiben, seine Jurastudien abschließen und später vielleicht Notar werden können, ein ebenso ehrenwertes wie namenloses Mitglied der bürgerlichen Gesellschaft. Ein glanzloses Leben von bloß lokaler Bedeutung anzustreben aber wäre ein Rückfall gewesen hinter die politische und ökonomische Entwicklung, denn mit der Integration aller Regionen Frankreichs zur Grande Nation, mit dem Niederreißen aller Standesbarrieren und der Abschaffung formeller Geburtsprivilegien hatte die große Revolution nicht nur die Arena oder die Bühne neu abgesteckt, auf welcher der ehrgeizige Einzelne sich bewähren musste, sondern gleichzeitig alle Zugangsbeschränkungen aufgehoben. Im Prinzip oder der Möglichkeit nach war fortan jeder die reichste und mächtigste Berühmtheit Frankreichs, und bezeichnend für Balzac wie viele seiner Romanhelden ist, dass sie diese revolutionäre Neuerung beinahe als moralische Verpflichtung betrachten, als Verpflichtung dazu, nicht bescheiden zu sein oder, wie dies auf Deutsch so prägnant scheußlich heißt, daheim zu bleiben und sich redlich zu nähren. Mit zwanzig Jahren gab Balzac daher seine Kanzleilaufbahn auf und beschloss, zum Schrecken seiner Familie, Schriftsteller zu werden. In den nächsten fünf Jahren schrieb er nach Auskunft seiner Schwester, die die Abschriften besorgte, etwa vierzig Romane. Ungefähr ein Dutzend davon hat er publiziert, alle unter Pseudonym. Auch als er sie viel später aus rein finanziellen Gründen wieder herausgab, hat er sie nicht mit seinem Namen gezeichnet.
Nach fünfjähriger Schreibarbeit zieht Balzac – er ist gerade 26 Jahre alt – Bilanz: Er selbst hatte nichts an seinen Romanen verdient, verdient hatten daran nur die Verleger. Im Gegensatz zu seinen larmoyanten Nachfolgern ist er konsequent: Wer siegen, also Niederlagen zufügen will, darf sich auch über erlittene Niederlagen nicht beklagen. Statt über die Ausbeutung der Geistesschaffenden durch den schnöden Kommerz zu lamentieren, gründet Balzac einen Verlag, mit welchem er keine literarischen Ambitionen verbindet, sondern woran er nur verdienen will. Keine Risiken, also keine unbekannten Talente und keine zeitgenössische Literatur, lautet seine Geschäftspolitik, sondern Klassiker in billigen, einbändigen Ausgaben, die allerdings, weil sie zu klein und eng gedruckt waren, kaum gekauft wurden. Als Unternehmer geht Balzac statt literarischer lieber unmittelbar ökonomische Risiken ein und muss dabei die Erfahrung machen, dass der bloße Wille noch keinen Profit schafft. Er beschließt, seinen kränkelnden Verlag durch Expansion zu sanieren, kauft zusätzlich eine Druckerei und gründet ein Jahr später eine Kommanditgesellschaft, um auch noch eine Schriftgießerei zu erwerben. Ein weiteres Jahr später ist Balzac bankrott. Statt des erhofften Vermögens hat ihm sein kleiner Konzern 47.000 Francs Schulden eingebracht, und es bleibt ihm nichts übrig als zurückzukehren zum alten, finanziell erfolgreicheren Beruf, also wieder selbst zu schreiben. 1829 erscheint unter dem Titel »Die Königstreuen« der erste Roman, den Balzac mit seinem Namen zeichnet und den er später in die »Menschliche Komödie« übernehmen wird. Im Jahre 1831 fügt er eigenmächtig seinem Namen die Adelspartikel bei und nennt sich fortan Honoré de Balzac.
Neben dem riesigen Romanwerk selbst produziert er zahllose Artikel für die Presse. Unter eigenem Namen schreibt er für eine legitimistische Zeitung, unter Pseudonym für die Linksopposition, und unter einem weiteren Pseudonym veröffentlicht er selbst verfasste Rezensionen eigener Werke. Die rührige und mit allen Wassern gewaschene Promotion-Agentur Balzac ist dabei als Existenzbedingung für den gleichnamigen Romancier zu betrachten, denn nur dem Einfluss, den Balzac als Journalist im Feuilleton hatte, ist jener Erfolg zu danken, der ihn zum »Zwangsarbeiter des Ruhms«, wie er sich selber nannte, machte. Nur von einem »Zwangsarbeiter des Ruhms« oder – wie Balzac in den »Verlorenen Illusionen« schreibt – »Märtyrer des Erfolgs« aber, nicht etwa von einer dichterischen Begabung oder einem literarischen Naturtalent konnte das kolossale Werk geschaffen werden, bei dessen Niederschrift Balzac in den folgenden achtzehn Jahren seine Gesundheit ruinierte und seine Kräfte vollkommen verschliss.
Voraussetzung der nachträglich, erst 1841 vorgenommenen Gruppierung aller mit Namen gezeichneten Romane zum Gesamtwerk, zur »Menschlichen Komödie«; Voraussetzung auch des schon früher eingeführten Prinzips der Verknüpfung aller Romane durch ständig wiederkehrende Personen war die Serie. Die Romanserie aber, deren enzyklopädischen Anspruch Balzac später durch ihre Gliederung in philosophische Studien, Sittenstudien, Szenen aus dem Privatleben, Szenen aus der Provinz usw. unterstreicht, ist zunächst keine innerästhetische oder innerliterarische Angelegenheit, sondern sie ist von den Erfolgszwängen des Marktes diktiert. Den Autor als Warenzeichen und seine Romane als Markenartikel vorausgesetzt, kann das eigentliche Geschäft erst nach Veröffentlichung des Meisterwerks beginnen, dann, wenn der Name bekannt genug ist, um den Absatz der folgenden, mit ihm gezeichneten Arbeiten zu garantieren.
Der Autor stellt für den Verleger ein Investitionsobjekt dar, welches nur auf lange Frist gerechnet Gewinn abwerfen kann. Selbst wenn das Debüt eines unbekannten Schriftstellers gelingt, sind die Kosten, die angefallen waren, um den Autor bekannt zu machen und das Buch zu lancieren, kaum gedeckt. Erst an den folgenden Titeln kann der Verleger verdienen, erst die Serie vermag den Spekulationsgewinn zu erwirtschaften, der dem hohen Risiko entspricht, welches der Verleger eingegangen war. Üblich war es daher, Verträge nicht über einen, sondern gleich über mehrere Romane abzuschließen, das singuläre, eine großartige Werk, das Meisterstück, woran der Dichter ein Leben lang herummurkst, wurde unverkäuflich.
So produzierten in Frankreich die Schriftsteller unter dem Formgesetz der industriellen Massenproduktion schon zu einer Zeit, als in der gewerblichen Güterproduktion die Fabrik noch kaum eine Rolle spielte. Zum Beweis dafür, dass eine Belehrung nicht zwangsläufig auch langweilig sein muss, hat Balzac selbst diese Zusammenhänge in den »Verlorenen Illusionen« viel eindringlicher, farbiger und packender beschrieben, als dies hier geschah.
Die Serie, die fortan das Produktionsprinzip von Literatur sein wird, begann damals schon auch das Formgesetz der Produkte selber zu werden: Der Autor soll nicht nur Romane am laufenden Meter liefern, sondern am laufenden Meter solche von gleicher Art und Qualität. Brecht, der selber nach Kriminalromanen süchtig war, hat die Erwartungen glossiert, die der Leser an den literarischen Markenartikel richtet: »Wenn Sie einen Kriminalroman aufschneiden, dann wissen Sie genau, was Sie wollen. Eine Überraschung verbitten Sie sich.«
Die äußere Existenz des Feuilletonromans als literarischer Markenartikel von standardisierter und möglichst reproduzierbarer Qualität führt zur Typisierung und Schematisierung der Charaktere und Handlungen schon, bevor der Held Phil Marlowe heißt und stets von den gleichen Halunken bedroht wird.
Seit 1829 gab es den Feuilletonroman, und zuerst wurde er nur von monatlich erscheinenden Zeitschriften gedruckt, von der »Revue de Paris« und der »Revue des deux Mondes«. Als im Jahre 1836 die Tageszeitung »La Presse« das Genre übernimmt, verschärft sich ein weiterer, den Feuilletonroman bestimmender formaler Zwang: Das Abbrechen der Erzählung am Ende jeder Fortsetzung stellt die Aufgabe, jedes Mal einen Effekt zu schaffen, der dem Leser auf die nächste Folge Appetit macht. Von einem einzigen großen Spannungsbogen allein lebt keine Geschichte mehr, die Autoren mussten sich was einfallen lassen, und zweifellos war der Zwang zur größeren Spannungsdichte auch ein Gewinn für die Literatur. Weil das, was einmal gedruckt wurde, nicht mit Rücksicht darauf zurückgenommen werden kann, dass der Autor im Verlauf der Arbeit den ursprünglichen, vagen Plan präzisiert und modifiziert, bleibt einerseits zwar bisweilen die Konstruktion auf der Strecke. Andererseits aber bildet der Zwang, jede Geschichte zu einem Ende bringen zu müssen, erst den souveränen literarischen Profi heran, der im harten Schundgeschäft die Virtuosität erwarb, welche im 19. und noch mehr im 20. Jahrhundert den Schriftsteller vom Kleinkunstgewerbetreibenden unterscheidet.
Rezepte, wie erfolgreiche Romane hingesudelt werden müssen, hat Balzac im »Chagrinleder« und in den »Verlorenen Illusionen« oft beschrieben, und um die pietätlose, unandächtige, neudeutsch: zynische Art, wie er vom literarischen Wirken und Schaffen, namentlich seinem eigenen, sprach, ranken sich zahlreiche Anekdoten, z.B. die folgende, von Françoise d'Eaubonne berichtet und kommentiert:
Als während eines großen Abendessens die Gäste wünschten, daß er über Kunst und Literatur spräche, erzählte Balzac des langen und breiten zur Unbehaglichkeit aller Anwesenden, welche Intrigen er spann, um sein Werk auf das beste anzubringen! Man versteht, daß die Spitzen der Gesellschaft ihn für grob und vulgär erklärten. Er getraute sich, ganz offen zu sagen, was man tut, worüber man aber niemals spricht! Selbst Flaubert ist in seiner Korrespondenz darüber erstaunt. Wie wenig Liebe zum Schönen und wie viel Liebe zum Geld denkt er. Aber so spricht ein Rentier. Zwar ein kleiner Rentier und einer, der auf fast alle menschlichen Freuden aus heroischer Liebe zur Literatur verzichtet hat, gewiß, aber eben doch ein Rentier, der es nicht nötig hat, zum Brotverdienen seine Arbeitskraft zu verkaufen.
Ganz ähnlich lautet der Bericht über eine andere wahre oder doch zumindest sehr gut erfundene Begebenheit:
Bei einem großen Essen waren alle Eingeladenen begierig, die erhabenen Betrachtungen zu vernehmen, deren er fähig wäre. Balzac erging sich lange über ... Verträge und geplante Kombinationen zur Ausbeutung seines Werkes. Nach einer Weile konnte seine Gastgeberin – eine vornehme Ausländerin – sich nicht mehr zurückhalten: »In Ihrem Land scheint mir die Literatur ebenso ein Objekt der Spekulation wie eine Kunst zu sein!« Daraufhin Balzac: »Sie ist nur noch ein Spekulationsobjekt!« Man hatte schon ähnliche Ideen von ihm vernommen, aber vielleicht hatte er seinen Gedanken noch nie so freien Lauf gegeben. Das Einzige, was er zu erwähnen vergaß, war die große Mühe, die er sich gab, und die Gewissenhaftigkeit, mit der er seinem Genie diente.
Seinem Genie – wenn es denn so etwas gab – hat Balzac zwar weniger gedient, als dass er es vielmehr ruinierte; mit außerordentlicher und im Wortsinne aufopfernder Hingabe aber hat er seine Romanmanuskripte gehätschelt. Wie später Proust, so muss Balzac damals, als es noch keine Schreibmaschinen gab, der Schrecken aller Schriftsetzer gewesen sein. Den ersten Fahnenabzug behandelte er als Rohmanuskript, und die Änderungen und Ergänzungen, die er darauf anbrachte, waren oft umfangreicher als der gedruckte Text. Mindestens vier und bis zu sieben Fahnenabzüge waren nötig, ehe Balzac seine Romantexte für den Druck freigab.
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