Читать книгу: «Blutrot ist die Heide», страница 3

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Felix


Es war dunkel im Kinderzimmer. Felix lag in seinem Hochbett und lauschte. Musik aus dem Wohnzimmer drang leise zu ihm herüber.

Wahrscheinlich schauen meine Eltern irgend so eine dieser blöden Musiksendungen, dachte er.

Es war schon eine gefühlte Ewigkeit her, seitdem seine Mutter ihm heute den „Gute-Nacht-Kuss“ gegeben hatte. Sein Vater kam nie zu ihm ans Bett, um „gute Nacht“ zu sagen. Meistens sagte er nur einfach „Nacht, Felix“, wenn Felix an ihm vorbei ins Kinderzimmer ging. Dabei schaute er ihn noch nicht einmal an. Das Programm im Fernsehen schien immer wichtiger zu sein. Felix hatte gelernt, diese Kälte zu erwidern. Er ging nie zu seinem Vater. Weder abends, wenn er ins Bett ging, noch bei sonstigen Gelegenheiten tagsüber. Seine Mutter war die Ansprechperson für ihn – und nur ausschließlich sie.

Zu seinem achten Geburtstag hatte sein Vater ihm einen Zwerghamster geschenkt. Ohne Käfig. Lieblos - nur in einem winzigen Karton. Dann hatte er sich wie immer mit einer Flasche Bier vors Fernsehgerät gehockt. Über seinen Geburtstag oder über den Hamster verlor er kein Wort mehr.

Felix hatte sich nie einen Hamster gewünscht. Sein Vater hatte seiner Mutter erklärte, dass ein Hamster das Einsteigetier für jedes Kind wäre.

„Er braucht wenig Platz und vor allem: er lebt nicht lange“, waren seine überzeugenden Worte.

Wo sollte Felix den Hamster lassen? Seinen Vater interessierte das recht wenig. Lediglich seine Mutter versuchte ihm zu helfen. Sie holte als Notunterkunft für das kleine Tier einen alten Vogelkäfig aus dem Keller. Die Seiten kleidete sie mit engmaschigem Kaninchendraht aus, den sie ebenfalls im Keller fand. In einer Höhe von ungefähr zwanzig Zentimetern befestigte sie eine dünne Holzplatte zwischen den Streben des Käfigs. Zwerghamster klettern gerne an den Gitterstäben empor und lassen sich von dort aus fallen. Daher darf der Käfig nicht zu hoch sein. Das war vor fünf Wochen – und dabei blieb es bis heute.

Für die Versorgung und Ernährung war Felix verantwortlich. Er besorgte Heu, das er alle paar Tage wechselte, wenn er denn daran dachte. Wenn es mal wieder in seinem Zimmer zu sehr stank, war sein Vater der erste, der ihn deshalb anmeckerte und mit Strafe drohte, wenn er den Käfig nicht sofort säuberte.

Seine Mutter schenkte ihm eine kleine Schale für Wasser, das er täglich wechseln sollte. Auch für das Futter musste er selbst sorgen. Löwenzahnblätter von der Wiese im nahen Park. Manchmal nahm er auch ein Stück Salatgurke, eine Möhre oder ein Stück Apfel von seinem Essen für den Hamster. Von seinem geringen Taschengeld sollte er hin und wieder im Zoohandel spezielles Körnerfutter kaufen. Heimlich, ohne dass sein Vater es bemerkte, kaufte meistens seine Mutter das Futter. Dafür erhielt sie dann aus Dankbarkeit einen besonders dicken Kuss.

Der Hamster, die damit verbundene Arbeit und Verantwortung war das Geschenk seines Vaters, über das er sich riesig bis zu seinem nächsten Geburtstag freuen sollte.

Inzwischen hasste er den Hamster, der natürlich nichts dafür konnte.

Am vergangenen Samstag kam sein Vater von einer mehrtägigen Montagereise zurück.

„Ich habe meinem lieben Felix auch etwas für seinen armen Hamster mitgebracht“, überraschte er Felix.

Felix nahm das hämische Grinsen seines Vaters genau wahr, als er ihm als Willkommensgeschenk zu allem Überfluss ein Laufrad schenkte. Felix warf das Geschenk wütend auf den Boden und lief weinend aus dem Zimmer. Am nächsten Tag versuchte seine Mutter nette Worte für seinen Vater zu finden und Felix zu einer gewissen Freude über das Geschenk zu überreden. Schließlich brachte sie selbst das Laufrad im Käfig an.

Jetzt lag Felix in seinem Bett und starrte in die Finsternis des Zimmers, und in seinen Gedanken beschäftigte er sich mit seiner Mutter, die er über alles liebte, mit seinem Vater, den er hasste, insbesondere jedoch mit dem grässlichen Hamster.

Wenn er auch schlafen wollte, das monotone Drehen des Laufrades im Hamsterkäfig machte das unmöglich. Das nachtaktive Tier hatte jetzt ein Gerät, womit es seinen Bewegungsdrang befriedigen konnte.

Felix hatte sich in Wut gedacht und sprang auf, kletterte die Leiter aus dem Hochbett hinab und tastete sich im Dunkeln zum Hamsterkäfig. Er öffnete die Türe und nahm den Hamster in seine Hand.

Ein Hamster hat keinen Höhensinn. Er merkt nicht, ob es aus der Situation zehn Zentimeter oder einen Meter nach unten geht. Man stelle sich die kleinen Knochen vor, wie dünn und zerbrechlich die sind. Ein Sturz aus einem Meter Höhe ist für einen Hamster wie ein Sturz aus dem zweiten Stock für uns Menschen. Wenn er sich bedroht fühlt, beißt er oder will weg, und dann springt er einfach. Unten an, kommt man bestimmt. So primitiv denkt ein Hamster.

Felix Hamster fühlte sich nicht bedroht. Er kauerte sich in der hohlen Hand. Er biss nicht und er sprang nicht.

Felix streichelte ihm mit der anderen Hand zärtlich über den Rücken.

Dann öffnete er seine Hand zu einer geraden Fläche. Der Hamster blieb zusammengekauert sitzen. Unverhofft warf er das kleine Tier mit Schwung in die Höhe.

Ein leises Aufklatschen auf dem Laminatboden entlockte Felix ein breites, lautloses Grinsen.

In der Dunkelheit suchte er den Fußboden nach dem Tier ab. Es dauerte nur wenige Augenblicke, bis er das tote Tier gefunden hatte. Behutsam, als wenn er mit zu groben Bewegungen das Tier wieder zum Leben erwecken würde, legte er es in den Käfig.

Was für ein schrecklicher Unfall, dachte er. Hat sich der Hamster im Käfig doch selbst umgebracht!

Zufrieden legte er sich ins Bett. Ein Lächeln blieb noch lange, nachdem er eingeschlafen war, auf seinem Gesicht.

Dienstag, 8:15 Uhr


Ronni kam heute Morgen später als gewöhnlich ins Präsidium. Auf dem Flur zum Büro begegnete ihm Sybille Baum, die Büroangestellte, die ihren Arbeitsplatz im gleichen Büroraum hatte.

„Guten Morgen, Ronni. Du bis spät dran. Er sitzt bereits seit über einer Stunde am Schreibtisch“, war die erste Information, die er heute von ihr erhielt.

„Morgen, Sybille. Mit ‚er‘ meinst du bestimmt unseren Chef?“

„Na klar, wen denn sonst. Er sitzt da und schaut sich unablässig fürchterliche Bilder vom Toten von gestern an.“

„Danke, Sybille“, sagte Ronni, ohne auf ihre Information über Frank einzugehen.

Er setzte sein freundlichstes Lächeln auf, denn er wusste, dass das Sybille für die nächsten Stunden in äußerst gute Laune versetzen würde. Eilig ging er die letzten Meter zum Büro.

„Guten Morgen, Frank. Ich sehe, du bist bereits fleißig?“, sagte er mehr fragend als feststellend, nachdem er die Türe hinter sich geschlossen hatte.

„Morgen“, war Eisensteins einsilbige Antwort.

„Immer diese Gewalt, die wir uns ansehen müssen“, klagte er.

Er fuhr sich mit beiden Handflächen durch das Gesicht und lehnte sich im Stuhl zurück.

„Wir haben noch keinen Bericht von der Obduktion. Aber sieh‘ dir trotzdem diese Bilder einmal genau an und sag mir, was dir auffällt.“

Ronni setzte sich auf den Besucherstuhl auf der anderen Seite von Eisensteins Schreibtisch und nahm sich den Stapel Bilder. Aufmerksam betrachtete er jedes Bild. Eisenstein sagte nichts dazu. Er beobachtete seinen Kollegen interessiert, wie er die Bilder ein ums andere Mal durchsah.

Alle Bilder zeigten eine männliche Leiche, blasses Gesicht, schwarze Shorts, blutgetränktes weißes T-Shirt. Die acht Einstiche waren wegen des Blutes kaum erkennbar. Der linke Arm lag seitlich vom Körper, wogegen der rechte Arm nach hinten über den Kopf hinaus ragte. Am rechten Handgelenk trug der Tote eine schwarze Digitaluhr mit Stopp- und anderen Funktionen. Einen Ehering trug er nicht – das jedoch nicht unbedingt etwas zu sagen hatte. Verletzungen an Armen, Beinen und am Kopf waren nicht zu sehen. An beiden Armen befanden sich lediglich Blutspritzer, die höchstwahrscheinlich durch die vielen Einstiche am Oberkörper entstanden waren.

„Mir fällt nichts Besonderes auf. Die Menge der Einstiche lässt auf eine große Wut des Täters schließen“, sagte Ronni schließlich.

„Richtig. Das ist ein Jogger. Der läuft durch die Heide und dann soll jemand plötzlich vor ihm auftauchen und ihm acht Mal ein Küchenmesser in den Oberkörper rammen? Und der Jogger bleibt dabei unbeweglich stehen?“

Eisenstein sah Ronni eindringlich an.

„Du hast Recht. Das T-Shirt ist nicht zerrissen. Hätte sich der Mann gewehrt oder hätte er sich gedreht oder irgendwie bewegt, wäre das T-Shirt eingerissen. Außerdem versuchst du doch wegzurennen, wenn jemand mit einem Messer vor dir steht. Wäre der Täter von hinten gekommen, wären vermutlich die Stiche im Rücken. Das können wir demnach ausschließen“, kombinierte Ronni.

„Es sieht doch fast so aus, als hätte das Opfer auf dem Boden gelegen und der Täter hat dann wie wild auf ihn eingestochen. Oder das Opfer hat gestanden und eine weitere Person hat ihn festgehalten, während die andere Person auf ihn eingestochen hat. Dann muss es sich bei der Person, die das Opfer festhielt, um eine sehr kräftige Person gehandelt haben, denn wenn einer mit einem Messer vor dir steht, wirst du dich mit aller Kraft wehren.“

Eisenstein hatte sich im Drehstuhl zurück gelehnt und starrte an die Zimmerdecke.

Ja, denn wenn es um dein Leben geht, wachsen einem ungeahnte Kräfte“, ergänze Ronni.

„Ach, ich weiß nicht? Zwei Täter? Wenn zwei Personen einen Mord ausführen, bedeutet das für beide immer ein erhöhtes Risiko. “

Eisenstein schüttelte den Kopf.

„Hier, nimm einmal dieses Messer und tu so, als ob du zustichst.“

Eisenstein nahm ein langes Küchenmesser aus der Schublade und hielt es Ronni hin. Dabei baute er sich in voller Größe vor ihm auf.

„Wo hast du denn das Messer her?“, fragte Ronni ungläubig und starrte das Fleischmesser an.

„Aus unserer kleinen Küche nebenan natürlich“, antwortete Eisenstein wie selbstverständlich.

Kopfschüttelnd nahm Ronni das Messer in die rechte Hand.

„Und jetzt soll ich so tun, als ob ich zusteche?“

„Ja, sei nicht so ängstlich. Du musst ja nur so tun und nicht tatsächlich zustechen“, lachte Eisenstein.

Ronni simulierte einen Stich in Franks Bauchgegend. Eisenstein packte blitzschnell zu und hielt das Handgelenk mit dem Messer fest.

„Siehst du? Die scharfe Klinge zeigt nach unten und der Einstich würde demnach senkrecht verlaufen. Die Einstiche bei unserem Toten verlaufen aber waagerecht. Das bedeutet, der Täter hat wahrscheinlich von der Seite aus zugestochen. Womöglich hat er neben dem am Boden liegenden Opfer gekniet und dann zugestochen“, folgerte Eisenstein.

Ronni zeigte sich beeindruckt. Eisenstein ließ sein Handgelenk los und Ronni legte das Messer auf den Schreibtisch.

„Um acht Mal so tief in einen Körper einzustechen, dass drei Stiche sofort tödlich sind, braucht man Kraft. Vielleicht hat der Täter das Messer mit beiden Händen gehalten oder es muss ein kräftiger Mann gewesen sein, der auf den am Boden liegenden Körper eingestochen hat“, überlegte Ronni weiter, der inzwischen Eisensteins Theorie folgte.

„Anderseits legt sich ein Jogger nicht freiwillig auf den Boden. Eine Kopfwunde, die auf einen Niederschlag hindeutet, ist nicht vorhanden. Ich denke, wir müssen das Ergebnis der Obduktion abwarten. Vielleicht erhalten wir neue Informationen, die uns weiterhelfen. Weiß du, wann wir das Ergebnis erhalten?“, fragte Eisenstein und beendete damit seine Mutmaßungen.

„Eventuell bereits heute. Susanne wollte sich beeilen und diesen Fall vorziehen.“

„Susanne? Sag bloß, Susanne bearbeitet den Fall? Das hat mir noch gefehlt.“

Frank Eisensteins Miene verdunkelte sich merklich.

„Ja und? Sie hat sich auch nach dir erkundigt. Vielleicht meldet sie sich demnächst bei dir. Privat, meine ich“, setzte Ronni noch eins drauf.

Jetzt schien Franks gute Laune restlos dahin zu sein.

„Du weißt doch: ich will mit Susanne nichts mehr zu tun haben. Du kannst jederzeit mit ihr über den Fall sprechen, ich werde mich dabei zurückhalten. Und privat, wie du das nennst, will ich erst recht nicht mit ihr sprechen.“

Eisenstein stand auf und ging zur Bürotür. Dort drehte er sich nochmals um.

„Hör du dich mal in der Laufszene um. Ich hab etwas zu besorgen. Privat“, sagte er und warf die Tür hinter sich zu.

„Verdammt. Du sturer Hund!“, entfuhr es Ronni und er schlug mit der Hand auf den Schreitisch, so dass die Bilder, die er sich vorher angesehen hatte, kreuz und quer über den Schreibtisch und auf den Boden fielen.


Ronnis Ziel war der Troisdorfer Stadtteil Altenrath. Hier wollte er damit beginnen, die Identität des Ermordeten festzustellen. Er fuhr vom Polizeipräsidium in Bonn über die A59 nach Troisdorf und von dort über die Altenrather Straße bis Altenrath. Dies ist der Stadtteil, der am weitesten vom Troisdorfer Zentrum entfernt ist und am Rande der Wahner Heide liegt. Als er am Leichenfundort an der Altenrather Straße vorbei kam, fuhr er ein wenig langsamer und schaute in diesen Teil der Heide hinein. Die örtliche Polizei hatte die Absperrungen inzwischen entfernt und nichts erinnerte mehr an den gestrigen Leichenfund. Heute schien die Sonne und die violetten Heidekräuter leuchteten bis zur Straße herüber.

Das letzte Stück der Straße bis Altenrath nannte man „Panzerstraße“ und Ronni fand, dass die Straße diesen Namen verdient hatte. Anscheinend war die Straße nur für Panzer gut befahrbar. Für normale Autos schien sie nicht geeignet zu sein. Der Asphaltbelag hatte in großflächige Betonplatten gewechselt, die eine Menge Schadstellen aufwiesen. Der Wagen rumpelte über die Straße und Ronni musste die Geschwindigkeit drosseln. Vor Altenrath fuhr er in einen Kreisverkehr. Er war froh, wieder auf einer normal asphaltierten Straße zu fahren.

Direkt nach dem Verlassen des Kreisverkehrs lenkte er seinen Wagen auf einen großen Parkplatz am Ortseingang.

Er hatte im Internet gelesen, dass es in Troisdorf drei Lauftreffs gab. Einen in Spich, einen anderen in Troisdorf-Zentrum und einen Lauftreff in Altenrath. Es stellte sich die Frage, welchen Verein er zuerst aufsuchen sollte. Die Leiche wurde in der Wahner Heide gefunden und Altenrath lag direkt in der Wahner Heide. Daher war es für ihn logisch, zuerst den Lauftreff in Altenrath aufzusuchen. Laut den Angaben im Internet trafen sich die Mitglieder zwei Mal in der Woche, mittwochs und samstags. Heute war Dienstag. Vielleicht hatte er Glück und er würde trotzdem einen Läufer antreffen. Andernfalls musste er Passanten befragen oder Einwohner in ihren Häusern aufsuchen.

Ronni stieg aus seinem Wagen, lehnte sich gegen die Wagentüre und wartete eine Weile. Kein Läufer kam vorbei. Wie sollten sie auch. Es war Mittagszeit, die Sonne stand am höchsten Punkt und es war heiß. Mit Sicherheit keine gesunde Laufzeit.

Plötzlich wurde er durch einen fürchterlichen Lärm aus seinen Gedanken gerissen. Ein Flugzeug überflog im Landeanflug in geringer Höhe den Ortsrand von Altenrath.

Das ist ja schrecklich, dachte er.

Aber die Bewohner des Ortes würden daran gewöhnt sein. Sie wohnten schließlich in der Einflugschneise des Köln-Bonner Flughafens und dieser Lärm kam vermutlich oft am Tag vor.

Er wollte sich gerade zu Fuß in das Zentrum des Ortes aufmachen, als er vom Kreisverkehr her einen alten Mann mit seinem Hund auf sich zukommen sah.

„Guten Tag, haben Sie einen Augenblick Zeit?“, fragte der Kommissar, als der Mann ihn erreicht hatte.

„Was wollen Sie denn wissen. Sie sind nicht von hier, nicht wahr?“, stellte der Hundebesitzer direkt eine Gegenfrage.

Ronni zeigte ihm seinen Dienstausweis.

„Mein Name ist Ronni Kern und ich bin Kommissar der Mordkommission Bonn. Ich habe da eine Frage. Kennen Sie diesen Mann?“

„Ah, es geht um den Toten, den man gestern dort unten bei Troisdorf gefunden hat. Ich habe es heute Morgen in der Zeitung gelesen. Schlimme Sache. Noch nicht einmal beim Laufen ist man sicher. Und die Zeitung hat auch kein Bild vom Toten veröffentlich. Wer war es denn?“

„Ja, genau. Das wollte ich gerade Sie fragen“, unterbrach Ronni den Mann.

Dabei zeigte er ein Foto des Toten.

„Mann, wie sieht der denn aus?“

Der alte Mann wandte seinen Kopf ab und zog die Stirn in Falten.

„Nun ja, er ist nun mal tot. Und Tote sehen nicht besonders hübsch aus“, antwortete Ronni und startete einen neuen Versuch.

„Schauen Sie bitte trotzdem noch ein Mal genau hin. Kennen Sie diesen Mann?“

Der Alte nahm dem Kommissar das Foto aus der Hand und hielt es mit ausgestreckten Armen vor seine Augen.

„Wissen Sie, ich habe meine Brille nicht dabei. Wenn ich meinen Hund ausführe, habe ich die nie dabei. Er ist schon alt und ich muss morgens ganz früh, mittags und abends mit ihm Gassi gehen.“

„Versuchen Sie es bitte. Kennen Sie ihn?“, unterbrach ihn Ronni erneut.

„Ja, ja. Das kann der Belgier sein. De Graaf heißt der. Wissen Sie, hier im Ort leben noch viele Belgier. Das hängt mit dem Truppenübungsplatz zusammen. Vor zehn Jahren ist das belgische Militär abgezogen und …“

„Ich muss Sie leider nochmals unterbrechen. Wissen Sie auch, wo dieser de Graaf wohnt, ich meine wohnte?“

„Na klar. Drüben im Ort. Ganz in der Nähe von St. Georg, unserer Kirche. Der Kern unserer Kirche ist übrigens aus dem 12. Jahrhundert.“

„Würden Sie mir den Weg zeigen?“

„Natürlich, der Polizei helfe ich gerne. Ich muss sowieso dorthin. Kommen Sie mit. Komm altes Mädchen“, sagte der alte Mann zu seinem Hund und ging bereits vorweg.

Ronni schloss seinen Wagen ab und folgte mit einigen Metern Abstand. Er wollte damit vermeiden, sich womöglich ungefragt die Lebensgeschichte des Alten anhören zu müssen. Seinen Weggefährten schien das nicht zu stören. Lauthals erkläre er, wer in jedem Haus wohnte, an dem sie vorbei gingen und wie sich die verwandtschaftlichen Verhältnisse der Hauseigentümer und deren Nachbarn darstellten.

Vor einem großen Einfamilienhaus hielt der Mann an.

„So, wir sind da. Hier wohnte er. Zur Untermiete. Der hatte keine Familie mehr – geschieden, keine Kinder, verstehen Sie?“

„Vielen Dank für Ihre Hilfe. Ich glaube, jetzt komme ich allein zurecht“, sagte Ronni und gab dem Alten zum Abschied die Hand.

„Ja, ich muss auch nach Hause. Meine Frau wartet bestimmt schon mit dem Essen auf mich. Und finden Sie den Mörder, sonst ist man ja hier nicht mehr sicher.“

Er drehte sich um und ging den Weg zurück, den er mit Ronni gekommen war. Dabei redete er weiter vor sich hin, vielleicht aber auch zu seinem Hund.

Auf dem oberen Klingelschild stand der Name „Bruckmann“. Auf dem unteren „de Graaf“. Ronni betätigte die Klingel neben dem Namen „Bruckmann“. Eine hagere Frau öffnete die Türe. Die zu einem Pferdeschwanz zusammen gebundenen, braunen Haare ließen sie noch hagerer erscheinen. Sie war ungefähr fünfzig Jahre alt, vielleicht auch jünger.

Ronni Kern stellte sich vor und erklärte ihr in kurzen Zügen worum es ging.

„Dürfte ich mir die Wohnung von Herrn de Graaf ansehen. Wir müssen uns ein Bild des Verstorbenen machen. Vielleicht können Sie mir danach einige Fragen beantworten? Zur Unterstützung werde ich einige Kollegen anfordern.“

„Ja, natürlich. Herr de Graf wohnt in der Souterrain-Wohnung. Folgen Sie mir bitte. Ich habe einen Schlüssel und werde Ihnen die Wohnung öffnen. Wie lange werden Sie sich in der Wohnung umsehen? Ich habe in einer Stunde einen Friseurtermin.“

„Meine Kollegen werden in ungefähr fünfundvierzig Minuten hier sein. Es wird schon einige Zeit dauern. Aber wir werden uns beeilen. Vielleicht können Sie den Termin verschieben?“

„Ja, das geht bestimmt. Ich rufe mal eben dort an.“

Sie ging ins Haus, Ronni folgte ihr und wartete im Flur, während Frau Bruckmann im Wohnzimmer mit dem Friseur telefonierte.

„Es ist in Ordnung. Ich habe den Termin verschoben. Kommen Sie.“

In der Hand hielt sie einen Schlüssel, den sie aus dem Wohnzimmer mitgebracht hatte. Ronni folgte ihr die Treppe hinunter. Sie öffnete die Wohnungstür zu de Graafs Wohnung und machte für den Kommissar Platz.

„Schauen Sie sich nur um. Wenn Sie mich suchen, ich bin oben im Wohnzimmer“, sagte sie, drehte sich um und ging schnell die Treppe hoch.

Ronni bemerkte nicht, dass Tränen in ihren Augen standen.

Er betrat die Wohnung und stand sofort im Wohnzimmer. Ein Flur war nicht vorhanden. An einer Seite des Zimmers war eine kleine Küchenzeile angebracht. Davor eine Esstheke mit drei Barhockern. Ronni schaute aus dem Fenster und konnte davor eine kleine Terrasse ausmachen, von der eine Treppe zum höher gelegenen Rasen des Hauses führte. Durch eine Tür gelangte man vom Wohnzimmer in ein kleines Schlafzimmer, in dem lediglich ein Bett und ein kleiner Kleiderschrank standen. Am Schlafzimmer schloss sich ein Badezimmer mit Toilette und Dusche an. Eine normale Wohnung von maximal fünfzig bis fünfundfünfzig Quadratmetern, ausreichend für eine Person. Ronni ging durch alle Räume und schaute sich aufmerksam um. Die Wohnung war sauber und aufgeräumt, lediglich im Schlafzimmer lagen einige Kleidungsstücke auf dem Bett und davor stand ein Paar Straßenschuhe. Vermutlich waren das die Kleidungsstücke, die de Graaf anhatte, bevor er zum Joggen ging.

Ronni fasste nichts an. Er wollte mögliche Spuren nicht verwischen. Irgendwelche Hinweise oder Besonderheiten konnte er in der Wohnung nicht erkennen.

Danach ging er hoch ins Wohnzimmer. Frau Bruckmann saß im Sessel und blätterte in einer Illustrierten.

Die Frau konnte oder wollte nur wenig über den Jogger berichten. Vor fast einem Jahr war ihr Mann plötzlich durch einen Herzinfarkt verstorben. Danach wollte sie das für sie viel zu große Haus schweren Herzens verkaufen. Sie war schließlich froh, als de Graaf sie fragte, ob sie die Souterrainwohnung vermieten würde. De Graaf war seit einigen Monaten geschieden. Kinder hatte er keine. Die alte Wohnung war ihm für sich alleine viel zu groß und zu teuer. Die Einliegerwohnung bei Frau Bruckmann entsprach dagegen genau seinen Vorstellungen. Wenn die Miete angemessen wäre, wollte er auch gerne die Gartenarbeit und kleinere Reparaturarbeiten für sie übernehmen. Dieser Aspekt gefiel Frau Bruckmann, denn besonders die Gartenarbeit war nicht ihr Ding. Nach einigen Tagen Überlegung vermietete sie ihm die Wohnung und vor ungefähr einem halben Jahr war de Graaf eingezogen. Natürlich sorgte das im Ort für Gesprächsstoff. Manche Dorfbewohner dichteten ihr sofort ein Verhältnis an – und das in der Trauerzeit. Ronni wollte genau wissen, was an diesen Gerüchten dran war und fragte sie direkt.

„Nein, da war natürlich nichts“, antwortete Frau Bruckmann nicht unbedingt überzeugend.

Er glaubte ihr das nicht ganz, denn bei seiner Frage wirkte sie reichlich verlegen. Sollte er weiter nachfragen? Er konnte sich nicht vorstellen, dass Frau Bruckmann oder das Verhältnis de Graafs zu ihr etwas mit dem Fall zu tun haben könnte. Daher beließ er es bei dem, was er bisher erfahren hatte.

Es dauerte fast eine Stunde, ehe eine Frau und zwei Männer der Spurensicherung eintrafen. Es war nicht die übliche Spurensicherung, wie an einem Tatort, aber Ronni hatte die Hoffnung, dass doch ein Detail gefunden wurde, das ihm jetzt oder möglicherweise auch später weiterhelfen konnte. Immerhin war noch nicht der Tatort gefunden, an dem de Graaf umgebracht wurde. Er nahm zwar nicht an, dass die Wohnung der Tatort war, aber man konnte nie wissen. Auch wollte er die Fingerabdrücke sicherstellen, die sich in der Wohnung befanden. Womöglich war es zu einem späteren Zeitpunkt wichtig zu beweisen, wen de Graaf kannte und wer in seiner Wohnung war.

Die Kollegin und die beiden Kollegen nahmen sofort nach ihrer Ankunft ihre Arbeit auf und Ronni verabschiedete sich bei Frau Bruckmann.

Er würde morgen in aller Frühe das Ergebnis auf seinem Schreibtisch haben. Dann könnte er mit Eisenstein alles Weitere besprechen, falls dieser überhaupt zum Dienst erschien. Er hatte da seine Zweifel nach dem heutigen Abgang.

Wieder im Büro, beauftragte er seine Mitarbeiterin Sybille Baum, alles über de Graaf in Erfahrung zu bringen. Hatte jemand ein Motiv ihn umzubringen? Er musste sich ein Bild von diesem Mann machen. Familie, Freunde, Arbeitskollegen, was war das für ein Mann? Wer er beliebt? Hatte er Feinde? Wie war sein bisheriges Leben verlaufen? Einfach alles.

Dieser Auftrag war bei Sybille in guten Händen. Sie war gründlich und hatte viele Ideen, wie man alles über einen Menschen in Erfahrung bringen konnte.

Nachdem Frank Eisenstein heute Morgen das Büro angeblich wegen einer privaten Besorgung verlassen hatte, hatte ihn niemand mehr im Präsidium gesehen. Ronni beendete ebenfalls seinen Arbeitstag und fuhr nach Hause.

Sein erster Impuls war, auf dem Nachhauseweg bei Frank vorbeizufahren, um zu hören, wieso er nicht mehr ins Büro gekommen war.

Letztendlich entschied er sich dagegen. Unter Umständen hatte Frank wieder getrunken und ein vernünftiges Gespräch wäre dann sowieso nicht möglich.

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