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Ein Dorf im Moor in den 50er Jahren, ein Bauernhof heute – und wie das Weltgeschehen das Leben der Menschen auf dem Land veränderte. Davon erzählt Uta Ruge am Beispiel ihres Dorfes und ihres Bruders.

Seit ein paar Tagen stehe ich morgens um sechs mit allen auf, um zu sehen, zu hören und zu riechen, wie sich Landwirtschaft heute anfühlt auf dem Hof, auf dem ich aufgewachsen bin. Ich ziehe die Stallklamotten an und gehe nach draußen. Mir fällt auf, dass ich den Blick hier nicht heben muss, um den Himmel zu sehen. Ob es regnet oder bald regnen wird, wie der Wind geht, ist sofort gewusst, in Auge, Ohr und Nase eingeströmt. Uta Ruge verwebt in Bauern, Land. Die Geschichte meines Dorfes im Weltzusammenhang die Erinnerung an das Leben auf dem Lande in den 50er Jahren mit der genauen Beobachtung der Veränderungen in der Landwirtschaft heute, mit der Chronik des Dorfes, den welthistorischen Zusammenhängen und der Kulturgeschichte, die das Leben der Bauern geprägt haben und prägen. Sie erzählt von harter Arbeit und Abhängigkeit, von der Besiedelung des Moors, von Entwässerung und den Zumutungen der Obrigkeit und der Bürokratie, von Armut und Auswanderung. Aber auch davon, wie man sich gegenseitig unterstützt und hilft und zusammen feiert, von dem Eifer der kleinen Kinder, die den Eltern zur Hand gehen und lernen, dass gegen Arbeit nichts hilft, außer sie zu tun.

Über die Autorin

Uta Ruge, auf Rügen geboren, wuchs nach der Flucht der Familie als Bauerntochter in einem norddeutschen Dorf auf, studierte Germanistik und Politik in Marburg und Berlin, arbeitete im Rotbuch Verlag und bei der TAZ in Berlin und lebte von 1985 bis 1998 als freie Rundfunkautorin und Mitarbeiterin der internationalen Zeitschrift Index-on-Censorship in London. 2003 erschien Windland – Eine deutsche Familie auf Rügen. Sie lebt in Berlin.

UTA RUGE

BAUERN,
LAND

Die Geschichte

meines Dorfes im

Weltzusammenhang

Verlag Antje Kunstmann

für Arnd, Irene und Jens

INHALT

1. Anfänge

1. HEUTE Die Stimmung auf dem Hof meines Bruders.

2. DAMALS Warum ein Bauer aus der Stadt einen Hofsuchte. Ankunft am Ende der Welt. Das Gesetz der Moorbauern.

3. MITTE 18. JAHRHUNDERT Was die Schulchronik sagt und was sie verschweigt. Wem gehört das Moor? Als Torfstecher nach Holland.

4. DAMALS Aus einem Stall wird eine Kirche, dann ein Tanzsaal. Wie man im Winter auf Schlittschuhen überallhin kommt.

5. 18. JAHRHUNDERT Was Goethe über Bauern denkt und warum über die englische Landwirtschaft ein Buch geschrieben werden musste. Ein Arzt aus Celle wird Musterlandwirt.

6. ENDE DES 18. JAHRHUNDERTS Protokolle der Moorkonferenzen reisen per Pferdekutsche nach London. Die ersten Anbauer, Aschedüngung und Buchweizensaat.

7. DAMALS Als meine Mutter versuchte, ein Beet anzulegen.

8. HEUTE Anna und ich singen ein Lied von 1783. Schön und falsch ist das Bild vom Land. Warum Wolfsexperten sich wundern.

9. 18.–19. JAHRHUNDERT Wie man mit Torf Fundamente baute und Häuser zum Schwimmen brachte.

10. ENDE DES 18. JAHRHUNDERTS Goethes Eckermann als Kind. Die Dorfschule und Streit um Kirchenplätze für Moorbauern.

11. DAMALS Kinderarbeit und Kinderträume. Was wir mit dem Körper lernten und dass Arbeit getan werden musste.

12. DAMALS Wie unsere Eltern Moornachbarschaft kennenlernen.

ERSTES ZWISCHENSPIEL Warum Vergil das Landleben über den grünen Klee lobte und Johann Heinrich Voß ihm glaubte. Wie die Antike den Boden unter den Füßen verlor.

2. Tiefer ins Moor und in die Geschichte

13. HEUTE Wenn Milch- und Bodenpreise die Stimmung verderben.

14. 1783 Was die Amtmänner an den neuen Anbauern im Bachenbrucher Mohr stört – ein Schriftwechsel über manche Inconvenzien und unziemliche Bedrohungen.

15. 18. JAHRHUNDERT Familie Lafrenz im Kirchenbuch. Johann Heinrich Voß drängt auf die erste Pockenimpfung im Hadelner Land.

16. HEUTE Mein Bruder erzählt mir beim Maislegen etwas über Biotope und Bodenverbrauch. Ich fahre wieder Trecker, aber durch ein leeres Dorf.

17. 1803 Vom Kriegführen. Die Hadelner sind schlechte Soldaten, weil Kost und Lebensart bei dem Militär sie in wenigen Tagen krank macht.

18. ANFANG 19. JAHRHUNDERT Als der Code Civil ins Moor kam und Bauer Lafrenz mit Napoleon nach Russland ziehen musste.

19. HEUTE Silofahren im Regen und nächtliche Stallarbeit. Waldemar fährt mit mir durchs abgetorfte Moor.

20. DAMALS Was wir in der Schule lernten und was auf dem Weg dorthin.

ZWEITES ZWISCHENSPIEL Warum Karl der Große die freien Bauern abschaffte. Über den Körper der Bauern und über ihre Feinde.

3. Entwässerung – Verbesserung

21. DAMALS Äpfel und Pflaumen am Jauchegraben

22. ANFANG 19. JAHRHUNDERT Napoleons Kontinentalsperre, ein indonesischer Vulkanausbruch und eine Sturmflut bremsen die Moorkolonie aus.

23. DAMALS Gehen, holen, bringen – Wege mit Kühen.

24. 19. JAHRHUNDERT Produktivkräfte drängen auf Modernisierung: Die preußische Landreform, neuer Dünger und neue Maschinen.

25. HEUTE Was ist heute ein Großbetrieb? Milch, Bohnen und fünfundzwanzig Schwalbennester.

26. HEUTE Der Mais hat die Fahnen geschoben – und produziert mehr Sauerstoff als ein Laubwald.

27. HEUTE UND DAMALS Ein Kind fliegt durch die Luft. Wie sich Gerda an den Anfang und an die Visiten erinnert.

28. 19. JAHRHUNDERT Amerika: Wo Brot ist, ist Heimat. Bismarck und die Bauernbefreiung. Neubachenbrucher ohne Pferde? Cowboys, Schlachthöfe und Türen auf Rädern.

29. HEUTE Maisernte. Treckerballett im Oktober.

30. HEUTE UND DAMALS Erinnerungen an Knechte, Deerns und Amerikaner. Ein Chapeau claque im Moor.

31. ENDE 19. JAHRHUNDERT UND HEUTE Eine Zeitung »Für Wahrheit, Licht und Recht«. Der historische Kanalbau und was der Schleusenmeister erzählt.

DRITTES ZWISCHENSPIEL Von Brueghel bis Worpswede, Romantik statt Düngung. Was Bauer Allmers in der Stadt suchte.

4. Weltmärkte und Weltkriege

32. DAMALS Mit dem Bus zur Schule.

33. BEGINN 20. JAHRHUNDERT Grot-Emma und die Weltmarktpreise, Großagrarier in den USA und Russland.

34. 1914–1918 Von Krieg, Revolution und Weizenboom. Inflation in Deutschland.

35. HEUTE Erinnerung an Beschädigungen. Klauenpflege heute.

36. 1918 Grot-Emma, Berta und Hilda erleben die Weimarer Republik.

37. 1920–1930 Kolchosen und Kulaken, der amerikanische Weizenkönig und das Bauernbild der Nazis.

38. HEUTE UND DAMALS Grot-Emmas Enkel erzählt mir was über die Wölfe, und ein Cadillac begegnet mir im Moor gleich zweimal.

39. 1933–1939 Das Führerprinzip auf dem Land, aus Moorbauern werden Erbhofbauern.

40. 1939–1945 Landwirtschaft wird Kriegswirtschaft. Zwangsarbeiter und Denunzianten.

41. HEUTE Besuch bei Luci und meine Erinnerung an alte Frauen.

42. DAMALS Vom Torfstechen und Autofahren. Oder: Elvis auf dem Dorfe.

43. 1940ER- UND 1950ER-JAHRE Sicco Mansholt und seine Lohnerhöhung für Bauern. Bodenrecht und -unrecht.

44. DAMALS Dorfhandel und Dorfschule, Coca-Cola, Trecker und Melkmaschinen.

45. 1950ER-JAHRE Eine Straße wird gebaut – und in Brüssel der gemeinsame Agrarmarkt organisiert.

46. DAMALS Beregnen im Moor.

47. DAMALS Zwangsversteigerungen und Arbeitsheldin für einen Tag.

48. 1970ER-JAHRE Mansholt ist gegen seinen eigenen Plan. Die Bauern werden weniger, die Kühe mehr.

49. HEUTE Weltmarktpreise oder wie teuer kommt billig. Wasserfragen der einen und der anderen Art.

50. DAMALS UND HEUTE Was ich beim Reisen sah. Unsere ersten Gräber im Moor.

VIERTES ZWISCHENSPIEL Die Bauern von Malewitsch – keine Gesichter mehr, keine Hände. Bauernhof mit U-Bahnanschluss und die Milchpreise. Warum Krischan Flüchtling werden wollte.

5. Lob des Aufhörens und des Weitermachens

51. Drei Bauern auf dem Weg in die Zukunft.

52. Der Dürresommer 2018. Magere Felder, Reparatur eines Staus und Kühe im Luftzug.

53. Biogas und Urlaubernächte im Stroh. Dreißig Sommer zur Rettung einer Bauernhausruine, Indianerspiele und Husumer Protestschweine.

54. Nicht abgehängt, aber unter Druck. Ein bisschen Dorfstatistik und Ausgleichsflächen auf dem Land.

SCHLUSS Über Ferkel, Menschen und wohin der Fortschritt führt.

ANMERKUNGEN

GLOSSAR

AUSGEWÄHLTE LITERATUR

PROLOG

ICH RANNTE HINTER DEN KÜHEN HER, um sie zum Melken zu holen, ich fütterte die Schweine und rupfte die Enten. Ich stapfte über den Hof und ahnte nicht, dass ich mich auf historischem Boden befand.

Denn jeder Boden ist historisch.

Auch ein Acker hat seine Geschichte.

Wo ich ging und stand, war einmal Moor urbar gemacht und Torf gestochen worden. Die Gräben, über die ich sprang, und die Kanäle, über deren Brücken ich mit dem Fahrrad fuhr, waren vor hundert oder zweihundert Jahren gegraben worden. Und die Felder, auf denen wir im Frühjahr Kartoffeln pflanzten, in der Hitze des Sommers die Rüben verzogen und im Herbst den Roggen mähten, gab es erst seit der Moorkolonisierung – seit der Zeit von Kant, Hegel und Goethe.

Erst als Kanäle und Schöpfwerke gebaut waren, Mitte des 19. und noch einmal im frühen 20. Jahrhundert, versanken die Äcker nicht mehr im Wasser der Überschwemmungen, von denen unsere Gegend – das Sietland, das ist das niedrige, ›siete‹ Land zwischen Elbe und Weser – zu fast jeder Jahreszeit heimgesucht wurde. Die Alten erzählten, wie sie dann das Heu zum Trocknen auf den Deich getragen und mit dem Kahn in die Scheunen gefahren haben.

Manchmal versuche ich mir vorzustellen, ich hätte das Dorf nie verlassen.

Ich bin 1957 als Kind von Flüchtlingen dort angekommen. Was wäre, wenn ich wie mein Bruder dort geblieben wäre. Er ist nur ein paar Jahre jünger als ich, als Sohn erbte er den Hof. Ganz selbstverständlich war es damals nicht mehr. Aber traditionell war es eben doch so. Ich erinnere mich, was mein Vater sagte, als ich empört rief, es sei nicht gerecht, wenn mir als Mädchen der Hof nicht einmal angeboten würde.

»Willst du ihn denn haben?«, fragte er.

Damit hat er mich zum Schweigen gebracht.

Ich wollte ihn nicht.

Und wollte ihn insgeheim doch.

Aber ein halbes Ja und ein halbes Nein, das wäre nicht gegangen. Ganz oder gar nicht. So übernahm mein Bruder zusammen mit seiner Frau den Hof.

1. ANFÄNGE

1. KAPITEL
HEUTE
Die Stimmung auf dem Hof meines Bruders.

»ENTWEDER, ODER«, sagt mein Bruder Waldemar. Wir stehen am Melkroboter*. Vor einigen Wochen ist der installiert worden und bedient, wie es im Fachjargon heißt, vierzig Kühe. Insgesamt kann so ein Roboter sechzig bis siebzig Kühe pro Tag melken. Im Moment läuft die Einarbeitungsphase. Noch muss man die Kühe etwas antreiben, später werden sie alleine zum Melken gehen – den ganzen Tag über und sogar nachts. Denn während ihnen der Roboter die Milch abpumpt, fressen sie das Kraftfutter, das je nach Chipkartenlesung ausgeschüttet wird. Der Transponder, ein Erkennungssender, hängt ihnen um den Hals. Jeweils vor und hinter dem Tier hält ein Gatter es auf der Stelle fest und öffnet sich erst wieder, wenn keine Milch mehr fließt und kein Futter mehr ausgeschüttet wird.

Ich staune.

»Wachsen oder weichen«, sagt Waldemar, während er mir die Neuerwerbung zeigt. »Und der Große frisst den Kleinen«, sagt er noch. »Das ist immer so gewesen. Und glaub’ man nicht, dass das bei den Biobetrieben anders ist. Dieselbe Technik, dieselben Größen.«

»Und? Gehörst du selbst inzwischen zu den Großen?«

»Nein.« Mein Bruder lacht grimmig. »Aber nicht zu den ganz Kleinen. Noch nicht.« Er betrachtet die digitale Anzeige auf der uns zugewandten Rückseite des Melkroboters. »Von den zwanzig Höfen im Dorf sind vier übrig geblieben. Alle anderen haben aufgegeben.«

Waldemar ist aus dieser Generation der Bauern im Dorf der Jüngste, das Rentenalter hat er noch nicht erreicht und er hat – anders als die meisten hier – einen Nachfolger. Sein Sohn will Bauer werden, ist es schon. Die moderne Technik, wie der Melkroboter, wird über Kredite finanziert, die man kriegt, wenn man Land besitzt.

Jetzt fallen die Zitzenbecher vom Euter ab und der Roboterarm schwenkt beiseite, um die Kuh freizulassen und das Melkgeschirr sofort zu spülen. Das vordere Gatter öffnet sich, die Kuh bewegt sich ohne Eile aus dem Melkstand hinaus, dann schließt es sich wieder. Erst wenn Zitzenbecher und Milchschläuche mit Wasserdampf gereinigt sind – es dauert nur Sekunden –, öffnet sich das hintere Gatter und lässt die nächste Kuh ein.

»Nebenan«, Waldemar zeigt zum Nachbarhof, »wird inzwischen Strom produziert, also Gas aus Biomasse. Das wird in Strom umgewandelt und ins Netz eingespeichert. Die Sauen, die sie halten, sind fast nur noch ein Anhängsel. Zwar sind sie einerseits die Grundlage des Geschäfts mit dem Strom, ebenso wie der Mais, der angebaut wird. Aber der Verkauf der Ferkel bringt weniger Geld ein als die – Entschuldigung – Scheiße, die den Strom erzeugt.«

Wir hören eine Weile schweigend dem Pumpen und Zischen, dem Brummen und Schnaufen der Maschine zu. Der Roboterarm schwenkt unter den Bauch der neuen Kuh, hebt eine Düse direkt unter das Euter, eine desinfizierende Flüssigkeit wird aufgesprüht. Erst dann kommen die frisch gespülten Zitzenbecher angefahren und saugen sich einer nach dem anderen an den Zitzen der Kuh fest. Die hat inzwischen angefangen zu fressen.

»Wie viele Melkroboter für wie viele Kühe brauchst du, um in ein paar Jahren abgeben zu können?«, frage ich. Die Hofübergabe an die nächste Generation schließt ja ein, dass der Nachfolger seinem Vorgänger ein Altenteil zahlen kann, also lebenslang Wohnung, Nahrung und ein bisschen Bargeld, so wie es mein Bruder und seine Frau Anna mit unseren Eltern gemacht haben.

Mein Bruder winkt ab. »Die Frage ist im Moment, wie viel Land wir uns leisten können, um genug Futter für das Vieh anzubauen und seine Gülle* loszuwerden. Immer mehr große Stromerzeuger kaufen und pachten Land. Und obwohl weiß Gott genug Bauern aufgeben und viel Land auf dem Markt ist, wird der Boden immer teurer.«

Mir kommt der Gedanke, dass die Übergabe an die nächste Generation womöglich nicht mehr stattfinden wird. Ich atme tief ein.

Aber Waldemar hat genug von meinen Fragen. Er steht an der Tür des Melkstands, öffnet sie und ist schon halb draußen, als er noch sagt: »So ist das nämlich. Ihr wollt ja alle Biostrom. Aber ihr habt keine Ahnung.«

Mit ›ihr‹ sind immer alle Städter gemeint – oder doch alle, die keine Landwirtschaft betreiben. Zu diesem ›ihr‹ zähle auch ich seit vielen Jahren.

Auf dem Weg ins Haus gehe ich vorbei an den neugierig ihre Köpfe durchs Futtergatter steckenden Jungrindern. Ein paar Katzen begleiten mich zur Haustür.

Die Hündin ist mit meinem Bruder gegangen.

Seit ein paar Tagen stehe ich morgens um sechs zusammen mit allen anderen auf, um zu sehen, zu hören, zu riechen, wie sich Landwirtschaft heute anfühlt auf dem Hof, auf dem ich aufgewachsen bin. Ich ziehe die Stallklamotten an und gehe nach draußen. Erst nach ein paar Tagen fällt mir auf, dass ich hier den Blick nicht heben muss, um den Himmel zu sehen. Kein Haus ist im Weg. Und ob es regnet oder bald regnen wird, wie der Wind geht, ist sofort gewusst, in Auge und Ohr und Nase eingeströmt.

Ich gehe mit ihnen in den Stall, aber ich laufe nur so mit – mal mit meiner Schwägerin Anna, die für die Kälber verantwortlich ist, mal mit meinem Bruder, der im alten Melkstand steht, mal mit ihrem Sohn Hannes, der für die Fütterung sorgt und den Roboter kontrolliert. Helfen kann ich nicht, denn kein Handgriff ist noch so, wie ich ihn kannte. Die Gebäude, die Maschinen, alles ist anders. Aber der Sonnenaufgang über den Bäumen und Weiden vor dem Hof ist derselbe. Immer schon lag das stärkste Licht am Morgen auf der Hofeinfahrt vor dem Stall. Immer schon wuselten ein paar Katzen, junge und alte, vor der Milchkammer umher, und immer schon lag in ihrer Nähe der Hund, der aufpasste, dass ihm nichts entging, vor allem kein Futter im nebenbei gefüllten Napf. Und der Stall ist immer noch ein einziger großer Organismus, Ort der Tiere, ihres Atmens, Fressens und Verdauens, ihres Wiederkäuens, ihrer Ausscheidungen und ihres Schlafs, ihrer Ruhe und manchmal ihrer Unruhe. Und der Ort von ineinandergreifenden Arbeitsabläufen.

Ich gehe da hindurch, über die Futtergänge und an den Barrieren entlang, die Tiere, fast hundert Kühe und vielleicht vierzig Jungrinder, sehen mich mit gesenkten Köpfen neugierig an.

Alles ist unter einem Dach angeordnet. Es gibt den Bereich, in dem lahmende Kühe oder diejenigen, die aus anderen Gründen nicht ganz fit sind, auf Stroh laufen und liegen dürfen, sozusagen die Krankenstube; sie können durch das den ganzen Stall durchziehende System sich öffnender und schließender Gatter zum Melkstand geführt werden und aus ihm zurück in ihren Bereich gehen. Neben ihnen stehen ebenfalls auf Stroh die Kühe, die demnächst kalben und – im Unterschied zu den ›melkenden Kühlen‹ – ›trocken stehen‹. Eine oder zwei haben vielleicht schon gekalbt, und dann liegt zwischen ihnen ein frisch geborenes Kalb, das sich auf zittrige Beine erhebt und nach dem Euter der Mutter sucht. Heute sind es sogar zwei, die sich manchmal zur falschen Kuh verirren, aber immer wieder von der Mutter gefunden werden. Mit Rührung sehe ich, dass die anderen Kühe die Kleinen freundlich beriechen und neugierig zusehen, wie das eine schon ein paar Probesprünge macht und das andere kläglich blökt. Aus dem Weg gehen sie ihnen nur, wenn sie bei ihnen zu saugen versuchen.

Der größte Bereich im Stall ist der, in dem die ›melkenden Kühe‹ sind, wiederum aufgeteilt in den Bereich, in dem die ›Roboterherde‹ ist, und in den größeren, in dem noch konventionell gemolken wird. Denn ein Roboter schafft, wie gesagt, nur sechzig bis siebzig Kühe – einen zweiten Melkroboter wird man sich erst in ein paar Jahren leisten können. Die konventionell gemolkenen Kühe werden morgens und abends in einen abtrennbaren Bereich direkt vor dem Melkstand getrieben. Hinter ihnen schließt sich wiederum ein Gatter, sodass die noch ungemolkenen getrennt bleiben von denen, die nach dem Melken zurückkehren in den Stall.

Ich gehe an Hund und Katzen vorbei zum Melkstand, klettere in die Melkergrube zu Waldemar und Anna. Rechts und links von ihnen stehen je vier Kühe auf Schulterhöhe, von Gestängen an ihrem Platz gehalten. Sie legen ihnen die Melkgeschirre an, tragen dabei Handschuhe, schützen sich und die Tiere vor Keimen. Mich nehmen sie sozusagen nur aus den Augenwinkeln wahr und ich muss sehen, dass ich ihnen nicht im Weg stehe.

Aus der Gruppe der noch ungemolkenen Kühe kommen durch Schiebetüren die nächsten herein, wenn eine Kuh fertig ist. Türen und Gestänggatter werden vom Melkstand aus von Seilen bedient, teils gehen sie automatisch. Die nächste Kuh wird durch das hier herrschende System sich öffnender und schließender Gatter auf ihren Platz geleitet, kommt an, und gleich wird ihr Euter, wie gesagt, auf Schulterhöhe der Melkenden, besprüht, gewischt, mit ein paar Handgriffen angemolken und die Zitzenbecher angelegt.

Wenn einmal nicht gleich die nächste Kuh nach dem Öffnen der Melkstandtür den Melkstand betritt, steigt mein Bruder oder seine Frau eine Metalltreppe hoch, gehen durch eine schmale Tür zu den ungemolkenen Kühen und treiben nach. Da sind die Neuen oder die Scheuen oder diejenigen, die zu oft von hierarchiehöheren Kühen abgedrängt worden sind. Schnell und dabei doch ruhig gehen sie dann zurück in die Grube und prüfen, welche der acht gleichzeitig gemolkenen Kühe jetzt so weit ist, dass ihr das Geschirr abgenommen werden kann – sehen währenddessen darauf, ob die vier zwischen Becher und Schlauch gesetzten Gläschen anzeigen, dass auch wirklich jedes Euterviertel ausgemolken ist, und prüfen aus dem Augenwinkel die digitale Anzeige der Milchmenge. Es gibt Kühe, die ihre Milch ›verhalten‹, vielleicht weil sie krank sind oder brünstig oder aus irgendeinem anderen Grund. Kühe sind empfindliche Tiere und man muss so einiges im Auge behalten, besonders bei einer großen Herde, in der es dann beim Melken ein paar Minuten Zeit gibt, um jede einzeln in Augenschein zu nehmen.

Ich registriere das Sich-nicht-mehr-bücken-Müssen, die-Milch-nicht-mehr-tragen-Müssen. Früher haben wir auf einem Melkschemel dicht an der Kuh gesessen, den Kopf in ihre Flanke gestützt, Hände am Euter oder am Milchgeschirr der Kuh, die angekettet im Stall stand – im Winter standen sie fünf oder sechs Monate am selben Fleck. Wenn die Kuh ausgemolken war und wir den Deckel mit dem Pulsator, der den rhythmisch pulsierenden Sog für das Melken produzierte, auf einen zweiten Eimer gesetzt, die nächste Kuh per Hand angemolken und ihr das Sauggeschirr angelegt hatten, griffen wir den vollen Eimer und eilten mit der Milch durch den Mistgang zur Milchkammer, hoben den Eimer hoch, schütteten die Milch durch ein Sieb in die Kanne, eilten zurück, passten auf, im Gang nicht in der Jauche auszurutschen. Und immer so weiter, bis die zehn, später zwanzig und dreißig Kühe ausgemolken waren.

Jetzt wird die Milch direkt vom Euter durch ein Rohrsystem zum Tank geführt. Es herrscht große Sorgfalt im Schutz gegen Bakterien. Am Ende des Melkvorgangs wird das Euter wieder mit einer desinfizierenden Lösung besprüht. Dann öffnet Waldemar per Seilzug das vordere Gatter des Stands, während sich schon das hintere Gatter öffnet, um die nächste einzulassen. Wie mein Bruder und seine Frau hin- und hergehen in der Grube – und ich sie möglichst nicht störe –, ihr Alles-im-Blick-Haben, ihre Handbewegungen, das ist schnell, effizient, tänzerisch elegant trotz der Störungen. Eine Kuh schlägt das Geschirr mehrmals ab, bei einer anderen Kuh hängt das Geschirr zu tief und muss abgestützt werden, genau in diesem Moment aber rutscht das stützende Holz- oder Plastikstück heraus und das Geschirr fällt zu Boden, die nervöse Kuh tritt darauf. Da bewährt sich, was alle, die mit Tieren arbeiten, gelernt haben: Abstand halten, langsame Bewegungen, eine ruhige Stimme, klare Gesten des Beruhigens oder Leitens. Es ist, als ob sich das gemächliche Tempo dieser großen Tiere auf die Menschen, die mit ihnen arbeiten, übertragen hat. Ich erkenne wieder, was ich als Kind selbst gelernt habe. Das ist geblieben.

Nach einer Weile sehe ich dann vom Futtergang aus zu, was die Tiere tun, wenn sie vom Melken kommen. Viele gehen erst einmal zur Tränke und trinken in großen Schlucken. Manch eine geht auch gleich zum Futtertisch und guckt, ob da inzwischen frisches Futter liegt, oder sie spaziert mit ihrem Transponder um den Hals zur Ausgabestelle für das Kraftfutter und probiert, ob ihr der Apparat nach sekundenschnellem Einlesen ihrer Kennziffer vielleicht Nahrung zuteilt; in diesem, dem sogenannten konventionellen Melkstand wird kein Futter beim Melken ausgegeben. Eine andere tritt vielleicht unter eine der großen Bürsten, die von der Stalldecke herabhängen, und lässt sich durch ihr Darunterhergehen den Rücken und die Flanken bürsten; die Nächste zieht es zum Mineralsalz eines Lecksteins, den sie mit kräftiger Zunge bearbeitet. Und manche sucht sich eine Freundin – alle ranggleichen Kühe sind Freundinnen –, deren Hals oder Kopf sie beleckt oder sich von ihr belecken lässt.

Ich finde es schwierig, dabei zuzusehen, ohne selbst die Hände zu rühren, während Waldemar, Anna und Sohn Hannes auf ihren Arbeitsgängen vorbeieilen – Kälber tränken, Kühe melken, Jungrinder füttern.

Waldemar hat schlechte Laune. Nach dem Melken sitzen wir am Frühstückstisch, er liest in der Zeitung. Wütend macht ihn nicht, dass sie vor dem Kaffee schon zwei Stunden gearbeitet und das Vieh besorgt haben und dass dies trotz Melkroboter schon wieder gut zwei Stunden dauert, weil viele Stärken* aus der eigenen Nachzucht, also Erstkalbende hinzugekommen sind, die Herde gewachsen ist und damit auch die Menge der zu fütternden Kälber. Das ist ja, was er gewollt hat: Wachstum. Die höhere Arbeitslast ist nur die logische Folge.

Mein Bruder nimmt das Brot aus dem Toaster, legt sich eine Scheibe auf sein Brett, wirft die andere mit zu viel Schwung auf den Brotteller in der Mitte des Tischs. Sie fällt daneben. Meine Schwägerin und ich sehen uns schweigend an. Ich nehme die Scheibe, Anna schenkt ihm Kaffee in den hingehaltenen Becher.

Wir kauen, trinken Kaffee, reichen uns dies und das.

Ich lobe die Kürbismarmelade.

Anna erzählt, dass eine ihrer Töchter ihr einen großen Topf mit schon geschnittenem Kürbis gebracht hat. Den musste sie sofort verarbeiten, und da hat sie eben Marmelade gekocht. Ich bewundere, wie sie sich immer wieder etwas Neues einfallen lässt. Auch das weiche, gelbliche Kürbisbrot war ein Erfolg.

»Na«, sage ich nach einer Weile, »wo drückt der Schuh?«

Waldemar schnaubt nur: »Frag lieber, wo er nicht drückt.« Dann liest er weiter die Zeitung. Schließlich schiebt er sie mir hin. »Lies selbst«, sagt er.

Es sollen in Niedersachsen neue Feuchtgebiete geschaffen werden, Moore renaturiert. Das Wasser soll wieder die Weideflächen erobern dürfen – zum Nutzen der Artenvielfalt von Flora und Fauna.

Die Zeitung berichtet von heftigen Diskussionen. Es werden die Argumente von Befürwortern und Gegnern wiedergegeben. Aber sie nimmt nicht Partei für die Bauern. In einer Gegend wie dieser, die derartig von der Landwirtschaft geprägt ist, wundert mich das.

Aber als ich das sage, blickt mein Bruder mich nur verärgert an.

»Was denkst du denn? Wo lebst du? Wir sind doch in den Dörfern längst eine Minderheit. Auch auf dem Land fühlen sich die meisten durch uns nur gestört – durch unsere schweren Maschinen auf den Dorfstraßen, die man nicht überholen kann, durch den Gestank der Tiere, die nun mal Mist machen, durch unsere Silagehaufen*, auf denen so hässliche alte Gummireifen liegen, durch den Mais, der hier steht statt des hübschen Roggens und der Rüben von früher …«

Er winkt ab und steht auf. Im Weggehen sagt er: »Hauptsache, eure Kühlschränke sind voll.«

Dann ist er draußen.

Am nächsten Morgen, es war mein letzter, versuchte ich noch einmal, meinen Bruder Waldemar zum Helden für meine Geschichte zu machen. Ich fragte ihn, aber er hat nur gesagt: »Das interessiert doch sowieso keinen Menschen.« Dann hat er den Kopf geschüttelt, ist aufgestanden, hat seiner Frau gesagt, auf welchem Feld er jetzt arbeiten und wann er zum Mittagessen zurück sein wird, hat im Gehen sein Handy auf Nachrichten überprüft, im Flur seine Stiefel angezogen und weg war er. Mit ihm ist auch mein Neffe Hannes aufgestanden und hinausgegangen.

Als ich noch ein Kind war, endeten Gespräche bei uns auch schon so. Dass unser Vater aufstand und zurück an die Arbeit ging, in den Stall oder aufs Feld.

Reden nützt sowieso nichts, war Teil der Botschaft. Der andere Teil war, dass die Arbeit nicht von allein fertig wird, und dass man, je eher man anfing, desto eher mit ihr fertig sein würde. Obwohl die Arbeit eigentlich nie fertig wurde. Aber darüber konnte und wollte keiner nachdenken. Das hätte ja auch nichts genützt.

Mit meiner Schwägerin räumte ich den Frühstückstisch ab. Sie fuhr mich zum Bahnhof und ich kehrte zurück in die Stadt.

* Worte, die mit einem Sternchen* gekennzeichnet sind, werden im Glossar ab S. 471 erklärt.

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9783956144165
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