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Ursula Corbin

»Du sollst nicht töten«

Nachrichten aus dem Todestrakt

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Erste Auflage Frühjahr 2021

Alle Rechte vorbehalten

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Alle Namen der Gefangenen sowie weiterer ProtagonistInnen wurden geändert; ihre Geschichten entsprechen den Tatsachen.

Bildnachweis:

© Laila Defelice: Cover, S. 12, 36, 62, 92, 126, 154, 166, 210

Privatbesitz Ursula Corbin: S. 18, 43, 50, 67, 72, 77, 80, 138, 161, 175, 186, 197, 215, 224

Schrift: Filo Pro, Arnhem

E-Book-Realisation: Bookwire

ISBN: 978-3-906304-80-9

eISBN: 978-3-906304-97-7

Inhalt

–Tausende von Briefen über den Atlantik

1.Abdullah alias Clifford – »Ich bin schon oft gestorben

–Grüße aus dem Radio

2.Pablo – Eine fatale Entscheidung

–»Die Angst vor dem Sterben nehmen«

3.Steven – »Die Hölle ist hier auf Erden«

–Vom Filmen im Todestrakt Rolf Lyssy, Filmregisseur

4.Fred – Eine verhängnisvolle Beziehung

–Auge um Auge

5.Lee – »Never ever give up!«

–Nicht mehr als 30 Dollar

6.Ramon – Geister der Vergangenheit

–»Wird wohl jemand auf mich da drüben warten, wenn ich sterbe?«

7.Andy – »El Rey« – der König

–Fragen, die mir immer wieder gestellt werden

8.Levi – Das Gras unter den Füßen

–Epilog

–Dank

Biografie der Autorin

»Returning violence for violence multiplies violence, adding deeper darkness to a night already devoid of stars. Darkness cannot drive out darkness, only light can do that. Hate cannot drive out hate, only love can do that.«

Martin Luther King

Tausende von Briefen über den Atlantik

Schon als Teenager träumte ich davon, eines Tages in die USA auszuwandern. Ich war überzeugt, dass dort alles so viel besser, größer und freier sei als in unserer kleinen engstirnigen Schweiz. Mit knapp 18 Jahren zog ich von zu Hause aus und lebte anschließend viele Jahre auf verschiedenen Kontinenten – bis ich schließlich in den USA landete: Ich hatte einen Amerikaner geheiratet und lebte mit ihm einige Jahre in verschiedenen Staaten. Mit dem Alltagsleben veränderte sich meine Sicht der Dinge jedoch gewaltig, das Leben war alles andere als leicht und unbeschwert. Es war ein harter Überlebenskampf, dem wir uns täglich zu stellen hatten, und zu alledem musste man ständig auf der Hut sein. Die Kriminalitätsrate war sehr hoch, und die Menschen hatten Angst. Auch ich hatte mehrere Schlösser an meinen Türen, auch ich fuhr mit dem Auto die 200 Meter bis zum Lebensmittelladen, auch ich vergewisserte mich vor dem Einsteigen jedes Mal zuerst, ob sich jemand hinter meinem Sitz versteckte, und auch ich schnallte – wie viele Mütter – meinen kleinen Sohn im Einkaufswagen fest, damit ihn niemand mitnehmen konnte. Im Fernsehen gab es jeden Tag vor allem Nachrichten über Morde, Vergewaltigungen und schreckliche Unfälle, man sah kaum etwas Positives.

Kaum zu glauben: Das war also das Land meiner Träume, das Land der großen Freiheit, und dabei ging es so vielen Menschen schlecht. Ich kam recht viel herum in diesem Land, und an so vielen Orten sah ich Armut. Ganze Familien lebten in ihren Autos, weil sie die Miete nicht bezahlen konnten und ihr Haus verloren hatten. Am Strand richteten sich jeden Abend Menschen ihren Schlafplatz ein, weil sie weder ein Zuhause hatten noch einen Job; in den Abfalltonnen vor den Fast-Food-Ketten suchten sie nach Essbarem.

Zum ersten Mal hörte ich auch, welch horrende Strafen für relativ harmlose Verbrechen gesprochen wurden (wohl zur Abschreckung) und dass in den USA immer wieder die Todesstrafe vollzogen wurde. Zwar waren es jeweils nur kleine Randnotizen in den Zeitungen, wenn wieder ein Mensch auf dem elektrischen Stuhl getötet worden war, aber ich fand es jedes Mal grauenhaft. Ich hatte mein Leben lang daran geglaubt, dass die USA ein wirklich fortschrittliches Land sei, denn es hieß ja, dieses Land sei ein Vorbild für die ganze Welt.

Dass weite Teile der Bevölkerung wegen der hohen Kriminalitätsrate in Angst lebten, konnte ich verstehen. Aber wie konnte man nur so simpel denken, dass man dieses Problem loswürde, indem man die Täter für Jahrzehnte wegsperrte und die Schlimmsten von ihnen tötete? Und wenn man wirklich davon überzeugt war: Warum wurde es dann nie besser? Warum fragte niemand nach den Ursachen? Dabei waren doch gerade in diesem Land die Menschen so religiös und gingen in die Kirche – wie konnten sie das gesetzliche Töten mit dem christlichen Glauben vereinbaren? Ich verstand das nicht und war entsetzt und zutiefst enttäuscht von diesem Land.

Ein paar Jahre später kehrte ich in die Schweiz zurück. Noch einmal startete ich mein Leben neu, und ich war glücklich und zufrieden, mit meinem Sohn hier leben zu dürfen. Aber all das, was ich in den USA wie in einigen anderen Ländern gesehen und erfahren hatte, hatte sich tief in mir eingeprägt, und ich wollte unbedingt etwas gegen all dieses Unmenschliche und Ungerechte tun. Also trat ich unserer Quartiergruppe von Amnesty International bei. Ich schrieb viele Protestbriefe und nahm an Standaktionen auf den Plätzen von Zürich teil. Meist ging es um politische Gefangene oder um Menschen, die aus religiösen oder ethnischen Gründen verfolgt, gefoltert, verschleppt, inhaftiert und oft auch getötet wurden. Wir sammelten Unterschriften und schrieben massenweise Briefe, um die entsprechenden Regierungsstellen unter Druck zu setzen. Um Geld für diverse Projekte aus aller Welt aufzutreiben, organisierten wir Mittagstische, führten einen Stand am Quartierfest und verkauften Schokoherzen. Ich war überall dabei.

Regelmäßig trafen wir uns in einem Saal eines Pfarreizentrums, und an einer dieser Sitzungen las unser Präsident einen Brief von einem Mann in einer Todeszelle in Texas vor. Dieser Gefangene schrieb, er habe ein Hinrichtungsdatum erhalten und werde in drei Monaten hingerichtet; sein großer Wunsch lautete, noch mit jemandem zu korrespondieren, bis es so weit sei. Der Brief war auf Englisch geschrieben, und unser Kollege fragte in die Runde, ob denn jemand genug Englisch beherrsche, um eine solche Korrespondenz zu führen. Ja, ich konnte dies tun und wollte diesen Mann in diesen letzten drei Monaten begleiten – wenn auch nur mit meinen Briefen.

So begann mit meinem ersten Brief an Clifford im Sommer 1986 mein Engagement, das bis zum heutigen Tag andauert. Fast 35 Jahre sind inzwischen vergangen; in diesen vielen Jahren haben wohl Tausende Briefe den Atlantik überquert, und ich war unzählige Male zu Besuch in den Gefängnissen von Texas und Kalifornien.

Mit insgesamt 15 Männern, die alle zum Tode verurteilt waren, habe ich in diesen Jahren korrespondiert und viele von ihnen auch regelmäßig besucht. Acht von diesen Lebensgeschichten habe ich ausgewählt für dieses Buch – es sind die acht Gefangenen, mit denen ich am intensivsten und längsten Kontakt hatte. Alles was ich hier berichte, habe ich von ihnen persönlich erfahren, das Einzige, was ich bei einigen geändert habe, sind ihre Namen – ansonsten entspricht alles genau dem, was sie mir über die Jahre geschrieben und erzählt haben.

In liebevoller Erinnerung an meine beste Freundin Gisela

1948–2005

Eine hochintelligente Frau und engagierte Ärztin, mitfühlend und sozial denkend, sensibel und weltoffen. Und trotz ihrer zierlichen Gestalt hatte sie ein riesengroßes Herz.


1.Abdullah alias Clifford

»Ich bin schon oft gestorben«

Inhaftierung: Februar 1982

Haftanstalt: Ellis One, Huntsville, Texas, USA

»Hallo, hier ist das Büro von Herrn Schwartz, was kann ich für Sie tun?« Die weibliche Stimme am anderen Ende war ausgesprochen freundlich.

»Guten Tag, hier spricht Ursula Corbin, ich rufe aus der Schweiz an. Könnten Sie mich bitte mit Herrn Schwartz verbinden?«

»Moment, ich schaue nach, ob er im Büro ist.«

Die Minuten schienen endlos. Dann meldete sich ein sonorer Bariton: »Hallo, wie kann ich Ihnen helfen?«

»Schön, dass ich Sie erreiche, vielleicht erinnern Sie sich an mich? Sie waren letzte Woche in Zürich und haben einen Vortrag über die Todesstrafe in den USA gehalten. Danach habe ich Sie angesprochen, ich bin die Frau mit den langen, dunklen Haaren, die mit einem zum Tode verurteilten Mann in Texas korrespondiert. Sie haben mir Ihre Visitenkarte gegeben und angeboten, dass ich mich melden solle, falls ich Hilfe brauchen könnte. Und jetzt brauch ich tatsächlich Ihre Hilfe. Der Gefangene, den ich erwähnte, hat ein Hinrichtungsdatum erhalten, und sein Termin ist schon in drei Wochen. Besteht die Möglichkeit, dass sich ein Anwalt eurer Organisation diesen Fall anschaut? Vielleicht gelingt es ja, diese Hinrichtung zu stoppen?«

»Ja, ich kann mich gut an Sie erinnern, und auch an das, was Sie mir erzählt haben. Ich werde prüfen, ob wir jemanden haben, der nach Texas reisen kann und sich der Sache annimmt. Versprechen kann ich Ihnen aber gar nichts. Vielleicht gelingt uns ein Aufschub, dann gewinnen wir Zeit, um den Fall genauer anzusehen. Aber wie gesagt, versprechen kann ich gar nichts.«

»Was immer Sie tun können, wir sind Ihnen sehr dankbar. Clifford hat aber kein Geld, um Ihre Arbeit zu bezahlen. Wäre es trotzdem möglich, einen Anwalt von euch zu schicken?«

»Wir bei ACLU arbeiten alle unentgeltlich, also machen Sie sich keine Sorgen um das Finanzielle. Das ist im Moment noch das kleinste Problem. Ob wir noch Zeit haben, etwas zu bewirken, das ist die entscheidende Frage. Also lassen Sie mich aktiv werden, Sie hören von mir!«

Ich hörte nichts mehr von ihm und wurde zunehmend nervöser. Die Tage verstrichen, von Clifford bekam ich fast täglich einen Brief, aber keinerlei Neuigkeiten von Harry Schwartz. Ich konnte mich erinnern, dass er während seines Vortrags in Zürich erzählt hatte, dass er sein Leben lang als Anwalt für diverse Menschenrechtsorganisationen tätig gewesen sei und nun gedenke, bald in Pension zu gehen. Hatte er den Fall von Clifford vergessen?

Die ACLU (American Civil Liberty Union – www.aclu.org) ist eine Organisation mit Sitz in New York, die sich für Bürgerund Freiheitsrechte in den USA einsetzt. Sie wurde 1920 von einer Gruppe aus Privatpersonen und Anwälten gegründet und wird durch Spenden finanziert.

Über meine Kontaktaufnahme zu ACLU hatte ich Clifford nicht informiert, denn er bereitete sich mental auf die Hinrichtung vor, und ich wollte ihm keine falschen Hoffnungen machen. Man hatte ihn unterdessen gefragt, was er sich als letzte Mahlzeit wünsche, ob er lieber einen gelben, blauen oder orangen Overall zur Hinrichtung tragen wolle und ob er noch ein Telefongespräch kurz vor der Hinrichtung führen möchte. Auch wollte man von ihm wissen, ob er für die letzten zwei Stunden einen Priester an seiner Seite wünsche und ob er, kurz bevor es dann so weit sei, ein Beruhigungsmittel einnehmen möchte. Die Häftlinge in Ellis One durften damals tatsächlich wählen, in welcher Overallfarbe sie ihre letzte Reise auf Erden antreten wollten; man könnte das zynisch nennen.

Etwa eine Woche vor der Hinrichtung die Nachricht: Aufschub! Harry Schwartz hatte tatsächlich einen Anwalt aus New York nach Texas geschickt, und dieser hatte in Zusammenarbeit mit Cliffords Pflichtverteidiger wegen eines Formfehlers einen Aufschub beim Gericht erzielt. Aufgeschoben – nicht aufgehoben. Doch das bot immerhin etwas Luft und Zeit, den Fall noch einmal genauer anzusehen.

Wie die meisten Häftlinge im Todestrakt hatte Clifford nie die finanziellen Mittel, um sich einen guten Anwalt zu nehmen, und so wurde ihm ein Pflichtverteidiger zugeordnet. Dieser riet ihm vor dem Prozess, er solle nicht aussagen – er werde das schon erledigen. Also schwieg Clifford und vertraute darauf, dass der Pflichtverteidiger schon wisse, wie er ihn am besten verteidige. Es war der erste Mordfall, den dieser Verteidiger zugeteilt bekommen hatte. Die Bezahlung des Staates an einen Pflichtverteidiger für eine solche Arbeit war limitiert und betrug nur ein Bruchteil der horrenden Honorare, die sie für »normale« Fälle erhielten. Zugleich ist jeder Anwalt in Texas verpflichtet, pro Jahr mindestens einen der ihm vom Staat zugewiesenen Fälle anzunehmen. Cliffords Fall war für diesen Anwalt finanziell völlig uninteressant, deshalb setzte er wenig Zeit dafür ein und bereitete sich nur mangelhaft auf diesen Prozess vor.

Der Staatsanwalt hatte leichtes Spiel: Clifford war dunkelhäutig – das Opfer eine weiße Frau. Zudem stammte die Frau aus der Oberschicht und war eine Bekannte der Präsidenten familie Bush, der Täter lebte auf der Straße, konsumierte Drogen und war schon mehrfach wegen Diebstahl und Drogenbesitz verurteilt worden. Die Jury bestand ausschließlich aus weißen Bürgern der Stadt Houston, und innerhalb weniger Stunden wurde Clifford wegen vorsätzlichen Mordes zum Tode verurteilt.

Die Tat gemäß Gerichtsurteil

Im Januar 1981 war Clifford auf Bewährung frei, nachdem er eine Strafe wegen Drogendelikten verbüßt hatte. Er fand in Houston einen Job in einem Kino als Platzanweiser und Hauswart und musste sich – eine Bestimmung der Bewährungsauflage – jede Woche bei der Polizei melden. In jener Nacht habe er seinen Dienst im Kino erledigt und gesehen, dass noch Licht im Büro der Chefin brannte. Als niemand mehr da war, sei er mit der Absicht, die Chefin umzubringen und ihre Wertsachen zu stehlen, ins Büro eingedrungen. Er habe sie erwürgt, ihre Geldbörse gestohlen, den Autoschlüssel genommen und sei weggefahren. Ein paar Tage später wurde er gefasst, weil er immer noch in ihrem Auto unterwegs und vollkommen bekifft in eine Verkehrskontrolle geraten war. Clifford habe den Mord gestanden, und auch wenn es keine Zeugen gebe, sei dieser Fall eindeutig als geplanter Raubüberfall mit Todesfolge einzustufen. Ein Vergehen, auf dem in Texas zwingend die Todesstrafe steht.

Cliffords Version der Tat

Nach seiner Entlassung aus dem Gefängnis hatte er in Houston, Texas, einen Job in einem kleinen Kino gefunden. Zu seinen Aufgaben gehörte es, spätabends nach Theaterschluss jeweils überall Ordnung zu machen, zu putzen und alle Türen zu schließen. Einige Monate lief alles gut, doch eines Nachts passierte ihm das Missgeschick, den Hauptschlüssel im Kinoraum zu vergessen, sodass sich die Tür automatisch hinter ihm schloss. Clifford hatte keine Möglichkeit, wieder ins Kino hineinzukommen, es blieb ihm nichts anderes übrig, als den Vorfall seiner Chefin Mrs. Smith zu melden und sie zu bitten, ihm ihren Ersatzschlüssel zu überlassen, um das Kino wieder öffnen zu können. Die Chefin war sehr wütend auf ihn und nach einem kurzen und heftigen Wortwechsel kündigte sie ihm. Da er, wie in den USA üblich, keinen schriftlichen Arbeitsvertrag hatte, hieß dies, dass er ab sofort arbeitslos war.

Ein harter Schlag für Clifford, denn die Arbeit hatte ihm gefallen und er war gut darin. Diese Kündigung konnte und wollte er nicht einfach so hinnehmen. Ein paar Tage nach seiner Entlassung entschied er sich deshalb, das Gespräch mit seiner Chefin zu suchen und sie zu bitten, ihm nochmals eine Chance zu geben. Im Büro von Mrs. Smith, das direkt über dem Kino lag, sah er nach Kinoschluss noch Licht und entschloss sich hinaufzugehen. Auf sein Klopfen öffnete ihm niemand und auch auf sein Rufen hin blieb alles ruhig. Die Tür war nicht verschlossen, also öffnete er sie und trat ein. Mrs. Smith saß an ihrem Pult und erschrak heftig, als sie ihn plötzlich vor sich stehen sah. Sie fühlte sich bedroht und schrie umgehend um Hilfe. Auf seine Bitte, sie solle ruhig sein, er wolle doch nur mit ihr reden, sei sie völlig hysterisch geworden. Sie habe noch lauter geschrien und nach dem Telefonhörer gegriffen, um die Polizei zu rufen. Clifford, der nur auf Bewährung draußen war, wusste, dass ihm niemand seine gute Absicht glauben würde und er vermutlich wieder ins Gefängnis musste, wenn jetzt die Polizei auftauchte. Ihr lautes Geschrei und der Versuch, die Polizei zu rufen, lösten Wut und Panik aus. Clifford verlor die Nerven, packte sie und hielt ihr den Mund mit beiden Händen zu. Die Kinobesitzerin wehrte sich mit aller Kraft, woraufhin Clifford sie auf ihr Pult presste und sie mit dem Telefonkabel würgte, damit sie endlich still sei. Als sie nicht mehr um sich schlug, realisierte er, dass sie nicht mehr atmete; Mrs. Smith war tot.

Anscheinend hatte niemand ihre Schreie gehört, und Clifford wollte so schnell wie möglich verschwinden. Ihre Handtasche und den Autoschlüssel nahm er an sich und machte sich davon. Das Geld aus ihrer Tasche setzte er für Essen und Drogen ein. Mit dem Auto schaffte er es anschließend bis nach Kalifornien. Dort wurde er ein paar Tage später von einer Polizeistreife angehalten, weil er ein Rotlicht missachtet hatte. Da er offensichtlich unter Drogen stand, nahmen sie ihn mit auf die Wache und fanden schnell heraus, dass er in Texas gesucht wurde.

Clifford in Untersuchungshaft

Zwei Versionen einer Tat

Der Staatsanwalt bezichtigte Clifford des kaltblütig geplanten und ausgeführten Raubmords. Clifford dagegen behauptete, die Tat nicht geplant zu haben; sein Vergehen wäre laut Gesetz als Diebstahl mit Todesfolge und demnach als Totschlag einzustufen. Nun lag Cliffords letzte Chance darin, dass der Anwalt der ACLU das Gericht davon überzeugen konnte, den Fall nochmals aufzurollen.

Tatsächlich gelang diesem Anwalt das Kunststück, dass nicht nur die Hinrichtung aufgeschoben wurde, er erreichte auch eine Weisung des Obergerichtes an das Bezirksgericht, den Fall nochmals genau zu prüfen. Die Tatsache, dass die Jury ausschließlich aus weißen Bürgern zusammengesetzt gewesen war und der Pflichtanwalt seinen Klienten nur mangelhaft verteidigt hatte, warf Fragen auf und musste nochmals überprüft werden.

Acht Jahre sollte das Ganze dauern! Immer wieder wurden Anträge formuliert und Berufungen eingereicht. Der Fall wurde ständig weitergezogen – vom Bezirksgericht ans höhere Gericht des Staates Texas und von diesem ans überstaatliche Gericht weitergereicht. Leider scheiterten alle Anträge auf Wiederaufnahme des Verfahrens. Es hieß jeweils, dass die Gründe für eine Wiederaufnahme nicht gewichtig genug seien und somit werde das Begehren abgelehnt.

Immer wieder gab es neue Hinrichtungsdaten, immer wieder wurden die Daten verschoben.

Im Oktober 1991 schrieb Clifford:

»You know dear Ursula, in a way, I feel like I have died several times! Each time these wardens come to pick up one of us to get him executed, I am going that way with him – in my mind! It kills me to say goodbye and to know exactly what they are going to do with him and that he will never return! It harshly reminds me that it is only a question of time until it is going to be my turn! Do you have any idea how this feels?

I have told you that up to this day, I was able to survive several execution dates! I can assure you, that this has been hell! Can anybody out there possibly figure how it is, to get ready for your own execution, over and over again? Each time to get an official letter with a new date, to prepare mentally, write good-bye letters to the people you love, feel hopeless, alone and frightened – and praying to God for strength in these last days … And then, the count down of the remaining days, the hours and finally – the minutes! At the end of it all you just want it to be over with as quickly as possible! And suddenly – after all of what you went through – there is a phonecall from some office and you are told, that there is a stay of execution! A stay of 30 or 60 days ! Whatever – it is only a stay! I can honestly tell you that they have killed me several times up to now!«


»Weißt du, liebe Ursula, auf eine gewisse Art bin ich schon oft gestorben. Jedes Mal, wenn die Wärter einen Mitgefangenen zu seiner Hinrichtung abholen, dann mach ich im Geiste alles mit ihm durch! Es macht mich fertig, mich von ihm zu verabschieden und genau zu wissen, was sie jetzt mit ihm machen werden und dass er nie mehr zurückkehren wird. Es wird mir dann brutal bewusst, dass es nur noch eine Frage der Zeit ist, bis auch ich an der Reihe bin! Kannst du dir vorstellen, wie sich das anfühlt? Ich hab dir ja erzählt, dass ich schon einige Hinrichtungsdaten überlebt habe. Ich kann dir versichern, da geht man durch die Hölle! Kann sich irgendein Mensch da draußen überhaupt vorstellen, wie das ist, sich immer wieder auf die eigene Hinrichtung vorzubereiten? Wieder einen Brief mit einem neuen Hinrichtungsdatum zu bekommen, sich erneut geistig darauf einzustellen, sich schriftlich von seinen Angehörigen und Freunden zu verabschieden und jedes Mal von Neuem mit dem Leben abzuschließen! Man hat keine Hoffnung mehr, ist alleine, hat Angst – und kann nur noch zu Gott beten, dass er einem Kraft für diesen letzten Tag geben möge! Und dann kommt die Zeit, in der man die Tage und Stunden zählt und schließlich die Minuten – und irgendwann will man nur noch, dass es jetzt schnell geht und alles vorbei ist! Aber dann – nach all dem, was du durchgemacht hast in diesen letzten Tagen – kommt plötzlich ein Anruf aus irgendeinem Büro, und man teilt dir mit, dass die Hinrichtung aufgeschoben wurde! Ein Aufschub von 30 Tagen oder 60 – was immer – es ist ja nur ein Aufschub! Ich kann dir sagen, ich bin schon etliche Male gestorben!«


Manchmal kam die Nachricht über den Aufschub erst kurz vor der Hinrichtung. Clifford hatte die letzte Mahlzeit bereits gegessen, das letzte Telefonat beendet, das Gespräch mit dem Pfarrer geführt und ein Medikament zur Beruhigung eingenommen. Bei ihm war es sogar so, dass er an einem dieser Termine schon auf dem Bett festgeschnallt lag, um im nächsten Moment die Giftspritze verabreicht zu bekommen, doch dann kam der Anruf, dass der Gouverneur angerufen habe … Später habe ich von seinem ehemaligen Pflichtanwalt erfahren, dass der Bescheid über den Aufschub schon Stunden vorher im Büro der Gefängnisleitung eingetroffen war!

In den letzten drei Wochen seines Lebens schrieben wir uns fast täglich. Ich wusste langsam nicht mehr, was ich ihm mehr wünschte: Ein erneuter Aufschub würde bedeuten, dass er nochmals alles durchleben müsste. Alle Berufungsmöglichkeiten waren ausgeschöpft und alle Gnadengesuche abgelehnt worden, wozu sollte ein weiterer Aufschub noch gut sein? Die Hinrichtung schien unausweichlich, war es da nicht besser, sie endlich zu vollziehen?

Das Thema Tod und was nachher kommen werde, war in diesen letzten Briefen sehr wichtig. Clifford betonte darin, er sei bereit zu sterben, durch die Konvertierung zum Islam habe er seinen Weg in Allah gefunden. Angst verspüre er keine mehr, denn er habe seinen Frieden gefunden.

Bevor Clifford nach Texas gezogen war, hatte er im Norden der USA, in Illinois, gelebt. Er war damals verheiratet, hatte einen kleinen Sohn und ein gut gehendes kleines Unternehmen, das darauf spezialisiert war, alte Häuser zu renovieren. Er war auch aktiv in einer religiösen Gemeinschaft und führte ein ganz normales Leben. Bis seine Ehe in die Brüche ging. Die Situation wurde für ihn unerträglich, und er wollte nur noch weg. Als ihm ein Kollege erzählte, dass es leicht sei, in Texas einen Job zu finden, ließ er alles stehen und liegen und machte sich auf nach Texas. Somit verlor er auch jeglichen Kontakt zu seiner Exfrau und seinem Sohn.

Seine Eltern waren beide verstorben, und mit seinen Geschwistern hatte er schon lange keinen Kontakt mehr. Es war ganz einfach niemand mehr da von seiner Familie, denen er etwas bedeutete.


Etwa zwei Wochen vor der Hinrichtung besuchte ich Clifford noch ein letztes Mal. Wie immer flog ich nach Houston, mietete am Flughafen ein kleines Auto und fuhr auf dem Highway 45 etwa eine Stunde Richtung Norden. Kurz nach der Ausfahrt Huntsville steht das Motel 6. Es ist eine billige, aber saubere Unterkunft. Die Tage verbrachte ich im Gefängnis, und mehr als ein sauberes Bett und eine gute Dusche brauchte ich nicht. Frühmorgens fuhr ich jeweils hinaus aufs Land. Die Straße nach Ellis One führte an großen Farmen mit Rindern vorbei und entlang endloser Felder. Die letzten Kilometer waren bewaldet, und man musste sehr aufpassen, die Einfahrt zu Ellis One nicht zu verpassen. Dies war das Gefängnis, in dem mehrere Hundert Männer einsaßen, die schwere Verbrechen begangen hatten. Sie waren alle entweder zum Tode verurteilt worden oder hatten lebenslange Haftstrafen ohne Bewährungsmöglichkeit abzusitzen.

Wenn man mit dem Auto bei Ellis One ankam, musste man etwa 200 Meter vor der Einfahrt stehen bleiben. Von einem Turm wurde an einer Leine ein Korb heruntergelassen, in den man seinen Pass legen musste, woraufhin der Korb wieder hinaufgezogen wurde. Welch altmodische Einrichtung in diesem hoch technologischen Land! Wurde der Pass wieder im Korb heruntergelassen, hieß dies, man dürfe nun hineinfahren und den Wagen vor dem Gefängnis auf einem großen Parkplatz abstellen. Als Nächstes betrat man eine kleine Baracke, in der die obligate Leibesvisitation durchgeführt wurde. Oft war dafür eine blonde, sehr kühle Frau zuständig; wir nannten sie den »Eisengel«. Sie entschied, ob man anständig genug angezogen sei, und sie durchsuchte jede Person ganz genau. Erst wenn sie zufrieden war, durfte man durch das erste verschlossene Tor gehen. Kaum befand man sich auf dem schmalen Asphaltstreifen zwischen den Zäunen, wurde hinter einem das Tor wieder geschlossen und das nächste geöffnet. Drei elektrische Zäune musste ich auf diese Weise passieren, bis ich das eigentliche Gefängnisgebäude betreten konnte. Dort musste ich mich am Schalter anstellen, meinen Pass abgeben und warten. Nach rund 15 Minuten erhielt ich eine Nummer und musste mich auf den entsprechend nummerierten Stuhl setzen. Bis der Gefangene gebracht wurde, verging nochmals mindestens eine halbe Stunde, dann konnten wir durch eine Scheibe und ein Eisengitter über einen Telefonhörer miteinander sprechen.

Clifford und ich blendeten die Möglichkeit aus, dass dies unser letzter Besuch sein könnte. Ich schaute ihn durch das Gitter genau an. Ein gut aussehender Mann, groß, kräftig und gesund. Er hatte eine schöne, tiefe Stimme, ein sympathisches Lachen und er konnte wunderbar zuhören. Wenn er über gewisse Themen wie Religion oder Politik sprach, war er ein leidenschaftlicher Redner, dem man einfach zuhören musste; unmöglich, mir vorzustellen, dass er in Kürze nicht mehr leben würde. Dass man diesen Mann, dieses Menschenleben, mit einer Giftspritze auslöschen würde. Es war unerträglich. Ich musste mich zwingen, an etwas anderes zu denken.

Wir sprachen über sein Leben und was alles hätte möglich sein können, wenn diese verhängnisvolle Nacht nie geschehen wäre. Wäre er nur in Illinois geblieben, zusammen mit seiner damaligen Ehefrau und dem kleinen Sohn hatte er doch ein gutes und sorgenfreies Leben gehabt. Die Scheidung von ihr hatte alles in seinem Leben durcheinandergebracht. Er hätte sicher gut für seinen kleinen Sohn gesorgt. Die Frage, wo sein Sohn wohl jetzt sein möge und wie es ihm wohl gehe, beschäftigte ihn sehr. Das Schlimmste für ihn war, dass er seinen Sohn seit seinem Umzug nie mehr gesehen hatte, er musste inzwischen ein erwachsener Mann sein.

Bei einem Rundgang auf dem Hof in Ellis One hatte er einen sehr interessanten Mitgefangenen kennengelernt. Dieser war ein glühender Anhänger von Louis Farrakhan und Mitglied in dessen Gruppe »Nation of Islam«. Aufgrund der Erzählungen des Mitgefangenen begann Clifford sich intensiv mit dem Islam zu beschäftigen. Seine Schlussfolgerung: Der Islam ist die richtige Religion für ihn und für alle Menschen. Diese Erkentnis schrieb Clifford dem Imam, der wöchentlich in Ellis One vorbeischaute, und teilte ihm mit, dass er übertreten wolle. Nach der Konvertierung gehörte er mit Leib und Seele zum Islam und hieß nicht mehr Clifford (das sei ja sicherlich nur ein Name eines weißen Sklavenhalters), sondern nannte sich Abdullah. Er bat mich, ihn ab sofort nur noch mit Abdullah anzusprechen, und sagte, er wünsche sich so sehr, dass ich mich auch mit dieser Religion befasse. Auch ich würde dann begreifen, dass das Christentum leider nur ein Irrglaube sei. Er werde mir sofort einen Koran zuschicken. Meine Einwände, dass ich viele Jahre in arabischen Ländern gelebt habe und diese Religion recht gut kenne und ich zufrieden sei mit meinem Glauben und auf keinen Fall konvertieren würde, ließ er überhaupt nicht gelten. Nach meiner Rückreise lag ein dicker Koran in meinem Briefkasten und jeder Brief von ihm handelte fast nur noch vom Islam.

Ab und zu sprachen wir über Mary, seine zweite Frau. Er bat mich, mit ihr in Kontakt zu bleiben, denn es war ihm bewusst, wie schwierig sein Tod für sie werden würde.

Lange redeten wir auch über den Tod und seine bevorstehende Hinrichtung. Diesmal werde es passieren, meinte er, er glaube nicht mehr an einen Aufschub. Ich versuchte noch, ihm zu sagen, dass dies ja schon so viele Male geschehen sei, doch er blieb dabei, er glaubte nicht mehr an einen Aufschub.

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9783906304977
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