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Till Weber

TOKYO

Eine Biografie

Von Edo und dem Stadtgründer Ōta Dokan bis Kaiser Hirohito und dem Ende der alten Stadt Tōkyō


Für meine Lehrer

Dr. Michael Toepfer (†) und Prof. Knut Schulz

208 Seiten mit 11 Abbildungen und 2 Karten

Titelbild: Abb. 1 bis 3. von links: Samurai in Rüstung, Bürgerliche Dame mit Schirm, Dienerin beim Tee servieren © Sammlung R. Johnson; Abb. 4 rechts: Fahrender Händler oder Träger, © Aufnahme von Felice Beato (1870er-Jahre), Public Domain.

Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek

Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.d-nb.de abrufbar.

© 2016 by Nünnerich-Asmus Verlag & Media GmbH, Mainz am Rhein

ISBN: 978-3-945751-70-1

Autor: Till Weber

Lektorat: Natalia Thoben, Nina Jourdan

Satz: TypoGraphik Anette Klinge, Gelnhausen

E-Book-Herstellung: Zeilenwert GmbH 2016

Alle Rechte vorbehalten. Ohne ausdrückliche Genehmigung des Autors, der Herausgeber und des Verlages ist es nicht gestattet, dieses Buch oder Teile daraus auf fotomechanischem Wege (Fotokopie, Mikrokopie) zu vervielfältigen oder unter Verwendung elektronischer Systeme zu verarbeiten und zu verbreiten.

Weitere Titel unseres Verlagsprogramms finden Sie unter: www.na-verlag.de

INHALT

COVER

TITEL

IMPRESSUM

VORWORT

EDO

Edo, vom Fischerdorf bis zur Burgstadt

Am Anfang flog ein Kopf – Die Geschichte von Taira Masakado (? – 940)

Der erste Stadtgründer Ōta Dōkan (1432–1486)

Die 15 Shōgune von Edo

Auf dem Weg nach Edo – Tokugawa Ieyasu (1543–1616)

Der zweite Stadtgründer von Edo – Tokugawa Ieyasu (1543–1616)

Denn sie bauten eine Burg – Tōdō Takatora (1556–1630) und Katō Kiyomasa (1561–1611)

Der Ausbau von Edo und die Festigung der Macht – von Ieyasu bis zum vierten Shōgun Ietsuna (1641–1680)

Engelbert Kaempfer aus Lemgo und der Hunde-Shōgun Tokugawa Tsunayoshi (1646–1709)

Der gerechte Shōgun Yoshimune (1684–1751)

Die unfähigen Shōgune Ieshige, Ieharu und Ienari und der »charismatische Bürokrat« Matsudaira Sadanobu (1759–1829)

Das Bröckeln der Macht – Von den Tokugawa-Shōgunen Ieyoshi bis Iemochi

Der letzte der starken Männer des Shōgun – Ii Naosuke (1815–1860)

Zeitenwende und der letzte Shōgun Tokugawa Yoshinobu (1837–1913)

Die Stadt der Fürsten und Samurai

Die ersten Fürsten in Edo

Alltag, Zeremonien, Belastungen: Endō Genkan (? bis ca. 1700/1705) und das Menü für den Shōgun

Fürst Asano Naganori (1667–1701) und die Tücken des Hoflebens

Die 47 Rōnin

Mori Masana (1803–1873), Samurai des Fürsten von Tosa

Der englische Samurai Will Adams (1564–1620)

Ein Samurai als Lebenskünstler und seine Abwege – Katsu Kokichi (1802–1850)

Geistesgrößen von Edo

Von Schwertkämpfern und Rettichen – Takuan (1573–1645)

Die großen Tempel von Edo – Tenkai (1536–1643)

Der Historiker Arai Hakuseki (1657–1725)

Der Arzt Itō Gemboku (1800–1871)

Der rastlose Erfinder Hiraga Gennai (1728–1780)

Das bürgerliche Edo

Vom Tellerwäscher zum Millionär in Edo – Kawamura, Kinokuniya und Mitsui

Der Erfolgsautor, der seinen Beruf nicht schätzte – Takizawa Bakin (1767–1848)

Der Superstar des Kabuki-Theaters Ichikawa Danjūro

Die Holzschnittkünstler

Moronobu (ca. 1618–1694)

Harunobu (1725–1770)

Utamaro (1753–1806)

Wer war Sharaku?

Hokusai (1760–1849)

Hiroshige (1797–1858) und die letzten Meister

Der Impressario Tsutaya Jūzaburō (1750–1797)

Der Erfinder des Sushi »nach Edo-Art« Hanaya Yohei (1799–1858)

Kleine Leute, Gesetzlose und Außenseiter in Edo

Hausbesitzer und Mieter, Handwerker und ihre Frauen

Iemon und O-Iwa – Von einem gemeinen Ehemann und seinem Rachegeist

Die bürgerlichen Superhelden von Edo – Feuerwehrleute im 18. und 19. Jahrhundert

Die Brandstifterin O-Shichi (1666 o. 1667–1683)

Edos legendärer Richter Ōoka Echizen (1677–1752)

Danzaemon, der Fürst der Ausgeschlossenen

TOKYO

Eine neue Elite für eine neue Zeit

Die Wende von Edo zu Tōkyō – Kaiser Meiji (1852–1912)

Vom Terroristen zum Vater der Verfassung – Itō Hirobumi (1841–1909)

Der aufgeschobene Freitod – General Nogi Maresuke (1849–1912)

Tōkyō wird modern

»Aufzeichnungen über das Prosperieren von Tōkyō« – Die Stadtschreiber und -beobachter Terakado, Hattori und Itō

Ein neues Theater – Kawakami Otojirō (1864–1911) und Sadayakko (1871–1946)

Ein Mann, der das Risiko nicht scheute – Fukuzawa Yukichi (1835–1901)

Das Mitsui-Imperium und seine Manager – Dan Takuma (1858–1932) und Ikeda Shigeaki (1867–1950)

Das doppelte Ende der alten Stadt

Der Bürgermeister und das Erdbeben – Gotō Shimpei (1857–1927)

Die »Neue Frau« Yosano Akiko (1878–1942)

Der Skandal um O-Sada (1905–nach 1970)

Der Flaneur Nagai Kafū (1879–1959)

Der Kriegskaiser Hirohito (1901–1989)

LITERATUR

ABBILDUNGSNACHWEIS

VORWORT

Die Geschichte einer Metropole anhand des Wirkens und der Schicksale herausragender Bewohner über die Jahrhunderte hinweg zu erzählen ist eine Idee, die mich sofort faszinierte. Sicherlich ist es kein Zufall, dass der erste Band in dieser Reihe, der 2013 im Nünnerich-Asmus-Verlag erschien, sich mit Rom befasste – eine Stadt, deren prominente Bewohner von Romulus und Remus über Kaiser, Päpste und Künstlerfürsten bis hin zu Mussolini fest zum mitteleuropäischen Bildungskanon gehören. Aber Tōkyō, das bis 1868 Edo hieß? Wie viel verbindet der Leser in deutschsprachigen Ländern mit Ōta Dōkan und Tokugawa Ieyasu, um die beiden Stadtgründer zu nennen?

Ich erinnerte mich an eine Zeitungsnotiz vor Jahren, in der das Ergebnis einer unter Amerikanern durchgeführten Umfrage über die berühmtesten Japaner veröffentlicht wurde. Auf Platz 1 kam Kurosawa Akira, der Filmregisseur, auf Platz 2 Godzilla, das Filmmonster. Im Pariser Louvre hängt das Bild Die Hochzeit von Kanaa von Paolo Veronese (1562/63), das zahlreiche Große seiner Zeit darstellt, darunter niemanden aus Japan. Natürlich kann man argumentieren, dass Europäer erst wenige Jahre zuvor nach Japan gekommen waren und der Informationsfluss noch spärlich war. Die Zeitschrift Stern berichtet in Ausgabe 15/2012 über ein fast vier Quadratmeter großes neues Bild des italienischen Malers Renato Casaro, dass deutlich inspiriert von Veronese 107 historische Persönlichkeiten aus einer Spanne von 33 Jahrhunderten versammelt. Und auch hier sucht man Japaner oder Japanerinnen vergeblich.

Japan hat es tatsächlich verstanden, sich seinen Inselstatus wirksam zu erhalten, und das viele hier immer noch zu entdeckende Unbekannte macht einen Teil seines Reizes aus. Für dieses Buchprojekt ergab sich aber eine klare Wahlmöglichkeit: Die Hände über dem Kopf zusammenzuschlagen und aufzugeben oder aber die Chance zu ergreifen und den Bogen weiter zu spannen, um so nicht nur die Geschichte der Größten und Mächtigsten von Edo/Tōkyō zu erzählen, sondern eine große Breite an Bevölkerungsgruppen und Gesellschaftsschichten auftreten zu lassen, bis hin zu weitgehend namenlos Gebliebenen, die kollektiv Wichtiges beigetragen haben. Da es also außer einem Grundgerüst an Shōgunen und Kaisern kaum ein »Pflichtprogramm« an Persönlichkeiten abzuarbeiten gab, konnte die ganze Vielfalt und Verschiedenheit des städtischen Lebens an Einzelschicksalen dargestellt werden. Diese Stadt, die als erste der Neuzeit die Ein-Millionen-Einwohner-Marke überschritt und seit dem frühen 17. Jh. das Zentrum Japans auf nahezu allen Gebieten ist, bietet eine ganze Fülle an spannenden, tragischen, skurrilen und inspirierenden Lebensgeschichten von Japanern und Nicht-Japanern, Männern und Frauen, Schurken und Helden, Herrschern und Ausgeschlossenen.

Bei der Vorstellung der einzelnen Personen wurde darauf geachtet, sie möglichst oft selbst zu Wort kommen zu lassen. Die Genres Autobiografie und Tagebuch sind vertreten, typischer aber noch bis ins 20. Jh. hinein war es, seine Ansichten und Empfindungen in Poesie zu verpacken, die uns Einblicke gewährt. So hat Kaiser Meiji (1852 – 1912) kaum ein eindeutiges Selbstzeugnis in Prosa, etwa selbst verfasste Reden oder politische Korrespondenz, hinterlassen, dagegen aber rund 100.000 Kurzgedichte.

Ebenfalls wurde Wert darauf gelegt, die einzelnen Geschichten möglichst genau in der sich entwickelnden Stadttopografie zu verorten und Hinweise auf erhaltene Spuren zu geben. Die beiden von Sascha Lunyakov gestalteten Karten »Edo um 1700« und »Tōkyō in den 1920er-Jahren« sollen dem Leser zur Orientierung dienen.

Beim Schreiben über Japan auf Deutsch ist es immer ein Problem, wie japanische Namen wiedergegeben werden. Ich habe mich entschieden, die japanische Eigenart konsequent beizubehalten, also den Familiennamen vor dem persönlichen Namen zu nennen. Tokugawa Ieyasu war also ein Mann mit dem persönlichen Namen Ieyasu aus der Familie der Tokugawa. Vielen Frauennamen war früher ein sog. Verschönerungs-O vorangestellt, so wurde aus Shichi O-Shichi und aus Yuki O-Yuki, bevor gegen Ende des betrachteten Zeitraums das »O« außer und das an den weiblichen Namen angehängte »-ko« in Mode kam. Was die Aussprache japanischer Namen und Begriffe angeht, so sind alle Vokale kurz bis auf diejenigen, die mit einem Längungsstrich versehen sind (ā, ō, ū). »S« wird scharf ausgesprochen wie in »essen«, »z« bezeichnet einen weichen Zischlaut wie bei »Sonne«. Bei Silben wie »-ku« und »-su« bleibt das »u« oft stumm. Die Aussprache des japanischen »r« liegt in der Mitte zwischen dem deutschen Reibelaut »r« und unserem »l«.

Das Buch endet mit der Zerstörung Tōkyōs 1945, doch die Prägung der Stadtkultur durch die vorgestellten Personen ist bis heute wirksam geblieben. So spazieren die historischen Bewohner aus alten Fotografien auf dem Bucheinband nicht von ungefähr auf der modernen Skyline eines Tōkyōter Innenstadtviertels umher: Unter der ultramodernen Glitzerfassade liegt die Geschichte der Stadt Schicht um Schicht. Für sie Edo/Tōkyō ein wenig besser greifbar zu machen, ist das Anliegen dieses Buchs.

Sehr zu Dank verpflichtet für Unterstützung und guten Rat in verschiedenen Phasen der Arbeit bin ich vielen; besonders aber Petra Balmus, Werner David, Masuo Kataoka, Rodney Johnson, Wolfgang Ettig, dem Team vom Nünnerich-Asmus-Verlag sowie meiner lieben Frau Sumie Ishii-Weber für ihre Mühe bei der Beantwortung meiner zahlreichen, sicher manchmal merkwürdig anmutenden Fragen über ihre Heimatstadt.

Okinawa, im Dezember 2015 Till Weber


Edo um 1700

1 Burg Edo (mit dem Wappen der Tokugawa)

2 Ōtemon-Tor

3 Hanzōmon-Tor

4 Viertel Shimbashi

5 Tsukiji

6 Insel Tsukishima

7 Zōjōji-Tempel

8 Viertel Shiba

9 Tameike-Reservoir

10 Viertel Nihonbashi

11 Nakasendō-Überlandstraße

12 Tōkaidō-Überlandstraße

13 Shinagawa (Poststation)

14 Yotsuya

15 Senkakuji-Tempel

16 Ryōgoku-Brücke

17 Viertel Asakusa

18 Viertel Kanda

19 Viertel Hatchōbori

20 Ginza

21 Yūrakuchō

22 Poststation Naitō-Shinjuku

23 Hongo

24 Viertel Ueno

25 Kan’eiji-Tempel

26 Marunouchi

27 Kasumigaseki

28 Viertel Honjō

29 Viertel Ōtemachi

30 Yaesu

31 Tōkaiji-Tempel (südlich des Ausschnitts)

32 Viertel Shitaya

33 Vergnügungsviertel Yoshiwara

34 Viertel Fukagawa

35 Hinrichtungsstätte Suzugamori (südlich des Ausschnitts)

36 Koishikawa

Graphik: Sascha Lunyakov, Konzeption: Till Weber

EDO



Die Burg von Edo auf einem bemalten Raumteiler aus dem 17. Jh. (Edo-zu byōbu). Zu sehen ist der Haupthof mit dem tenshu (Donjon), der 1657 abbrannte und bis heute nicht mehr errichtet wurde.

Edo, vom Fischerdorf bis zur Burgstadt

Am Anfang flog ein Kopf –
Die Geschichte von Taira Masakado (? – 940)

Eingekeilt zwischen Geschäftshochhäusern befindet sich im Tōkyōter Innenstadtviertel Ōtemachi ein kleines Monument, vor das seit vielen hundert Jahren regelmäßig frische Blumen und kleine Gaben gestellt werden, heutzutage meistens von jungen Angestellten der Firmen, deren Büros angrenzen. Das Monument ist das Schädelgrab des Taira Masakado (gest. 940), den sein Biograph Karl Friday als den »ersten Samurai« bezeichnet hat.

Im 10. Jh. gab es an dieser Stelle weder Tōkyō, noch Edo, sondern ein kleines Fischerdorf namens Shibazaki, welches an die heutige Bucht von Tōkyō grenzte, die damals noch nicht durch Landauffüllungen verkleinert worden war. Japan wurde zentralistisch vom kaiserlichen Hof in Kyōto aus regiert und je weiter eine Provinz von der Hauptstadt entfernt lag, als desto primitiver galt sie; Shibazaki und die ganze Kantō-Region lagen sehr weit entfernt von Kyōto.

Wie uns die möglicherweise noch im 10. Jh. verfasste Chronik Shōmonki berichtet, stammte Taira Masakado aus guter Familie, hatte am Kaiserhof gedient und lebte schließlich auf dem Lande in der Gegend des heutigen Tōkyō. Sein Aufstand 939/940 war eine historisch sehr frühe Dokumentation des Machtanspruchs der neuen Samurai-Klasse. Diese waren waffentüchtige, damals noch sozial weniger geachtete Clans, die von mächtigen Hofadligen rekrutiert worden waren, um in weit entfernten Provinzen für sie die Schmutzarbeit zu machen. Sie hatten vor allem dafür zu sorgen, dass die Einnahmen aus Gütern und Abgaben regelmäßig in die Hauptstadt flossen. Samurai leitet sich von dem alten Wort saburai ab, was ursprünglich einen »Gefolgsmann« bezeichnete. Zu Masakados Zeiten war das Selbstbewusstsein dieser waffenerprobten Lokalherren bereits im Anstieg. Es dauerte aber bis 1185 bis tatsächlich ein Samurai, Minamoto Yoritomo, als Shōgun dem Kaiserhof die Macht dauerhaft entriss. Interessanterweise wählten die Minamoto mit Kamakura einen Ort als ihre Hauptstadt, der ebenfalls in den östlichen Kantō-Provinzen liegt, keine 60 km von Masakados Schädelgrab in Tōkyō entfernt.

935 war es ebenfalls ein Minamoto, ein Landadliger im Osten wie Masakado, der diesen attackierte, was an sich so wenig bemerkenswert war wie eine lokale Ritterfehde im deutschen Mittelalter. Es wurde jedoch eine Kette von Ereignissen ausgelöst, die den zunächst gegen seine Lokalrivalen siegreichen Masakado in Konflikt mit dem Kaiserhof brachte, als er 939 aus nicht ganz geklärten Gründen den Sitz des kaiserlichen Gouverneurs der Provinz Hitachi, nördlich des heutigen Tōkyō, stürmte. Nun war der Rubikon überschritten, Taira Masakado war zum Rebellen gegen seinen Kaiser geworden.

In typischer Samuraimanier entschied sich Masakado für die offensive Variante: Anstatt in seiner Provinz sitzen zu bleiben und auf das Erscheinen einer kaiserlichen Strafexpedition zu warten, eroberte er die Hauptquartiere von acht weiteren kaiserlichen Provinzen, die schon im Wesentlichen das Gebiet des heutigen Kantō ausmachten. Wer A sagt, sollte auch B sagen, also ließ Masakado sich zum »Neuen Kaiser« ausrufen und begann, einen Hof mit Palast in Shimōsa aufzubauen, so berichtet jedenfalls die Quelle Shōmonki. Ob sich eine Usurpation wirklich in dieser dramatischen Zuspitzung vollzog oder Masakado einfach eine starke Position aufbaute, um einen günstigen Pardon aushandeln zu können, muss dahingestellt bleiben. In jedem Fall wurde der Kaiserhof auf dem falschen Fuß erwischt, denn er hatte bereits gleichzeitig mit den Folgen von Naturkatastrophen, Piratenangriffen und anderen Aufständen zu kämpfen.

Masakados »Kaisertum« währte trotzdem nur wenige Monate, denn schon im Frühjahr 940 erschien eine starke kaiserliche Armee, die seine Truppen schlug. Taira Masakado fiel in der Schlacht, auch dies gehört zum Konzept des wahren Samurai. Am 10. Tag des 5. Monats wurde sein abgeschlagener Kopf am Ostmarkt der Hauptstadt öffentlich zur Schau gestellt. Dort verblieb er allerdings nicht auf Dauer, denn, so berichten die Legenden, der Kopf flog nach drei Monaten weg und landete in Shibazaki, dem späteren Edo/Tōkyō, immerhin fast 500 km weiter im Osten Japans. Die erschrockenen Fischer und Bauern dort schufen ihm ein Schädelgrab und begannen sich Sorgen zu machen, welches Unheil der Geist dieses Rebellen wohl anrichten könnte. Außerdem gab es anscheinend auch ein Gefühl der Anerkennung für den tapferen Aufstand gegen die ferne, ungeliebte Machtzentrale durch einen Mann aus der eigenen Region (Auch viel später, als Edo/Tōkyō längst selbst zum Machtzentrum des Landes geworden war, empfand man Freude in mancher Provinz, »denen da« in der Hauptstadt einmal eins auswischen zu können).

In Japan geht man davon aus, dass unbillig aus dem Leben Geschiedene böse Geister werden können, die sich an später Lebenden rächen. Nun ist das Schädelgrab von Tōkyō - Ōtemachi zwar leer, wie man seit 1923 weiß; aber man kann ja nie wissen. Tatsächlich wurden im Laufe der auf den Schädelflug folgenden Jahrhunderte immer wieder Zusammenhänge zwischen Phasen der Vernachlässigung des Grabes und ungünstigen Ereignissen wie Naturkatastrophen beobachtet. Besonders heftig spielte Masakado dem Finanzministerium mit, dessen Gebäudeneubau nach dem großen Erdbeben von 1923 auf Kosten des Schädelgrabs ging. Plötzlich gab es eine große Zahl unerklärlich versterbender oder bei Unfällen umkommender Mitarbeiter, darunter der Finanzminister Sasoku Seiji selbst – insgesamt 14 Tote in zwei Jahren. 1928 ließ man sicherheitshalber das Finanzministerium an dieser Stelle abreißen und das Schädelgrab restaurieren, woraufhin die Unfälle zunächst endeten, bis 1940, fast auf den Tag genau 1.000 Jahre nach Taira Masakados Tod, ein Blitz in einem Regierungsgebäude in Ōtemachi einschlug. Der folgende Großbrand zerstörte neun Regierungsbehörden, darunter das Finanzministerium.

Der entsetzte Finanzminister rief Shintō-Priester zu Pazifizierungsritualen herbei und ließ das Schädelgrab aufwändig in seinen Originalzustand von vor 1923 versetzen. Darüber hinaus verlegte er das Finanzministerium in das heutige Regierungsviertel Kasumigaseki in sicherer Entfernung. Das Land mit dem Schädelgrab fiel an die Stadt Tōkyō und bis heute hat sich hier ein vornehmes Geschäftsviertel entwickelt. Es sind die Firmen in den besonders gefährdeten Nachbargebäuden, die kein Risiko eingehen wollen und immer wieder Angestellte abstellen, um das Schädelgrab zu pflegen und zu schmücken, damit der rebellische Geist des Taira Masakado besänftigt wird.

Der erste Stadtgründer Ōta Dōkan (1432 – 1486)

In den Jahrhunderten vor und nach Taira Masakado galten die Provinzen »östlich der Bergkette« (Kantō) als zurückgeblieben und für einen kultivierten Menschen aus dem Kansai-Gebiet (den Provinzen »westlich der Bergkette« einschließlich der Hauptstadt Kyōto) als unerträglich. Die Bewohner des Kantō-Gebiets wurden als azuma ebisu (»östliche Barbaren«) bezeichnet, und das waka-Gedicht des aus Kyōto stammenden Adligen Ariwara Narihira (825 – 880) wurde zu einem Klassiker, der die Einsamkeit eines gebildeten Reisenden in dieser Region ausdrückte. Er hatte einen ihm unbekannten Vogel gesehen und von den Einheimischen erfahren, dass man diesen »Hauptstadtvogel« nannte.

»Wenn, wie dein Name sagt,

Du ein Vogel der Hauptstadt bist,

Dann sag mir bitte dieses:

Ist die Person, die ich zuhause liebe,

Noch am Leben oder nicht?«

Diese trostlose Momentaufnahme kontrastiert mit einem anderen waka-Gedicht, das in derselben Region 1486 als Sterbegedicht von Ōta Dōkan verfasst wurde:

»Hätte ich nicht gewusst,

Dass ich schon

Tot bin,

Beklagte ich den Verlust

Meines Lebens.«

Was war es, dass das Leben im Osten so viel lebenswerter gemacht hatte für Ōta Dōkan? In der Tat hatte sich seit dem 9. und 10. Jh., den Zeiten von Ariwara Narihira und Taira Masakado, viel verändert in der Region. Dazu gehörten das Auftreten des Ortsnamens »Edo« und ein bedeutender zivilisatorischer Aufschwung.

Ariwaras Kantō war noch im Wesentlichen eine einzige Graswüste mit vielen Sümpfen, die den größten Teil der Musashi-Ebene einschließlich des heutigen Stadtgebiets von Tōkyō bedeckte. Nur zwei Überlandstraßen führten vom Landeszentrum im Westen hierher, die Tōkaidō am Pazifik entlang sowie die Tōsandō über die Bergketten, die man heute auch als die Japanischen Alpen bezeichnet. Es gab reichlich Wasser von Flüssen, allen voran vom Arakawa und dem mächtigen Tonegawa, der den Kantō in einen Nord- und Südteil teilt. Häufige Überschwemmungen weiter Teile der Ebene erschwerten das Leben der wenigen Bauern, und auch von Mückenplagen wird berichtet. Am Meer gab es Fischer, außerdem wohnten Gruppen rauer Krieger vom Schlage des Taira Masakado und seiner Rivalen auf ihren Anwesen. Einer von diesen war der lokale Machthaber Edo Shigenaga, der ein Parteigänger der Minamoto war, die 1185 ihre neue Hauptstadt und den Sitz des Shōgun, also des faktischen Machthabers des Landes, nach Kamakura im Süd-Kantō verlegten. »Edo« bedeutet »Tor zur Bucht«, und bezog sich auf den von der gleichnamigen Familie kontrollierten Landstrich an der heutigen Bucht von Tōkyō. Die Stelle lag strategisch günstig am weiten Delta des Tonegawa. In der Nebenbucht von Hibiya gab es reichlich Fisch zu fangen, der Hirakawa-Fluss gab Frischwasser und die Kōjimachi-Hügel boten Schutz vor Überschwemmungen und Feinden. Zudem gab es einen Weg entlang der Küste nach Kamakura. Edo Shigenaga errichtete auf den nördlichen Hügeln eine Befestigungsanlage, das erste Fort Edo.

Im späten 15. Jh. wurde der größte Teil des südlichen Kantō-Gebiets vom Fürsten Uesugi Sadamasa (1443 – 1494) kontrolliert, der als sechste Person vom Shōgun zum Kantō kanrei ernannt worden war, also zu seinem offiziellen Stellvertreter in dieser Region. Das Shōgunat war zur Familie Ashikaga gewechselt, die in Kyōto residierte, und der Kantō kanrei hatte Kamakura zu seiner Regionalhauptstadt gemacht. Einer der Hauptvasallen der Uesugi war der 1432 geborene Ōta Sukenaga, ein robuster Kriegsmann. Ōta war vor allem als Stratege bekannt und erkannte die günstige Lage des alten Forts Edo. 1457 begann er umfangreiche Bauarbeiten und es entstand eine neue Burg, welche die Keimzelle der späteren Burg der Tokugawa-Shōgune und auch die Stätte des heutigen Kaiserpalastes werden sollte.

Ōtas Burg Edo dürfen wir uns nicht vorstellen wie die großen japanischen Schlossanlagen wie Himeji oder Ōsaka mit meterhohen Steinsockeln, riesigen Grabenanlagen und weißverputzten Aufbauten mit schweren Dachziegeln aus Ton. Diese Anlagen entstanden in ihrer Mehrzahl erst an der Wende vom 16. zum 17. Jh. Im 15. und größtenteils noch im 16. Jh. wurden Erdwälle aufgeschüttet und Palisaden und Gebäude aus Holz ausgeführt. Statt einer Lage in der Ebene mit weiten Gräben wählte man Lagen auf Hügel- oder Bergkuppen, deren topografische Merkmale geschickt in den Verteidigungsplan einbezogen wurden. Von Ōtas Edo ist bekannt, dass die Burg fünf »steinerne« Tore aufwies, was höchstwahrscheinlich nur bedeutete, dass die Tore steinerne Sockel besaßen. Dennoch demonstrierte das im damaligen Kantō-Gebiet erhebliche Stärke. Das Areal war in einen Haupthof, einen zweiten Hof und einen äußeren Hof dreigeteilt; hier liegt der Ursprung der späteren Höfe Honmaru, Ninomaru und Sannomaru der Burg der Tokugawa, wie sie heute noch in Tōkyō existieren. An Bauwerken gab es Wirtschafts- und Lagergebäude, Unterkünfte, zwei Türme sowie eine Residenz für Ōta selbst, der außerdem auch in Kamakura eine Residenz besaß.

Als der Ōnin-Krieg von 1467 – 1477 die ferne Hauptstadt Kyōto verwüstete, erwies sich das als Glücksfall für den Herrn von Edo. Viele Flüchtlinge mit spezialisierten Berufen oder sogar von Adel erreichten die Region und sorgten für einen wirtschaftlichen wie kulturellen Aufschwung. Das Dorf Hirakawa am gleichnamigen Fluss unterhalb der Burg entwickelte sich zu einer aufblühenden kleinen Burgstadt (jōkamachi), in die jetzt auch Händler kamen, die Fisch, Reis, Tee und sogar Importwaren aus anderen Ländern Asiens mitbrachten. Die weite Brücke Takahashi über die Mündung des Hirakawa wurde zu einem frühen Wahrzeichen von Edo, so wie der von Ōta Dōkan gegründete Sannō-Hie-Schrein zu einem der drei bedeutendsten Shintō-Heiligtümer Tōkyōs wurde. Die Stadtgestalt wurde auch durch die Umleitung eines Teils des Hirakawa-Flusses verändert, wodurch östlich der Kanda-Brücke ein neuer Fluss entstand, der heute von der zentralen Brücke Nihonbashi überquert wird, dem Ausgangspunkt der bedeutendsten Straßen des Landes. In den Jahrhunderten nach Ōta wurden weitere Flüsse umgeleitet und kanalisiert, Hügel abgetragen und Teile der Bucht aufgefüllt, bis sich die Stadttopographie zur heutigen entwickelte.

Ōta Sukenaga schor sich schon 1458 den Kopf und wurde Laienpriester. Dabei nahm er den buddhistischen Namen Dōkan an. Solche Konversionen waren unter Samurai nicht selten und sie bedeuteten in der Regel kein völliges Entsagen von der Welt. Sie konnten aber Entlastung von den Tagesgeschäften und von familiären Pflichten bringen.

Tokugawa Yoshinobu (1837 – 1913), der letzte der 15 Shōgune aus seinem Hause, aufgenommen 1867 in Ōsaka in höfischer Tracht von Frederick Wiliam Sutton aus der königlich-britischen Marine. In diesem Jahr gab der letzte Shōgun sein Amt an den Kaiser zurück und wurde zum Privatmann.

Ōta Dōkans Persönlichkeit ging weit hinaus über die eines erfolgreichen Militärs und Burgstadtgründers. Von ihm erzählt man sich eine Geschichte, wie er sich seiner mangelnden Bildung bewusst wurde. Eines Tages weilte er auf der Jagd, als ein plötzlicher Regen über ihn hereinbrach. Er hielt an einer einfachen Hütte an und fragte das dort lebende Mädchen, ob sie ihm einen Regenumhang aus Reisstroh leihen könnte. Wortlos brachte sie ihm ein Japanisches Goldröschen (yamabuki). Ōta Dōkan zog verwirrt und durchnässt von dannen. Erst später in seiner Residenz machte ihn ein Gefolgsmann auf die Bedeutung der Blumengabe aufmerksam. In einem alten Gedicht des Prinzen Kaneakira heißt es, das Goldröschen blühe sehr schön, aber brächte nichts hervor. Letzteres kann im Japanischen ein Wortspiel mit »hat keinen Regenmantel« bedeuten. Das beschämte Mädchen hatte ihm also »durch die Blume« zu verstehen gegeben, dass es zu arm war, um einen Regenmantel zu besitzen.

Von nun an arbeitete Ōta Dōkan an seiner Bildung und schrieb bald selbst Gedichte. Eines seiner berühmtesten, neben seinem Sterbegedicht, beschreibt die Lage seiner Burg Edo:

»Meine Behausung

Grenzt an einen Kiefernhain

An der blauen See.

Von ihrer bescheidenen Traufe aus

Kann man den sich erhebenden Fuji sehen.«

Auch für dieses Gedicht wird Ōta Dōkan bis heute geschätzt und geliebt, fasst es doch die über die Jahrhunderte andauernde Freude der Japaner und ihrer Besucher zusammen, wenn sie den majestätischen Berg Fuji von Edo/Tōkyō aus zu Gesicht bekommen.

Ōta Dōkan war jedoch kein langer Lebensabend vergönnt. Er musste weiterhin die Pflichten eines Vasallen gegenüber Uesugi Sadamasa erfüllen, der in erbitterten Auseinandersetzungen mit regionalen Rivalen stand. Eine dieser Familien, die Hōjō, sollten die Region einschließlich Edo für den größten Teil des 16. Jhs. beherrschen. 1486 wurde Ōta von seinem Herrn fälschlich der Illoyalität beschuldigt und kam in Sagami ums Leben. Vermutlich geschah dies, wie unter Samurai üblich, durch die förmliche Übermittlung einer »Einladung« zum Seppuku, dem rituellen Selbstmord durch das eigene Schwert. Ōta Dōkans eingangs zitiertes Sterbegedicht drückt gleichzeitig das Bedauern über das Ende eines so reichhaltig gewordenen Lebens aus, ohne die Haltung der Todesverachtung aufzugeben, die von einem wirklichen Samurai zu erwarten war. Ōta Dōkan ging, aber Burg und Stadt Edo blieben auf der Landkarte. Sie waren zu Orten geworden, in denen es sich zu leben lohnte.

Ōta Dōkan wird, neben Tokugawa Ieyasu, heute als zweiter Stadtgründer von Tōkyō gefeiert, besonders am 1. Oktober, dem offiziellen Stadtgründungstag. 1956 war er sogar die Hauptperson des Gedenkens im Rahmen der offiziellen 500-Jahresfeier des Großraums Tōkyō. Sich auf den Burgbaubeginn unter Ōta Dōkan zu beziehen, mochte günstig sein, um nach den Verwüstungen des Zweiten Weltkriegs den historischen Bogen weiter zurück zu spannen und der Hauptstadt ein ehrwürdiges Alter zu geben. Seit 1956 also nimmt Ōta Dōkan einen vorderen Platz ein unter den regionalen Heldenfiguren Japans. Zahlreiche Denkmäler, Bücher, Filme und andere Medien legen davon beredtes Zeugnis ab.

977,41 ₽
Возрастное ограничение:
0+
Дата выхода на Литрес:
23 декабря 2023
Объем:
300 стр. 17 иллюстраций
ISBN:
9783945751701
Правообладатель:
Автор
Формат скачивания:
epub, fb2, fb3, ios.epub, mobi, pdf, txt, zip

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