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Abbildung 62 Räumliche Beziehung Täter – Opfer in absoluten Zahlen. Quelle: BMI 2010–2017, Polizeiliche Kriminalstatistik 2009–2016, Tabelle 93, Tatmittel Internet, Tatschlüssel
Abbildung 63 Räumliche Beziehung Täter – Opfer prozentualer Vergleich. Quelle: BMI 2010–2017, Polizeiliche Kriminalstatistik 2009–2016, Tabelle 93, Tatmittel Internet, Tatschlüssel 131400
Abbildung 64 Räumliche Beziehung Täter – Opfer absolut Brandenburg. Quelle: PKSBB, 2009–2016, Tabelle 93, Tatmittel Internet, Tatschlüssel 131400.
Abbildung 65 Räumliche Beziehung Täter – Opfer prozentual Brandenburg. Quelle: PKSBB, 2009–2016, Tabelle 93, Tatmittel Internet, Tatschlüssel 131400.
Abbildung 66 Entwicklung der Aufklärungsquote Grundtabelle 05 in absoluten und anteiligen Zahlen. Quelle: BMI 2010–2019, Polizeiliche Kriminalstatistik 2009–2018, Grundtabelle 05, Tatschlüssel 131400
Abbildung 67 Prozentuale Aufklärungsquote Grundtabelle 01 und Grundtabelle 05. Quelle: BMI 2010–2019, Polizeiliche Kriminalstatistik 2009–2018, Grundtabelle 01, Grundtabelle 05, Tatschlüssel 131400
Abbildung 68 Aufklärungsquote Brandenburg TM Internet. Quelle: PKSBB, 2009–2016, Tatmittel Internet, Tatschlüssel
Abbildung 69 Verteilung/Aburteilung Cybergrooming laut PKS Sachsen. Quelle: Ulbig 2017, Kleine Anfrage zu Cybergrooming Drs. Nr.: 6/8977.
Abbildung 70 Arten des Dunkelfeldes.
Abbildung 71 Anzahl Personen mit sexuellem Onlinekontakt zu Jugendlichen. Quelle: Neutze/Osterheider 2015, Missbrauch von Kindern, S. 9.
Abbildung 72 Prozentualer Vergleich unangenehmer Erfahrungen im Chat. Quelle JIM-Studien 2003–2007.
Abbildung 73 Onlinebasierte sexuelle Belästigung nach Altersstufen in der Schweiz in Prozent. Quelle: JAMES-Studie 2014–2016.
Abbildung 74 Persönliche Treffen mit Internetbekanntschaften in der Schweiz in Prozent. Quelle: JAMES-Studie 2014–2016.
Abbildung 75 Durchschnittliches Tatverdächtigen Profil
Abbildung 76 Durchschnittliches Opferprofil.
Abbildung 77 Vergleich der Häufigkeitsziffer PKS Gesamt gegenüber IT-Angriffen auf die Bundeswehr
Abbildung 78 Handlungsmöglichkeiten auf Basis des Broken Web Ansatzes
I. Einführung
Das Verwaltungsgericht Cottbus hatte am 14. Februar 2018 einen ungewöhnlichen Fall zu entscheiden1. Das Gericht urteilte, dass im Rahmen eines Strafverfahrens gegen einen Brandenburger Polizeibeamten wegen des Verdachtes des sexuellen Missbrauchs von Kindern eine erkennungsdienstliche Behandlung – sprich Abbildung – seines Geschlechtsteils in Betracht komme2. Hintergrund des Urteils war, dass dem Polizeibeamten vorgeworfen wurde über seinen privaten Facebook-Account von seinem Dienstrechner aus Kontakt zu einem 13-jährigen Mädchen aufgenommen zu haben. Der Beschuldigte soll in der Folge mit dem Kind „erotische Gespräche“ – vermutlich sind hier sexualisierte Gespräche gemeint – geführt haben, bei dem das Kind ihm auch ein Bild von sich zugesandt hat – wobei das Gericht die Art und Weise des Bildes nicht weiter thematisierte3. Das im Rahmen der Entscheidung beschriebene Vorgehen des Beschuldigten, also das Suchen und Finden von kindlichen Opfern, der offenbar vorhandene Aufbau eines Vertrauensverhältnisses, die Verlagerung auf sexuell bzw. pornografisch geprägte Kommunikationen und der Austausch von eigenproduzierten Bildern – nicht selten pornografischem Inhaltes – beschreibt in seiner Phänomenologie die onlinebasierte Anbahnung eines sexuellen Missbrauchs. Für diese Vorgehensweise hat sich im deutschsprachigen Raum sowohl im allgemeinen Sprachgebrauch als auch in der Wissenschaft4 weitestgehend der unbestimmte Begriff „Cybergrooming“ etablieren können5.
Bei einer näheren Analyse des Phänomens ist jedoch auch ersichtlich, dass es offenbar kein allgemeingültiges Verständnis davon gibt, was der Begriff konkret für ein Phänomen beschreibt. Insbesondere zwischen den kriminalwissenschaftlichen und sozialwissenschaftlichen Zugängen zum Cybergrooming verläuft hierbei ein offensichtlicher Riss. Gerade die sozialwissenschaftliche Sicht setzt teilweise im Vergleich zum juristischen Tatbestand an einer sehr differenten Phänomenbeschreibung an. Dieses unterschiedliche Verständnis hat dann auch Auswirkungen auf die Betrachtung und Analyse sowohl des Hellfeldes – in Form der Polizeilichen Kriminalstatistik (PKS) – als auch des Dunkelfeldes in Form von nationalen und internationalen Studien. Insbesondere die Dunkelfeldanalysen bedürfen hierbei einer besonderen Analyse, da nur die wenigsten Studien ein gemeinsames Phänomenverständnis bzw. eine generelle Definition in ihren Untersuchungen zu Grunde legen. Mit der vorliegenden Arbeit soll diese wichtige Perspektive in die Phänomenbetrachtung integriert werden.
Im Rahmen des oben genannten Beispielsfalls gab das Gericht in seiner Urteilsbegründung aber auch an, dass aufgrund der besonderen Vorgehensweise des Täters mit weiteren Taten letztlich durchaus gerechnet werden kann. Vor allem fand bei der Bewertung Beachtung „[…] dass der Antragsteller im Rahmen der Vorbereitung bzw. Begehung der Tat unter Nutzung des dienstlichen Rechners bewusst das Risiko jederzeitiger Entdeckung durch Arbeitskollegen oder durch den Dienstherrn bzw. durch die für den Dienstherrn tätigen Mitarbeiter der IT-Stelle in Kauf genommen hat […] zumal er neben – dem [sic!] ihm ohne weiteres bekannten – strafrechtlichen Konsequenzen mit dienstrechtlichen Schritten bis hin zu seiner Entfernung aus dem Staatsdienst habe rechnen müssen […]“6.
Interessanterweise ist aber der Sachverhalt nicht durch dienstliche Ermittlungen oder Kollegen des Beschuldigten bekannt geworden. Vielmehr soll der Vater der Geschädigten auf den Kontakt aufmerksam geworden sein und ihn dann zur Anzeige gebracht haben 7.
Dieser Sachverhalt steht buchstäblich für eine Vielzahl an Fragen, die sich um dieses Phänomen drehen:
• Nahm der Beschuldigte – immerhin ein entsprechend ausgebildeter oder studierter Polizist – das Risiko der Entdeckung tatsächlich einfach so hin, weil sein Drang zur Tathandlung so hoch war?
• Konnte er eventuell die Strafbarkeit seiner Handlung nicht richtig einschätzen und ging daher davon aus, dass die Kontaktanbahnung über einen Dienstrechner unproblematisch sei?
• Oder ging er davon aus, dass die Strafverfolgungswahrscheinlichkeit so gering war, dass sich für ihn kein großes Risiko ergibt?
• Wie erreichte er eigentlich sein Opfer?
• Schrieb er einfach einen unbekannten Account auf Facebook an oder kannte er das Kind aus dem physischen Raum und nahm dann Kontakt auf? Hat er nur zu einem einzigen Kind Kontakt aufgenommen?
I.1 Das Internet als Viktimisierungsort des sexuellen Kindesmissbrauchs
Dabei ist es faktisch irrelevant, ob diese Fragen für den konkreten Fall beantwortet werden können. Es ist eher von Relevanz, welche Erkenntnisse man zu diesem Phänomen hat und ob dieser Fall ein ungewöhnlicher Einzelfall ist oder für ein grundsätzliches Risiko im digitalen Raum steht8. Es stellt sich aber auch die Frage, ob bisherige kriminologische Theorien zur Erklärung von Verhalten, das von der Norm abweicht, auch auf solche offenbar durch die Digitalisierung begünstigende Delikte Anwendung finden können. Denn seit ungefähr 15 Jahren hat sich eine weitere Form von öffentlichem Raum gebildet, die insbesondere durch Politiker mit dem Attribut ‚rechtsfrei‘ assoziiert wird9. In diesem digitalen Raum des Internets10 bewegen sich Kinder mittlerweile ganz selbstverständlich und das Einstiegsalter für die Nutzung digitaler Medien sinkt jedes Jahr11. Dabei wird unter digitalem Raum in dieser Arbeit die Gesamtheit der unterschiedlichsten einzelnen Programme verstanden, die eine onlinebasierte Verknüpfung und Kommunikation von Menschen ermöglichen. Dies ist vergleichbar mit dem öffentlichen Raum, in dem einzelne Plätze und Straßen für sich genommen Räume darstellen, während gleichzeitig die Gesamtheit dieser Plätze einen neuen gemeinsamen Raum darstellen kann. Der digitale Raum setzt sich einerseits aus den unterschiedlichsten einzelnen Programmen zusammen und kann gleichzeitig in seiner Gesamtheit auch als ein eigenständiges Konstrukt wahrgenommen werden. Dabei ist der digitale Raum insbesondere geprägt von der Nutzung sog. Sozialer Medien, die eine offene, aber auch weitestgehend anonyme Interaktion und Kommunikation der Nutzer untereinander ermöglicht12. Sexualtätern eröffnet sich hier also ein Raum, in dem sich Kinder bewegen, aber offenbar nur eine geringe Strafwahrscheinlichkeit besteht13. Der „Routine Activity Approach“ von Cohen und Felson – der maßgeblich auf der Rational Choice Theorie (Theorie des rationalen Wahlhandelns)14 aufbaut – geht davon aus, dass ein Täter dann eine abweichende Handlung begeht, wenn er in einer konkreten zeitlichen und räumlichen Situation ein sich lohnendes Ziel hat, es geringe Schutzmechanismen gibt und der Täter selbst eine hohe innere Motivation zur Tathandlung aufweist15. Diese drei Elemente beeinflussen sich gegenseitig: Wenn eines schwächer ausgeprägt ist, kann dies durch die Stärkung eines anderen Elements ausgeglichen werden. Wenn beispielsweise das innere Verlangen zur Tathandlung hoch und ein greifbares und motivierendes Ziel vorhanden ist, schreckt ggf. auch ein hohes Schutzniveau einen Täter nicht ab. Gleichzeitig müssen aber auch die einzelnen Elemente zusammenkommen. Ein Täter handelt dementsprechend nur dann, wenn ein Ziel – zumindest aus seiner Sicht – auch greifbar ist. In dem skizzierten Sachverhalt deutete der Richter beispielsweise an, dass der Täter eine so hohe „Motivation“ hatte, den Kontakt zu dem Kind – dem Ziel – aufzubauen, dass ihn auch die Schutzmechanismen in Form der Entdeckungswahrscheinlichkeit nicht von der Tathandlung an seinem Arbeitsplatz abhalten konnten16. Diesem Gedanken entsprechend ist es auch naheliegend, dass die primären Orte der sexuellen Viktimisierung von Kindern in der Familie oder dem sozialen Nahfeld liegen17. Eine Studie des Kriminologischen Forschungsinstituts Niedersachsen (KFN) ergab, dass 49,1 Prozent aller Kinder, die von sexuellen Viktimisierungserfahrungen mit Körperkontakt berichteten, einen männlichen Familienangehörigen als Täter angaben. Weitere 27,3 Prozent waren männliche Bekannte. Insgesamt berichteten demnach 76,4 Prozent von bekannten männlichen Tätern aus dem sozialen Nahfeld.
Lediglich 19,8 Prozent berichteten von unbekannten Tätern und 3,8 Prozent von Täterinnen18. Nach der Mikado-Studie haben wiederum 20 Prozent der sexuellen Kindesmissbraucher19 und/oder Nutzer von Missbrauchsabbildungen entweder im Beruf oder in einer ehrenamtlichen Tätigkeit einen Kontakt zu Kindern20. Nach der Routine Activity Theorie ist diese hohe Zahl auch folgerichtig, da der Täter hier relativ unbeobachtet Zugang zu seinem Ziel – den Kindern – hat und durch seine Funktion oder Eigenschaft Übergriffe auch gut verschleiern kann. Durch diesen Zugriff können sie zudem die gesellschaftlichen wie individuellen Schutzmechanismen minimieren bzw. umgehen, was nach der Routine-Activity-Theorie eine Überwindung der Hemmschwelle zur Tatbegehung erhöht. Die Täter sind demnach primär dort zu finden, wo ihre kindlichen Opfer sich aufhalten und die Schutzmechanismen gering sind. Für den digitalen Raum und die Thematik des Cybergroomings liegt daher eine Übertragung dieses Ansatzes nahe, die bei der Erörterung der Erklärungs- und Präventionsansätze Vertiefung finden wird. Dies würde darauf hindeuten, dass dieser digitale Raum mittlerweile einen quantitativ signifikanten Viktimisierungsort für Kinder und auch Jugendliche darstellt.
I.2 Cybergrooming als akzeptierte Normalität
Ein Polizeibeamter des Landeskriminalamtes Baden-Württemberg zog im Rahmen einer polizeilichen Operation gegen Cybergroomer zur Beschreibung der generellen Lage den Vergleich mit einem Piranhabecken. Hiermit wollte er beschreiben, dass sich die Täter so aggressiv wie Piranhas auf die mutmaßlichen kindlichen Opfer im digitalen Raum stürzen würden21. Ein Polizeibeamter der Taskforce Internet des Landeskriminalamtes Wiesbaden beschreibt in einer TV-Reportage, dass „[…] Kinder, die auf solchen Chat-Plattformen unterwegs sind, innerhalb von wenigen Sekunden bis maximal ein bis zwei Minuten bereits von Pädophilen sexualisiert angesprochen werden […]“22. Im Rahmen eines Cybercrime-Lagebildes kommt das Landeskriminalamt Nordrhein-Westfalen (LKA NRW) zu einer ernüchternden Einschätzung des Umfanges des Phänomens. Demnach sei „[…] für viele Kinder und Jugendliche die Annäherung mit sexuellen Motiven bereits selbstverständlicher Teil der Kommunikation im Internet […]“ und daher würden die „[…] Opfer ein solches Verhaltens oftmals zunächst nicht als strafbare Handlung bewerten […]“23. Trotz dieser Einschätzung liegt aber die Aufklärungsquote für Delikte im Bereich Cybergrooming seit 10 Jahren gemäß einer Analyse der zu Grunde liegenden PKS konstant bei über 80 Prozent24. Dies könnte als Anzeichen dafür ausgelegt werden, dass der Strafverfolgungsdruck bei diesem Delikt offenbar nicht hoch genug sein könnte. Denn wenn die Straftaten mit hinreichenden Anhaltspunkten durch die Strafverfolgungsbehörden aufgeklärt werden können, kann dies auch darauf hindeuten, dass die aufgeklärten Täter nur geringe oder unwirksame Schutzmechanismen zur Unterbindung einer wirksamen Strafverfolgung oder gar keine nutzen. Insgesamt können diese Indizien daher darauf hindeuten, dass es entweder objektiv nur eine sehr geringe Wahrscheinlichkeit für Täter gibt, bei entsprechenden Cybergrooming-Prozessen auch angezeigt zu werden, oder dass die Täter diese nur subjektiv als gering empfinden und daher nur geringe Schutzmaßnahmen gegen die Strafverfolgung einleiten. Um dieser Entwicklung zu begegnen, erscheint es notwendig herauszuarbeiten, wo die Opfer viktimisiert werden, welche Umstände die Viktimisierung unterstützen und welche Schutzmechanismen in Form des Strafrechts, aber auch der kriminalpolitischen Ansätze ausreichend sind, um eine solche Viktimisierung zu unterbinden.
Eine besonders kontroverse Diskussion hatte in diesem Zusammenhang bereits 2010 die Sendung „Tatort Internet“ ausgelöst. In dieser gaben sich Journalisten im Internet als Kinder aus, ließen sich in einschlägigen Internetforen durch offenkundige Cybergroomer kontaktieren und trafen sich dann mit diesen Kontakten. Dabei wurden die Personen, die sich mit dem vermeintlichen Kind treffen wollten, von einem Kamerateam entsprechend bloßgestellt25. Diese Sendung hat auch in der medialen Darstellung und in der Gesellschaft Kritik ausgelöst26. Aber nicht nur Journalisten gehen so vor: Eine Vielzahl Personen, Gruppen oder auch Institutionen führen noch heute vergleichbare ‚Operationen‘ durch. Im Rahmen dieser an Vigilantismus grenzenden Handlungen werden die Täter wie bei „Tatort Internet“ zumeist vor einer laufenden Kamera bloßgestellt und die Aufnahmen nicht selten auch in Sozialen Medien veröffentlicht. Der YouTuber MemoHD27 hatte mehrere solcher Videos mit teilweise sechsstelligen Zugriffszahlen und tausenden von Kommentaren veröffentlicht28. Eine ganze Reihe anderer YouTuber betreiben ähnliche Formate, die offenkundig auch zur Erhöhung der Aufmerksamkeit des eigenen Kanals dienen sollen29. Einen etwas anderen Weg ging der niederländische Zweig der Organisation Terre des Hommes bereits im Jahr 2012. Diese setzten mit Sweety einen täuschend echt aussehenden Avatar eines 10-jährigen Mädchens ein, um sich von Sexualtätern ansprechen zu lassen und diese letztlich zu überführen30. Im Rahmen dieser ‚Operation‘ kontaktierte Terre des Hommes nach eigenen Angaben weltweit Strafverfolgungsbehörden, um insgesamt 100.000 Menschen identifizieren zu lassen, die bereit waren für den Missbrauch vor der Kamera Beträge zwischen 10 und 15 US-Dollar zu zahlen; 1.000 Tatverdächtige konnten schlussendlich identifiziert werden31. Unabhängig davon, wie solche Formate und Sendungen bewertet werden, offenbart es doch gleichzeitig, wie einfach und letztlich normal es offenbar im Internet ist mit Sexualtätern konfrontiert zu werden, und auch, wie schnell sich mutmaßliche Sexualtäter mit vermeintlichen Kindern im physischen Raum treffen oder einen sexuellen Missbrauch über digitale Medien vornehmen.
I.3 Politische Forderung nach der Einführung einer Versuchsstrafbarkeit für Cbergrooming32
In der Politik und den Sicherheitsbehörden sind in diesem Zusammenhang Forderungen nach der Einführung der bisher nicht vorhandenen Versuchsstrafbarkeit für § 176 Abs. 4 Nr. 3 StGB erhoben worden33. Diese Forderung wurde in den Koalitionsvertrag der aktuellen Bundesregierung der 19. Legislaturperiode aufgenommen. Hier heißt es: „[…] wir führen eine Strafbarkeit für den Versuch des Cybergroomings ein, um Kinder im Internet besser zu schützen und die Effektivität der Strafverfolgung pädophiler Täter, die im Netz Jagd auf Kinder machen, zu erhöhen […]“34. Die Verwendung des Wortlautes „wir führen ein“ deutet darauf hin, dass es sich nicht um eine reine Wollenserklärung, sondern um eine tatsächliche Absichtserklärung handelt. Demnach kann damit gerechnet werden, dass ein entsprechendes Gesetzesvorhaben angegangen wird. Diesem Bundesvorhaben ist das Bundesland Hessen bereits zuvorgekommen und hat im Oktober 2018 im Bundesrat einen eigenen Gesetzesvorschlag zur Einführung einer Versuchsstrafbarkeit für § 176 Abs. 4 Nr. 3 StGB vorgelegt35.
Hintergrund dieser politischen Forderung zur Einführung einer Versuchsstrafbarkeit ist, dass der Gesetzgeber in § 176 Abs. 6 Hs. 2 StGB festgeschrieben hat, dass zunächst jeder Versuch aus dem Tatkanon des § 176 StGB unter Strafe steht. Er hat dann aber als Eingrenzung explizit festgesetzt, dass keine Versuchsstrafbarkeit für § 176 Abs. 4 Nr. 3 und 4 StGB greifen soll. Dieser Feststellung misst der Gesetzgeber offensichtlich sogar eine besondere Bedeutung bei, da es sich bei § 176 Abs. 4 Nr. 3 und 4 StGB um ein Vergehen handelt. Der Versuch eines Vergehens ist gem. § 23 Abs. 1 StGB aber nur strafbar, wenn der Gesetzgeber dies explizit so vorsieht. Erst durch die Ausweitung der Versuchsstrafbarkeit auf den gesamten § 176 StGB ist also die Eingrenzung notwendig geworden. Dennoch scheint der Gesetzgeber diese Tathandlungen als weniger verwerflich anzusehen als den übrigen Tatkanon des § 176 StGB. Die fordernden Politiker erhoffen sich dem Koalitionsvertrag zufolge durch die Einführung einer solchen Versuchsstrafbarkeit v. a. eine effektivere und leichtere proaktive Überführung von Sexualtätern durch die Strafverfolgungsbehörden36. Dieser Gedanke basiert auf der Durchführung von proaktiven polizeilichen Operationen, bei denen sich Polizisten mit der Identität eines Kinders – sog. Scheinkinder oder Lockvögel – tarnen und sich entsprechend passiv durch Täter ansprechen lassen37. Im Rahmen einer solchen Operation kann es nach gegenwärtiger Rechtslage zu einer strafbewährten Handlung kommen, wenn die Tatverdächtigen im Glauben handeln, mit einem Kind zu kommunizieren, und z. B. vor einer Webkamera sichtbare sexuelle Handlungen vornehmen. Hierbei ergibt sich eine noch zu betrachtende Strafbarkeitsmöglichkeit in Form eines untauglichen Versuches nach §§ 176 Abs. 4 Nr. 1 i. V. m. Abs. 5 i. V. m. 23 Abs. 1 StGB. Die Forderung der Politik zielt nun darauf ab, dass es bereits strafbar sein sollte, wenn ein mutmaßlicher Täter in der Annahme, mit einem Kind zu kommunizieren, in Wirklichkeit mit den entsprechend vorgehenden Polizisten spricht. Dies soll aus Sicht der Politik offenbar eine wirksame Strafverfolgung verbessern und somit langfristig die Zahl der Täter und somit auch der Opfer zu verringern. Im Kern soll dies letztlich dazu beitragen, für Täter die Wahrscheinlichkeit zu erhöhen, mit einer Strafanzeige konfrontiert zu werden. Dabei würde die Einführung einer solchen Versuchsstrafbarkeit jedoch – je nach Formulierung des Gesetzestextes – faktisch auch bereits das Ansetzen zu einem Einwirken auf ein Kind unter Strafe stellen. Dies würde die Strafbarkeit offensichtlich weit vor der eigentlichen Tathandlung ansetzen, was relativ einmalig im deutschen Strafrecht wäre. Aber auch ohne den Diskussionspunkt der Vorfeldstrafbarkeit stellt sich hier die Frage, welche Auswirkungen die Einführung hätte und ob sie sinnvoll erscheint. Dabei ergibt sich auch die Frage, wie sich die Einführung einer solchen Versuchsstrafbarkeit eigentlich auf die polizeiliche Arbeit bei der Bekämpfung entsprechender Sexualtäter auswirkt. Bisher fehlt es im deutschsprachigen Raum weitestgehend an einer gesamtheitlich getragenen Betrachtung des Phänomens Cybergrooming, die die kriminologischen Erkenntnisse zum Phänomen und gesellschaftliche Bekämpfungsstrategien und -bedingungen mit einer strafrechtlichen Betrachtungsweise kombiniert. Alexiou hat hier jüngst erste wichtige Vorarbeiten geleistet, wobei sie v. a. Täterprofile und die Rechtmäßigkeit des § 176 Abs. 4 Nr. 3 StGB analysiert hat38. Dabei fehlt es jedoch an den kriminologischen Erklärungsansätzen, beispielsweise dazu, warum Täter offenbar im digitalen Raum so unkontrolliert aktiv sein können, warum die Zahlen der kindlichen und jugendlichen Tatverdächtigen stetig steigen und ob die gesellschaftlichen Reaktionsmechanismen auf diese Phänomene überhaupt dafür geeignet sind, den damit verbundenen Risiken zu begegnen und letztlich das Viktimisierungsrisiko zu senken. Diese Forschungs- und Erkenntnislücke soll durch die vorliegende Arbeit geschlossen werden.
I.4 Fragestellung
Die vorliegende Arbeit möchte sich des erwähnten Spannungsverhältnisses zwischen hohen Deliktsraten und offenbar nur geringen Schutzmechanismen annehmen. Dabei stellt sich die grundsätzliche und primäre Frage, ob die bisherigen kriminalpolitischen und v. a. auch strafrechtlichen Maßnahmen überhaupt geeignet sind, diese Deliktsformen zu bekämpfen. Schwind bestimmt die Kriminalpolitik als „[…] die Gesamtheit aller staatlichen und außerstaatlichen (also nicht nur strafrechtlichen) Maßnahmen […], die zum Schutz der Gesellschaft und des einzelnen Bürgers auf Verhütung und Bekämpfung von Kriminalität gerichtet sind“39. Diese Definition hat sich weitestgehend in der Wissenschaft etabliert40. Der Begriff der Kriminalität, der sich vom lateinischen Wort „crimen“ für Verbrechen ableitet41, wird dabei durchaus unterschiedlich definiert und ist vom jeweiligen historisch-kulturellen Kontext geprägt42. Diese Arbeit bezieht sich auf den strafrechtlich-formellen Kriminalitätsbegriff, wonach Kriminalität die Gesamtheit aller „Handlungen mit strafrechtlichen Rechtsfolgen“43 ist. Übertragen auf das Phänomenfeld Cybergrooming muss daher hinterfragt werden, ob die vorhandenen gesamtgesellschaftlichen Maßnahmen ausreichend sind, um Kinder vor dieser Art von Sexualdelikten zu schützen.
Konkret soll durch die vorgelegte Arbeit folgende übergeordnete Frage in zwei Teilen beantwortet werden:
I. Sind die aktuellen kriminalpolitischen Maßnahmen dafür geeignet Cybergrooming zu bekämpfen?
II. Welche kriminalpolitischen Handlungsempfehlungen erscheinen geeignet das Phänomenfeld Cybergrooming zu bekämpfen?
Mehrere Unterfragen sollen einerseits zur Beantwortung dieser Frage hinführen und andererseits den notwendigen Diskurs voranbringen:
1. Welche Straftatbestände bilden das Phänomenfeld Cybergrooming in Deutschland ab?
2. Welches Verhältnis besteht zwischen § 176 Abs. 4 Nr. 3 und Nr. 4 StGB in Bezug auf das Phänomenfeld?
3. Können durch eine Analyse des Hellfeldes die Opfer- und Tatverdächtigenprofile präzisiert werden?
4. Ergeben sich Strukturähnlichkeiten des Deliktes sowie der Opfer- und Tatverdächtigenstrukturen bei einer Analyse des Hellfeldes und des Dunkelfeldes?
5. Sollte eine Versuchsstrafbarkeit des § 176 Abs. 4 Nr. 3 StGB eingeführt werden und wäre dies ein wirksamer kriminalpolitischer Mechanismus, um das Phänomenfeld Cybergrooming zu bekämpfen?
Zur Annäherung an diese Untersuchungsfragen wird sich diese Arbeit mit den relevanten Aspekten des sexuellen Kindesmissbrauchs im physischen Raum, mit der digitalen Lebenswirklichkeit von Kindern sowie, soweit für die Untersuchungsfragen relevant, auch mit denen von Jugendlichen und Erwachsenen auseinandersetzen. Außerdem werden die Vorgehensweisen und Erscheinungsformen von digitalen Sexualtätern sowie die entsprechenden Straftatbestände analysiert. Dies wird flankiert durch die erste tiefergehende Analyse der Erkenntnisse der Polizeilichen Kriminalstatistik (PKS) zum Cybergrooming in Deutschland und des Dunkelfeldes sowie durch eine Analyse der zu Grunde liegenden Straftatbestände, insbesondere hinsichtlich der Forderung nach der Einführung einer Versuchsstrafbarkeit, aber auch zur Frage, ob nur § 176 Abs. 4 Nr. 3 StGB Cybergrooming-Tathandlungen erfasst oder auch Nr. 4. Auf diesen Erkenntnissen aufbauend, werden die bisherigen kriminalpolitischen Reaktionen und aktuellen Begegnungsstrategien betrachtet und in einen kriminologischen Kontext gesetzt. Zur Einordnung muss auch hinterfragt werden, wie Normenbrüche im digitalen Raum entstehen können, welche Kontrollmechanismen greifen und welche Funktionen dabei Sicherheitsbehörden zukommen. Schlussendlich sollen auf dieser Grundlage Vorschläge für die Bekämpfung des Phänomens erarbeitet werden.
1 VG Cottbus Beschl. v. 14.02.2018 – 3 L 95/18, RN. 1.
2 VG Cottbus Beschl. v. 14.02.2018 – 3 L 95/18, RN. 1.
3 VG Cottbus Beschl. v. 14.02.2018 – 3 L 95/18, RN. 2.
4 Vgl. u. a. Fontanive/Simmler 2016, Gefahr im Netz, S.485 ff.; Eisele 2012, Tatort Internet, S. 697 ff; Hube 2011, Die Strafbarkeit des Cyber-Groomings, S.71 ff; Schulz-Spirohn/Lobrecht 2013, Cyber-Grooming im Lichte der Strafverfolgung, S. 31 ff.; Laubenthal 2012, Handbuch Sexualstraftaten, RN 476; Wachs/Wolf/Pan 2012, Cybergrooming, S. 628.
5 Es hat sich in der Literatur gegenwärtig noch keine etablierte einheitliche Schreibweise des Begriffes „Cybergrooming“ etablieren können. Einige Autoren wie Hube, Eisele oder Laubenthal verwenden den Begriff mit Bindestrich, Fontanive/Simmler, Wachs/Wolf/Pan oder auch Mathiesen schreiben den Begriff hingegen ohne Bindestrich. Der Autor hat sich hierbei für letztere Schreibweise entschieden. Vgl. Fontanive/Simmler 2016, Gefahr im Netz, S.485 ff.; Eisele 2012, Tatort Internet, S. 697 ff.; Hube 2011, Die Strafbarkeit des Cyber-Groomings, S.71 ff; Schulz-Spirohn/Lobrecht 2013, Cyber-Grooming im Lichte der Strafverfolgung, S. 31 ff.; Laubenthal 2012, Handbuch Sexualstraftaten, RN. 476; Wachs/Wolf/Pan 2012, Cybergrooming, S. 628.
6 VG Cottbus Beschl. v. 14.02.2018 – 3 L 95/18, RN. 5.
7 VG Cottbus Beschl. v. 14.02.2018 – 3 L 95/18, RN. 5.
8 Vgl. zur Thematik, ob das Internet einen eigenständigen digitaler Raum darstellt bzw. ob gar die Konzepte der Räumlichkeit aufgelöst werden auch Stegbauer 2011. Dieser sieht vor allem einen Unterschied zwischen einem Sozialraum und einem physischen Raum. Der soziale Raum, und damit auch entsprechende Interneträume, bedarf demnach gerade keine physikalische Komponente. Dennoch kommt er zu dem Punkt, dass das Internet nicht den physischen Raum auflöst, sondern lediglich eine Art Fortführung und Ergänzung darstelle. Stegbauer 2011, Eine neuer räumliche Ordnung?, S. 589 ff.
9 So hatte die Bundeskanzlerin Frau Dr. Merkel mehrfach betont: „Das Internet ist kein rechtsfreier Raum“, u. a. in ihren Podcast „Bundeskanzlerin Direkt“ am 27. Februar 2010 und zuletzt am 03. Februar 2018. Merkel 2010, Das Internet ist kein rechtsfreier Raum, Minute 02:37; Merkel 2018, Das Internet ist kein rechtsfreier Raum, Minute 01:23. Vergleiche zur Thematik auch Bayerl/Rüdiger 2018, Braucht eine digitale Gesellschaft eine digitale Polizei? S. 4 ff.
10 Schmidt 2009, Das neue Netz, S. 13 ff.
11 Koch/Frees 2017, ARD/ZDF-Onlinestudie, S. 444.
12 Rüdiger/Bayerl 2017, Soziale Medien Anbruch eines neuen Zeitalters polizeilicher Arbeit, S. 5.
13 Rüdiger 2015, Der böse Onkel im digitalen Kinderzimmer, S. 114 ff.
14 Becker 1974, Crime and Punishment, S. 1 ff.; Cohen/Felson 1979, A Routine Activity Approach, S. 588.; Neubacher 2017, Kriminologie, Kap. 8, RN. 8.
15 Cohen/Felson 1979, A Routine Activity Approach, S. 589.
16 VG Cottbus Beschl. v. 14.02.2018 – 3 L 95/18, RN. 13.
17 Stadler/Bieneck/Pfeiffer 2012, Repräsentativbefragung Sexueller Missbrauch 2011, S. 36 Tabelle 22.
18 Stadler/Bieneck/Pfeiffer 2012, Repräsentativbefragung Sexueller Missbrauch 2011, S. 36 Tabelle 22.
19 Teilweise wird in der Literatur die sprachliche Anwendung des Begriffes „Kindesmissbrauchs“ als problematisch angesehen, da dieser ein Kind als Objekt darstellt. Bundschuh spricht davon, dass es sonst einen „[…] angemessenen Gebrauch von Kindern“ geben könnte. Da sich diese Begrifflichkeit als Beschreibung von Sexualdelikten gegen das kindliche Wohl gerichtet etabliert hat, wird diese Arbeit diesen Begriff verwenden. Bundschuh 2001, Pädosexualität, S. 11, FN.1. Ähnlich auch Füller der zudem auf das Problem des Begriffes der „sexuellen Gewalt“ gegen Kinder aufmerksam macht. Demnach ist auch dieser Begriff problematisch, da er sprachlich nicht die Fälle erfasst, bei denen der Täter keine Gewalt anwendet, beispielsweise Täter die sich an Babys oder Kleinstkindern vergehen, oder solchen Tätern die das kindliche Opfer psychisch an sich binden vgl. Füller 2015, die Revolution missbraucht ihre Kinder, S. 11. Brettel umgeht diese Begriffsauseinandersetzung in dem er zu dem Punkt kommt, dass die Kriminologie eine eigene deliktspezifische Betrachtung vornehmen muss, wobei sich dies an den strafrechtlichen Deliktskategorien ausrichten soll. Göppinger/Brettel 2008, Kriminologie, § 29 RN. 52 ff.. Dies erscheint sinnvoll, so nutzt die Kriminologie auch den Begriff des sexuellen Missbrauchs, da auch die für diese Arbeit relevanten Strafrechtstatbestände sprachlich den Begriff des „sexuellen Missbrauch“ verwenden. So beginnen u. a. § 176 a Abs. 1 und 2 StGB sehr eindeutig mit „Der sexuelle Missbrauch von Kindern […]“. Entsprechend wird auch in dieser Arbeit diese Begrifflichkeit, trotz der bekannten Schwächen, verwendet.