Читать книгу: «Wohnen im Alter»
Sylvia Görnert-Stuckmann
Wohnen im Alter planen und organisieren
BC Publications
Gesundheit und Leben
Inhalt
Vorbemerkung
1. Einleitung
2. Was ist Alter? – Fragen, Probleme, Erklärungen
2.1 Nie waren es so viele wie morgen – Der „demografische Wandel“ und seine Folgen
2.2 Nie waren sie so rüstig wie heute – Das neue Selbstbewusstsein der Senioren
3. Wohnen heißt leben – Die Bedürfnisse im Alter
3.1 Möglichst lange möglichst selbstständig – Anpassen an Bedürfnisse und Alltag
3.2 Miteinander leben – Formen Gemeinschaftlichen Wohnens
4. Ausbruch aus der Verwahrung – Das Ende der traditionellen Pflegemodelle?
4.1 Altenhilfe im Wandel der Zeit
4.2 Formen der Pflege
4.3 Von der klassischen zur modernen Altenhilfe
5. „My home is my castle“ – Persönliche Lösungen (fast) ohne großen Aufwand
5.1 Warum in die Ferne schweifen – Die Wohnung umrüsten
5.2 Exkurs: Homeshare – „Wohnen für Hilfe“ (18)
5.3 Auf zu neuen Ufern – Zweiter Anfang unter anderen Vorzeichen
5.4 Rat und Tat –Wohnberatungsstellen
5.5 Noch einmal neu beginnen
6. Die starke Hand im Hintergrund –Wohnen in der Gruppe
6.1 Gemeinschaftliches Wohnen in Deutschland
6.2 Die Merkmale und Unterschiede einzelner Modelle
6.3 Kosten
6.4 Information, Beratung, Vermittlung – Die Bedeutung von Anlaufstellen
7. Wahlverwandtschaften – Gemeinschaftliches Wohnen in Eigenverantwortung
7.1 Mehr als die Summe ihrer Mitglieder – die Wohngemeinschaft (WG)
7.2 Wie in einer Familie – Die gemischte WG
7.3 Nicht allein und nicht im Heim – Die Senioren-WG
7.4 Gemeinsam alt statt einsam – Selbst organisierte und betreute Senioren-WG
7.5 Zusammen, aber nicht durcheinander– Die private Hausgemeinschaft
7.6 Blut ist dicker als Wasser – Verwandtenwohnen
8. Die Umsetzung –Wohninitiativen gründen und verwalten
8.1 Die Initiative – Von der Idee zum Projekt
8.2 Wir sind viele – Gleichgesinnte suchen und finden
8.3 Mehr oder weniger selbstständig – Die richtige Rechtsform
8.4 Qual der Wahl – Das passende Objekt suchen und finden
8.5 Ohne Moos nichts los –Mögliche Hindernisse bei der Finanzierung
8.6 Hilfe! – Fachleute als wichtige Berater
8.7 Stolperfallen – Probleme bei der Realisierung
8.8 Beispiele und Erfahrungen
8.9 Ein bisschen Schwund ist immer – Konkrete Erfahrungen
8.10 Manchmal geht alles schief – Ein Beispiel
8.11 Wohnprojekte mit besonderem Hintergrund
9. Mit Kooperationspartnern arbeiten – Organisationen als Gründer und Verwalter von Wohnprojekten
9.1 Wohnungsunternehmen
9.2 Wohlfahrtsorganisationen
9.3 Netzwerke, Verbände und Vereine
9.4 Kontakt suchen und finden
10. Dem Alter mehr Leben geben – Konzepte gegenseitiger Hilfe in der Siedlung
10.1 Beispiel Vernetztes Wohnprogramm für eine ganze Stadt – „ambet“ in Braunschweig:
10.2 Beispiel Gesamtkonzept der Wohnungswirtschaft – Die „Freie Scholle“ in Bielefeld:
10.3 Beispiel Wohnen im Quartier mit Service – „Südost Woba Dresden GmbH“:
10.4 Einsatz muss sein – Beispiele für bürgerschaftliches Engagement im Viertel
11. Wenn es gar nicht mehr anders geht – Ungewöhnliche neue Pflegekonzepte
11.1 Wenn Vergessen zur Krankheit wird – Umgang mit Demenz
11.2 Nicht professionelle Kräfte in der Pflege
11.3 Lösungsansatz „vernetzte Pflege“
11.4 Quartierbezogene Pflege in der „Pflegewohnung“
11.5 Stationäre Pflege in der Hausgemeinschaft: Betreute Wohngruppen
11.6 Integriertes Wohnen im Heim – Pflege einmal anders
12. Es ist so weit! – Anlaufstellen und Hilfen zur Planung und Verwirklichung der eigenen Alternative
12.1 Wohnanpassung, Renovierung und Neubau
12.2 Betreutes Wohnen & Co.
12.3 Einziehen in ein bestehendes Wohnprojekt
12.4 Aufbau eines eigenen Wohnprojektes
12.5 Betreute Wohngruppen
13. Anhang
13.1 Weiterführende Literatur
13.2 Quellennachweis
13.3 Artikel, Vorträge und Broschüren:
Erläuterungen
Impressum
Weitere E-Books im Programm
Belletristik
Sachbuch und Ratgeber
Vorbemerkung
Die Nachweise zu den in Klammern gesetzten Ziffern finden sich am Ende des Buches unter Erläuterungen.
1. Einleitung
Wie will ich leben und wohnen, wenn ich älter bin? – Diese Frage stellen sich viele Menschen unabhängig von Alter, Beruf oder Lebensumständen:
Katharina und Josef, beide Anfang 70, wohnen im eigenen Haus am Stadtrand. Die Kinder leben ihr eigenes Leben, und es sieht nicht so aus, als kämen sie hierher zurück. Die Versorgung von Haus und Garten macht zunehmend Mühe, längst stehen Zimmer leer und liegt ein Teil des Gartens brach. Wie soll es also in Zukunft weitergehen? Wollen sie eine Etage vermieten, vielleicht an jemanden, der sich bei Bedarf ein wenig um sie kümmern würde? Dann müsste das Haus umgebaut und gleich auch altengerecht gestaltet werden. Aber was genau haben sie zu beachten, um hier im hohen Alter noch selbstständig zu leben?
Inga und Klaus, beide knapp 30, leben mit ihren beiden Kindern im Zentrum einer Großstadt. Die eigenen Eltern sind mittlerweile in einem Alter, in dem man sich gerne besser um sie kümmern würde. Sie beginnen zu träumen: Was wäre, wenn sie näher beieinander wohnen könnten? In einer Siedlung vielleicht, in der man sich kennt und sich gegenseitig hilft? Wäre es da nicht möglich, trotz Arbeit, Kindern und Alltag gemeinsam mit den Eltern zu leben, ohne diese aus einem eigenständigen Leben zu reißen? Aber wo gäbe es eine solche Wohn- und Lebensgemeinschaft von Menschen mit ähnlichen Träumen und Vorstellungen? Lässt sich nach Gleichgesinnten suchen und eine solche Gemeinschaft gründen? Woran müsste man dann denken? Wer könnte helfen?
Anna ist Ende 50 und steht vor einer großen Wende: Die geschiedene Lehrerin wird in einigen Jahren in Rente gehen und hat viele Pläne für die „Zeit danach“. Sie möchte reisen und andere Menschen und Kulturen kennen lernen. Sie sucht bereits nach interessanten Zielen. Aber die jetzige Wohnung eignet sich nicht für ein solches Nomadenleben, liegt zu abgeschieden und ist zu groß, um wochenlang unbeaufsichtigt zu bleiben. Anna überlegt daher, sich eine Wohnung in einer Anlage zu kaufen, die einen weiteren Umzug im Alter überflüssig macht. Aber es gibt so viele Angebote! Worauf muss sie achten? Welche Faktoren werden später eine Rolle spielen? Welche Leistungen sind wirklich wichtig, und woran erkennt man die „schwarzen Schafe“?
Irina ist Mitte 20 und allein erziehende Mutter eines fünfjährigen Sohnes. Sie möchte nicht auf eine Wohnung in einer Siedlung angewiesen sei, in der wie sie nur Menschen mit wenig Einkommen zusammen leben, sondern ihren Traum vom Leben in dörflichen Strukturen verwirklichen, in dem alle Generationen und Bevölkerungsgruppen ihren Platz und ihre Aufgabe finden. „Irgendwann bin ich alt“, sagt sie, „und dann möchte ich nicht in eine fremde Wohnung zu Leuten, die ich alle nicht kenne.“ Irinas Eltern leben weit weg, zu weit, um ihrem Sohn richtige Großeltern sein zu können. Sie möchte, dass ihr Kind trotzdem in einer Umgebung aufwächst, in der man rücksichtsvoll miteinander umgeht und wo es die Bedeutung von Großeltern erfahren kann. „Es müssen ja nicht die eigenen sein“, sagt sie.
Die Ansprüche an Wohnen und Leben haben sich in den letzten Jahrzehnten geändert, längst ist die übliche Bauweise für „junge Familien mit 1,7 Kindern“ überholt. Überall sprießen neue, unbekannte Wohnformen hervor, Zeichen eines allgemeinen Umbruchs. Aber welche Möglichkeiten davon kommen in Frage? Was wäre für den Einzelnen eine akzeptable Alternative zu dem, was er schon hat? Worauf muss jemand achten, der Zukunftspläne schmiedet, und woher bekommt er die nötigen Informationen?
Woher kommen Orientierung und Hilfe für Menschen, die sich mit dem Wohnen und Leben im dritten Lebensabschnitt befassen? Was bedeutet Alter eigentlich? Wie wichtig sind hier die Wohn- und Lebensumstände? Wo erfährt man, wie eine seniorengerechte Wohnung aussehen sollte? Was sind „alternative Wohnkonzepte“? Und was ist „Gemeinschaftliches Wohnen“?
Diesen und weiteren Fragen will dieses Buch nachgehen. Vom „demografischen Wandel“ bis zu „Wohnbedürfnissen“ und „Senioren-Wohnmodellen“ erläutert es Begriffe, die die Medien immer wieder verwenden und zeigt auf, welche Möglichkeiten es bei Pflegebedürftigkeit gibt.
Breiten Raum nehmen die privaten Ansätze für altersgerechtes Wohnen ein, die ohne große Hilfe zu bewältigen sind – von der Chance, die bisherige Wohnung umzugestalten, bis zum Umzug in eine Gemeinschaft. Das kann die Familie sein ebenso wie Freunde oder eine neu zu gründende Initiative mit oder ohne Kooperationspartner. Auch ungewöhnliche neue Pflegekonzepte werden ansatzweise vorgestellt. Schließlich geht es darum, wie ein Wohnprojeke zu verwirklichen ist, wo man Informationen und Unterstützung bekommt und worauf zu achten ist.
Viele anschauliche (anonymisierte) Beispiele ergänzen die Ausführungen.
Das Buch erhebt keinen Anspruch auf Vollständigkeit. Im selben Tempo, in dem die Gesellschaft sich derzeit verändert, werden stetig neue Bedürfnisse formuliert, neue Ideen geboren und ausprobiert, wie Leben und Wohnen (nicht nur im Alter) aussehen können. Die Informationen über aktuelle Möglichkeiten, Strömungen und Projekte möchten dazu anregen, sich frühzeitig mit der Frage auseinanderzusetzen, welche Wünsche und Ziele für das eigene Alter bestehen, und wie sie zu realisieren sind. Dabei ist die Frage, wie man nicht leben möchte, ebenso wichtig wie die Erkenntnis, wohin der persönliche Lebensweg führen soll.
Wenn dieses Buch Ihnen die nötigen Hintergrund-Informationen und mehr Klarheit für die Entscheidungen über Ihre individuelle Wohnform im Alter bieten kann, hat es seinen Zweck erfüllt.
Nie waren die angehenden Senioren so rüstig wie heute, nie waren sie so viele wie morgen, und selten hatten sie gesellschaftlich so große Bedeutung wie in Zukunft. Nutzen wir die Chance, die die heutige Zeit uns bietet, um aktiv unsere Zukunft nach den eigenen Vorstellungen zu formen.
2. Was ist Alter? – Fragen, Probleme, Erklärungen
Welche Wünsche und Bedürfnisse werde ich haben, wie viel Nähe brauche ich und wie viel Privatheit? Welche Angebote wird es geben? Was kann ich heute schon tun, um morgen ein erfülltes Leben zu haben?
Die Schlagworte aus Büchern, Zeitungen und Fernsehen zum Thema Altern in unserer Gesellschaft sind selten eindeutig und sollen daher geklärt werden.
2.1 Nie waren es so viele wie morgen – Der „demografische Wandel“ und seine Folgen
Die Bevölkerungsstruktur verändert sich durch die Zunahme der älteren Generation nicht nur in Deutschland oder Europa, sondern weltweit. Medizinisch-technischer Fortschritt, bessere Hygiene, ökonomische Veränderungen und neue Sozialgesetze sowie eine fast 60-jährige Friedensperiode haben die Lebensbedingungen verbessert und die Lebenserwartung steigen lassen. Wurden Anfang des 20. Jahrhunderts noch rund fünf Kinder je Frau geboren, sind es heute nur noch 1,34 – Deutschland steht am untersten Ende der Weltstatistik und hat die am schnellsten alternde Gesellschaft. Die Bedeutung der Familie als stützendes soziales Netzwerk nimmt wegen der veränderten Rollenerwartungen an Mann und Frau kontinuierlich ab. Mit Singles, nichtehelichen Partnerschaften, Alleinerziehenden, Patchwork-Familien und anderen Lebensformen haben sich die Haushaltsstrukturen verändert.
Statistiken belegen, dass der Anteil der Senioren an der Gesamtbevölkerung in den letzten Jahrzehnten deutlich zugenommen hat. Nach den Berechnungen der Demografen wird er weiter ansteigen:
Schon 2030 wird es doppelt so viele Ältere wie Jüngere in Deutschland geben.
Der Anteil der über 80-Jährigen wird von heute 2,9 Millionen auf voraussichtlich 11,4 Millionen bis 2050 steigen.
Allein die Anzahl pflegebedürftiger alter Menschen soll bis 2020 um 50 Prozent auf dann 3 Millionen anwachsen.
Solche Zahlen verwirren und verunsichern: Was wird die Zukunft bringen? Werden wir im Alter noch gesellschaftliche Bedingungen vorfinden, die uns ein Leben in Würde und Selbstbestimmtheit ermöglichen?
Was bedeutet diese demografische Entwicklung in einer Zukunft mit voraussichtlich mehr Alten als Jungen und mehr Alleinstehenden als Familien?
Zum einen werden sich den Senioren neue Chancen eröffnen:
Ältere werden zahlenmäßig stärker als heute in entscheidenden Gremien vertreten sein und so ihre eigenen Interessen besser vertreten können.
„Höhere Lebenserwartung“ bedeutet auch mehr Zeit, Lebensträume zu verwirklichen: Vielleicht noch einmal heiraten, vielleicht eine neue Ausbildung oder ein Studium beginnen, vielleicht umziehen oder sich die Welt ansehen.
Die Ressourcen der älteren Generation werden nötig sein, um die Aufgabe „alternde Gesellschaft“ kreativ zu bewältigen – mit der Folge einer neuen Sicht auf die Alten und einer Wende von der Defizit-Orientierung zur Wahrnehmung der Ressourcen Erfahrung und Zeit.
Zum anderen wird die Pflege der vielen alten Menschen in der heutigen Form kaum mehr möglich sein. Das familiäre Unterstützungs-Netzwerk wird in Zukunft nicht mehr zur Verfügung stehen, da die Bedeutung der Familie in der Gesellschaft abnimmt. Für den Ersatz durch professionelle Hilfe gibt es weder genügend (junges) Personal noch finanzielle Mittel. Wichtig scheint daher, neue Alternativen zu etablieren – zum Beispiel Helfer aus der Umgebung, so genannte „informelle Helfer“, die die längst vergessenen Aufgaben einer früheren dörflichen Gemeinschaft wieder übernehmen könnten.
Das Alter mit all seinen Facetten wird künftig eine größere Rolle spielen, und nirgendwo in der Geschichte lehrt ein Modell, wie damit umzugehen ist. Diese Unsicherheit kann aber dazu antreiben, die gesellschaftlichen Herausforderungen anzunehmen und gemeinsam zu bestehen. Dazu gehört auch, sich die Wirkung dieser Änderungen auf unser eigenes Altern bewusst zu machen und sich gezielt und aktiv darauf vorzubereiten. Je früher desto besser, denn neue Ideen brauchen viel Zeit, um sich zu entwickeln und gegen Veraltetes durchzusetzen.
2.2 Nie waren sie so rüstig wie heute – Das neue Selbstbewusstsein der Senioren
Je nach Blickwinkel gelten für das Thema Altern unterschiedliche Definitionen und Schwerpunkte. Nachfolgend einige davon.
Die dritte Lebensphase – Der Begriff „Alter“
Unter „Alter“ versteht man bei uns meistens das Lebensalter, also die Zeitspanne seit der Geburt eines Lebewesens. Die Wissenschaft, die sich mit dem Alter als Lebensabschnitt des Menschen befasst, nennt sich Gerontologie.
Der meist ähnlich verwendete Begriff Senior bzw. Senioren bezeichnet in der Regel ältere Menschen, die nicht mehr in einem Vollzeitarbeitsverhältnis stehen, bei uns also die Gruppe der über 60-Jährigen. Senioren beziehen typischerweise regelmäßige Zahlungen aus der Altersversorgung, also Rente oder Pension.
Fragt man Menschen, was sie mit „Alter“ verbinden, hört man sehr unterschiedliche Assoziationen:
Die einen denken an Weisheit, Gelassenheit, Ruhe, Erfahrung oder Abgeklärtheit und freuen sich auf die Entlastung von der Arbeitspflicht, auf schöne Erinnerungen und viel Freizeit. Ihre Vorstellung von Altern ist auf Stärken, Ressourcen und Möglichkeiten gerichtet.
Andere verknüpfen mit „Alter“ eher Negatives: Einsamkeit, Isolation, Ausgrenzung, nicht mehr für voll genommen zu werden, nachlassende körperliche und geistige Fähigkeiten, Gebrechlichkeit, Krankheit und den Verlust sozialer Anerkennung. Ihr Verständnis von Alter ist eher defizitorientiert.
In der Entwicklungspsychologie bezeichnet „Alter“ die letzte der vier großen Lebensphasen. Wie Kindheit, Jugend und Erwachsenenalter wird auch diese Phase weiter differenziert:
Im Dritten Lebensalter werden die jüngeren Alten erfasst (60-75 Jahre), die relativ fit sind und sich körperlich wie geistig gesund und mobil fühlen. Sie haben häufig bestimmte Ziele, die sie noch verwirklichen wollen, und sind im Bereich Gesundheits- und Altersvorsorge recht aktiv. In jüngerer Zeit wird diese Phase erweitert auf die Generation 50 plus.
Das Vierte Lebensalter erfasst die Menschen, die 76 Jahre und älter sind und damit ein erkennbar größeres Risiko tragen zu erkranken, ihre körperliche und/oder geistige Leistungsfähigkeit zu verlieren oder pflegebedürftig zu werden. Diesem Risiko ist weder durch mehr Fortschritt noch durch weiter verbesserte Lebensbedingungen zu begegnen. In der Literatur (1) wird manchmal noch weiter unterschieden nach „alten Alten“ (76-84 Jahre), „Hochaltrigen“ (ab 85) und „Überlebenden“ (95 Jahre und älter).
Wenn „Alter“ eine wissenschaftlich neutrale Definition ist, sollte „Altern“ es auch sein. In diesem Sinne werden beide Begriffe im vorliegenden Buch verwendet: Als Bezeichnung einer Phase im Leben, die wie alle anderen auch mit besonderen Stärken und Schwächen verbunden ist.
„Alter“ als Spiegel der Kultur
Gesellschaften kennen viele Wege, das Phänomen „Alter“ zu bewerten, und gehen dementsprechend unterschiedlich mit ihren Senioren um. Viele Kulturen kannten und kennen einen „Ältestenrat“ ähnlich dem Senat der Antike. Sie gelten als Mitglieder mit der größten Erfahrung und treffen wichtige Entscheidungen. Wissen und Erfahrung werden als Wert geachtet. Andere wiederum sehen im Alter vorwiegend den Abbau von Fähigkeiten und damit eine Last für die Mitglieder der Gesellschaft, die sich um sie kümmern mussten.
Hier spielt der Blickwinkel eine entscheidende Rolle:
Blickpunkt Verschleiß:
Die Menschen heute werden älter als früher. Der menschliche Körper – und damit seine Leistungsfähigkeit – ist von Natur aus nicht auf eine so lange Lebenszeit eingerichtet. Spätestens mit etwa 70 Jahren müssen wir damit rechnen, nach und nach an Leistungsfähigkeit und Gesundheit einzubüßen, allen Fitnesskults und Gesundheitschecks zum Trotz. Das lenkt den Blick automatisch auf die zurück schreitende Entwicklung und die damit verbundenen Defizite und Probleme.
Blickpunkt Lebensaufgaben:
Der Wissenschaftler Frederic Vester (2) schreibt von dem Phänomen, dass in bestimmten Regionen der Welt „Methusalems“ nachweislich bis weit über 100 Jahre alt werden (der älteste der untersuchten Menschen war 150 Jahre alt) und trotzdem gesund und munter wie der Fisch im Wasser leben. Untersuchungen ergaben, dass weder strikte Diäten, Abstinenz, Abwesenheit von Krankheit noch besonders schonende Lebensweise sie so alt werden ließen. Ausschlaggebend war ihr Verhältnis zur Umwelt: Bis zuletzt lebten sie im aktiven Kontakt mit der Gemeinschaft.
„Eine so einschneidende Änderung im Arbeitsrhythmus, wie wir sie etwa durch die Pensionierung erfahren, gab es nicht. Täglich wurde nützliche, meist körperliche Arbeit verrichtet. Weiter registrierten die Forscher eine auffallende Anerkennung der Alten durch die Jüngeren, von denen sie noch häufig um Rat gefragt wurden.“
Vester geht davon aus, dass der bei uns übliche Bruch in der Biografie, der dem Alter vorangeht, erheblichen Stress bewirkt, den wir nicht ausgleichen können und der unseren Hormonhaushalt daher massiv belastet. Bei den Hochaltrigen aus dem Kaukasus und anderen Regionen sei das anders:
„Durch die große Rolle, die hier Freude, Erfolgserlebnisse, körperliche Tätigkeit und Zärtlichkeit spielen, entsprach ihre Lebensweise auffallend genau den Bedingungen, unter denen die typischen Stressoren unserer Leistungsgesellschaft gar nicht erst aufkommen können.“ Das führe bei den Hochaltrigen zu einem gesunden hormonellen Gleichgewicht, das wiederum die körpereigene Abwehr weit länger intakt halte als bei uns.
Blickpunkt Leistungsfähigkeit:
In der heutigen Zeit hat sich eine Idealisierung von Jugend, Fitness und körperlicher Leistungsfähigkeit entwickelt. Die Medien sprechen schon vom „Jugendwahn“, von einer gesellschaftlichen Idee des scheinbar ewigen Lebens, in der Altern und rückwärts schreitende Fähigkeiten keinen Platz mehr haben. Der Pool an Erfahrung und Zeit, über den die jüngere Generation (noch) nicht verfügt, und die sich daraus ergebenden Chancen zur Veränderung werden weder gesehen noch genutzt.
Wandel des Bildes vom „Alter“
Bertold Brecht zeichnet in seiner 1949 erschienenen Geschichte „Die unwürdige Greisin“(3) das Bild einer alten Frau, wie sie vor 100 Jahren lebte:
„Meine Großmutter war zweiundsiebzig Jahre alt, als mein Großvater starb. Er hatte eine kleine Lithographieanstalt in einem badischen Städtchen und arbeitete darin mit zwei, drei Gehilfen bis zu seinem Tod. Meine Großmutter besorgte ohne Magd den Haushalt, betreute das alte, wackelige Haus und kochte für die Mannsleute und die Kinder. Sie war eine kleine, magere Frau mit lebhaften Eidechsenaugen, aber langsamer Sprechweise. Mit recht kärglichen Mitteln hatte sie fünf Kinder großgezogen von den sieben, die sie geboren hatte. Davon war sie mit den Jahren kleiner geworden.“
Die Großmutter, im Text „Frau B.“ genannt, lebte nach dem Tod ihres Mannes selbstständig und selbstbewusst, unabhängig von der Meinung anderer oder Unterhaltszahlungen ihrer Kinder. Auch in der Frage des Wohnens blieb sie Individualistin: Entgegen geltender Normen weigerte sie sich, zu den Kindern zu ziehen oder den jüngsten Sohn samt Familie in ihr Haus aufzunehmen. Allgemein wurde über ihren Lebensstil im Alter gesagt: „Sie schien mit ihrem Familienleben abgeschlossen zu haben und neue Wege zu gehen!“
Bert Brecht sieht diese Zeit im Leben seiner Großmutter als eine Art Genugtuung, späte Gerechtigkeit für ein hartes und entbehrungsreiches Leben: „Genau betrachtet, lebte sie hintereinander zwei Leben. Das eine, erste als Tochter, als Frau und als Mutter und das zweite einfach als Frau B., eine alleinstehende Person ohne Verpflichtungen und mit bescheidenen, aber ausreichenden Mitteln. Das erste Leben dauerte etwa sechs Jahrzehnte, das zweite nicht mehr als zwei Jahre.“
Das alte Bild
Die Geschichte von Frau B. könnte die Geschichte vieler Menschen sein, die heute als „Hochaltrige“ in unserer Gesellschaft leben. Das Leben vor 100 Jahren war schwer und entbehrungsreich: Krieg, frühe Verantwortung und harte Arbeit zehrten an den Menschen und ließen sie früh altern. Soziale Sicherungssysteme (über deren grundlegende Veränderung wir heute schon wieder nachdenken) gab es damals noch nicht. Einziger Trost war oft die Aussicht, wenigstens im Alter sicher und geborgen bei den Kindern leben und von ihnen versorgt zu werden. Aufgrund des Verschleißes starb man früh, die letzten Jahre waren von körperlichem Verfall und den Folgen eines harten Lebens gekennzeichnet. Die nachfolgende Generation verstand ihre Aufgabe darin, diese Defizite der „ganz Alten“ aufzufangen und sich in der letzten Phase des Lebens um sie zu kümmern. Sicherheit, Versorgung und Hilfe zählten und zählen bis heute zu den wichtigsten Bedürfnissen der Hochaltrigen.
Das neue Bild
Andererseits ist die Geschichte von Frau B. auch eine Geschichte von Eigenständigkeit und Selbstbestimmung. So könnte sie durchaus eine Geschichte der jüngeren Alten von heute und morgen sein, die anders aufgewachsen sind als sie. Diese Senioren haben die meiste Zeit ihres Lebens im Frieden verbracht und sich wie kaum eine andere Generation vor ihnen mit der Entwicklung eigener Ziele und Ideale befassen können. Die „jungen Alten“ von heute (also die „alten Alten“ von morgen und die „Hochbetagten“ von übermorgen) haben ein Leben lang gelernt und geübt, sich Informationen zu holen und auch zu verwenden – im Gegensatz zu früher, als das Leben für viele hauptsächlich aus Arbeit und Sicherung der Grundbedürfnisse bestand. Diese andere Art zu leben führt zwangsläufig zu einem anderen Bewusstsein von sich selbst, das mehr von Eigenständigkeit und Mitbestimmung als von Versorgungsdenken geprägt ist.
Das wirkt auf die Wohnbedürfnisse dieser Generation. Auch hier hat sich der Schwerpunkt verschoben: Vom Wunsch nach früh einsetzender, umfassender Sicherheit hin zu mehr Selbstverantwortung und Mitbestimmung bis ins hohe Alter. Ihr Risiko, zu erkranken oder pflegebedürftig zu werden, steigt erst später an, als sie von beruflichen und sozialen Pflichten befreit werden. So gesehen haben die Alten von heute eine Phase im Leben dazugewonnen, in der sie nicht mehr eingebunden, aber auch noch nicht wirklich eingeschränkt sind.
Was aber machen sie mit der Zeit zwischen Berufsleben und Altendasein? Viele nutzen sie als einen „zweiten Frühling“, um all die Dinge zu erleben oder auszuprobieren, zu denen sie vorher nicht gekommen sind – wie Frau B.