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2.2.5 Weitere politikwissenschaftliche Ansätze
Darüber hinaus gibt es viele weitere politikwissenschaftliche Ansätze, die zur Erklärung von Migration und Migrationspolitik herangezogen werden können. Bezeichnend ist dabei, dass sich die politikwissenschaftliche Auseinandersetzung mit Migration lange auf die Zielländer konzentrierte. Dies erklärte sich dadurch, dass seit der zweiten Hälfte des vergangenen Jahrhunderts in steigendem Maße westeuropäische Demokratien zum Ziel von Migration wurden, was die dort ansässigen Politikwissenschaftler herausforderte, Antworten auf das zunehmend als „Krise” empfundene Phänomen zu geben. Die Auswirkungen von Migration auf die Herkunftsländer wurden entsprechend im deutlich geringeren Maße untersucht, sieht man einmal davon ab, dass man sich in der entwicklungspolitischen Forschung bereits seit längerem mit den (heimischen) Ursachen der Migration (Nuschler 2003) und dem Phänomen des Brain Drain beschäftigt hat (→ 10 Migration und Entwicklung).
Neben den Auswirkungen auf die nationale Sicherheit und die Außenpolitik (s.o.) untersuchen politikwissenschaftliche (wie auch soziologische, historische und rechtswissenschaftliche) Arbeiten insbesondere die innenpolitische Dimension von Migration. Im Mittelpunkt stehen die Gewährung von Bürgerrechten und mithin verfassungsrechtliche Fragen, der Einfluss auf die soziale Struktur des Gemeinwesens, vom Staat unternommene Integrationsanstrengungen und die Problematik der nationalen Identität (Bommes und Halfmann 1998; Oberndörfer 1991). Auch die Frage, warum trotz innenpolitischen Drucks Migration immer weiter zunehme, beschäftigte viele politikwissenschaftliche Arbeiten (sog „gap hypothesis“; Joppke 1998; Cornelius et al. 2004). Der eingangs erwähnte Hollifield erklärt dieses Phänomen mit seiner These des liberalen Paradoxons liberal state thesis (Hollifield und Wong 2015, S.240). Demnach ist der liberale Staat der Schlüssel, um Migration zu erklären: Eine radikale Restriktion von Migration durch den Staat impliziert die Verletzung von individuellen Rechten. Da der Schutz individueller Rechte zentrales Kriterium des liberalen Rechtsstaates ist, kann Migration nur begrenzt eingedämmt werden, auch wenn Migration den ökonomischen oder innenpolitischen Interessen widerspricht. Weiterhin fällt es liberalen Staaten schwer, einmal gewährte Rechte zu widerrufen. Liberal-institutionelle Ansätze sehen die Zunahme von Migration zudem an die wachsende Herausbildung von internationalen Menschenrechtsregimen und die damit verbundene Individualisierung des Völkerrechts gekoppelt (Jacobson 1996).
Aufgrund der fortschreitenden Integration der Europäischen Union hat sich die Politikwissenschaft zunehmend auch dem Bereich der Migrationspolitik auf der regionalen Ebene gewidmet. So geht etwa Christoph Roos (2013) der Frage nach, ob jüngere Entwicklungen der gemeinsamen EU-Immigrationspolitik zu Rissen in der vielbeschworenen „Festung Europa“ geführt haben. Das Forschungs-Puzzle besteht dabei in der Frage, warum Staaten gemeinsame Einwanderungsregelungen etablieren, die möglicherweise auch zu einer Zunahme von Einwanderung führen können, obwohl sie die Regelung des Zugangs zu ihrem Territorium als zentralen Ausdruck ihrer Souveränität verstehen. Dabei ist zwischen Grenz- und Einwanderungskontrolle zu unterscheiden: Während erstere im Schengenraum bereitwillig externalisert und eine einheitliche Grenz- und Visapolitik beschlossen wurde, liegt die weiter reichende Einwanderungspolitik weiterhin zum Großteil in der Hand der Nationalstaaten.
Wie Roos ausführt, gibt es eine umfassende Literatur zur Grenzkontroll- und Fluchtpolitik der EU, aber vergleichsweise weniger Studien zur Einwanderungspolitik. Diese stellt ein eigenes Politikfeld dar und folgt somit möglicherweise auch einer eigenständigen Logik. Sie umfasst über den Zugang zum Territorium hinaus eine Vielzahl von Politikfeldern wie Staatsbürgerschafts-, Arbeitsmarkt-, Sozial- und Integrationspolitik. Untersuchen lässt sich die europäische Einwanderungspolitik etwa anhand von EU-Richtlinien zu Familienzusammenführung, Arbeitsmigration, langfristig Aufenthaltsberechtigte sowie Studierende und Forschende.
2.3 Eine interdisziplinäre Perspektive auf Migrationspolitik
Der Überblick hat gezeigt, dass Theorien zur internationalen Migration ein breites Instrumentarium bieten, um Migrationsprozesse und politisches Handeln von Staaten, suprastaatlichen Organisationen und Regimen zu erklären. Dabei ergänzen sich Theorieansätze aus allen sozialwissenschaftlichen Disziplinen, da sie vielfache andere Herangehensweisen an soziale und ökonomische Aspekte der Migration bieten, die andere Disziplinen unter Umständen vernachlässigen. Ein Ziel dieses Bandes ist es daher auch, einen Schritt hin zu einer interdisziplinären Perspektive aufzuzeigen, die auch die Politikwissenschaft, und hier insbesondere den Teilbereich der Internationalen Beziehungen, miteinschließt. Anknüpfungspunkte finden sich reichlich, insbesondere wenn es das Zusammenspiel (oder Gegeneinanderwirken) von staatlichen und nichtstaatlichen Akteuren betrifft. So setzten Staaten zwar weiterhin vielfältige Rahmenbedingungen für Migration, Migrant*innen selbst und ihren Organisationen wird dabei aber kaum (politische) Akteursqualität zugestanden. Insbesondere die aus der Ethnologie und Soziologie stammenden Konzepte von Transnationalisierung und der Raumbegriff der Geographie besitzen das Potential, sich mit einer politischen Perspektive verknüpfen zu lassen.
Weiterführende Fragen und Literatur
Drei Fragen zum Weiterdenken
Inwieweit unterscheiden sich politikwissenschaftliche Migrationstheorien von anderen sozialwissenschaftlichen Theorien?
Worin ergänzen sich politikwissenschaftliche und andere sozialwissenschaftlichen Migrationstheorien?
Wie lassen sich das Konzept staatlicher Souveränität und die Interessen von Migrant*innen in Einklang bringen?
Drei Bücher zum Weiterlesen
Caroline Brettell/James F. Hollifield (Hg.) (2015): Migration Theory: Talking across disciplines. Third edition. New York: Routledge.
Ein umfassender Überblick über die theoretischen Zugänge zu Migration in den sozialwissenschaftlichen Disziplinen.
Ludger Pries (2008): Die Transnationalisierung der sozialen Welt: Sozialräume jenseits von Nationalgesellschaften. Frankfurt am Main: Suhrkamp.
Eine gut lesbare Einführung in den Transnationalismus, die neben Migration auch Aspekte wie transnationale Unternehmen und Institutionen behandelt.
Siegfried Schieder/Manuela Spindler (Hg.) (2010): Theorien der internationalen Beziehungen. 3. überarb. und aktual. Aufl. Opladen: Budrich.
Eine umfassende Einführung in die Theorien der Internationalen Beziehungen, von den Klassikern bis hin zu kritischen Theorien.
3 Flucht und Asyl1
Was macht Fluchtmigration im Unterschied zu anderen Migrationsformen aus? Welche Arten von Fluchtmigration unterscheidet man? Welche Gruppen sind besonders gefährdet? Welche Schutzmechanismen gibt es für Geflüchtete? Welche Rolle spielen die Genfer Flüchtlingskonvention und das UN-Flüchtlingskommissariat (UNHCR)? Worin liegen die politischen Probleme für ein gemeinsames Handeln aller Staaten?
3.1 Historische Entwicklung
Große Fluchtbewegungen sind keine neue Erscheinung des 21. Jahrhunderts, sondern ein immer wieder kehrendes Phänomen in der Menschheitsgeschichte. Während Flucht in früheren Zeiten vor allem eine Folge von Naturkatastrophen und Ressourcenknappheit war, sind die Fluchtursachen in der jüngeren Vergangenheit vielschichtiger. So waren z.B. während und nach der Reformation im Europa des 16. und 17. Jahrhunderts über eine Million Menschen aufgrund innerchristlicher Religionskriege auf der Flucht. Ab 1665 verließen hunderttausende protestantische Hugenotten das katholische Frankreich aufgrund religiöser Verfolgung. Viele von ihnen siedelten sich in England an, einige auch in Preußen, was ausdrücklich von Friedrich Wilhelm I. im Jahr 1685 befürwortet wurde (Sassen 1996, S.25).
Erst in der Encyclopedia Britannica von 1796 wurde zum ersten Mal der Begriff „refugee“ weitergefasst und bezog sich seitdem auf alle Menschen, die ihr Land aus Not verlassen mussten (Marrus 1985). So wurden z.B. auch zwei Millionen Ir*innen, die in der Mitte des 19. Jahrhunderts aufgrund großer Kartoffelmissernten und der folgenden Hungersnöte nach Amerika, Australien und Großbritannien auswanderten, als „refugees“ angesehen. Zudem flüchteten auch wohlhabende Menschen, die ihr Heimatland aus politischen Gründen verlassen mussten. Dazu zählten z.B. progressive Intellektuelle, die die autoritären kontinentaleuropäischen Königreiche in Richtung England und Amerika verließen, um sich in den kosmopolitischen Ballungszentren von London oder New York niederzulassen, wo sie ihre politischen Ideen frei artikulieren und verwirklichen konnten, ohne um ihr Leben zu fürchten. Diese Fluchtbewegungen wurden durch die niedergeschlagenen demokratischen Aufstände im Jahr 1848 in Deutschland, Österreich oder Italien zusätzlich forciert (Sassen 1996, S.50).
Weitere größere Fluchtmigrationen in Europa wurden zum Ende des 19. Jahrhunderts angestoßen, als etwa zwischen 1880 und 1914 ca. 2,5 Millionen Juden und Jüdinnen aus Osteuropa in Länder Westeuropas, Nord- und Südamerikas flohen (Bade 2000; Sassen 1996, S.93). Im 20.Jahrhundert wurden Fluchtwanderungen vor allem durch Diktaturen und Kriege ausgelöst. Allein die beiden Weltkriege führten dazu, dass Millionen Menschen weltweit ihre Heimat verloren. In Europa waren vor allem die von den Nazis verfolgten Gruppen in Deutschland und in den von Deutschland besetzten Gebieten betroffen. So haben bis zum Kriegsausbruch im Jahr 1939 z.B. fast 400.000 Jüdinnen und Juden Deutschland und das annektierte Österreich verlassen. Davon sind rund 100.000 in die USA, 60.000 nach Palästina, 40.000 nach Großbritannien und rund 75.000 nach Lateinamerika ausgewandert (Holocaust Encyclopedia 2016). Während und kurz nach dem Zweiten Weltkrieg haben viele Millionen Menschen Europa in Richtung Australien, Kanada, USA und Südamerika verlassen (Castles und Miller 2009, S.191). Auch innerhalb Europas mussten viele Menschen infolge des Krieges fliehen. Die größte Gruppe waren die rund 14 Millionen Vertriebenen aus den deutschen Ostgebieten in das heutige Gebiet Deutschlands.
In der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts hat sich die Richtung der Fluchtmigration dann umgedreht. Westeuropa wurde von einer Ausgangs- zu einer Zielregion für Geflüchtete. Menschen aus Afrika und Asien flohen vor allem vor Kriegen, ethnischen Konflikten, Armut, Hunger und Umweltkatastrophen, Menschen aus Osteuropa vor politischer Unterdrückung in kommunistischen Ländern in die westeuropäischen Länder, wo sie kriegsbedingte Lücken in einer boomenden Wirtschaft füllten. Bis zum Mauerbau im Jahr 1961 flohen zudem etwa 2,6 Millionen Menschen aus der damaligen DDR in die Bundesrepublik Deutschland (Sippel 2009). Während des Kalten Krieges wurde die Asylpolitik der westlichen Länder gegenüber Geflüchteten aus den kommunistischen Ländern dabei als Propaganda gegen den Kommunismus instrumentalisiert, insbesondere nach den Aufständen in Ungarn 1956 und in Prag 1968 (Castles und Miller 2009, S.191).
Auch die verfehlte Kolonialpolitik westlicher Mächte und die Ausbreitung nicht-demokratischer Regime und Militärdiktaturen in Afrika und Asien trugen zu Armut und Unterdrückung und somit zu einer steigenden Fluchtmigration bei (Zolberg et al. 1989). Weltweites Aufsehen erregten die 1,6 Millionen südostasiatischen „Boat People“1, die vor politischer Unterdrückung in ihrem Heimatland nach dem Ende des Vietnamkrieges im Jahr 1975 in Booten über das Südchinesische Meer flüchteten. Die meisten von ihnen kamen aus Vietnam, einige aber auch aus Laos und Kambodscha. Diese „Boat People“ wurden von verschiedenen Staaten aufgenommen, 35.000 von ihnen in Deutschland (Deutsches Rotes Kreuz 2005). Über 250.000 der Geflüchteten starben aber auf der Flucht auf hoher See.
Nach dem Kalten Krieg entstanden neue Konfliktherde. So kam es in den 1990er Jahren in Jugoslawien zu einer Reihe von Konflikten und Kriegen, die auf vielschichtigen ethnischen, religiösen und ökonomischen Auseinandersetzungen basierten. Dies löste die Flucht und Vertreibung von hunderttausenden Menschen aus. Zudem haben vor allem in Afrika und dem Nahen Osten religiöse und ethnische Auseinandersetzungen für große weitere Fluchtmigrationen gesorgt. Aus dem Nahen Osten flohen und fliehen vor allem Menschen aus Syrien und dem Irak, vor religiös-ethnischen Konflikten ebenso wie vor staatlicher Gewalt sowie der islamistischen Terrororganisation „Islamischer Staat“ (IS). Unter den Geflüchteten sind auch Minderheitengruppen wie Christen, Drusen oder Jesiden. In Afrika fliehen Menschen ebenfalls vor Bürgerkriegen oder, wie in Nigeria, vor radikal-islamischen Terrorgruppen, wie die Boko Haram. Drei Millionen Afghan*innen leben seit Jahrzehnten wegen des Bürgerkriegs in ihrem Land in Pakistan (Wojczewski 2015).
Infolgedessen haben sich in den letzten Jahrzehnten die Geflüchtetenzahlen immer weiter erhöht. Ende 2019 waren weltweit über 33 Millionen Menschen in ein anderes Land geflüchtet. Hinzu kommen noch einmal über 45,7 Millionen Menschen, die innerhalb ihres eigenen Landes geflüchtet sind (sog. Binnenvertriebene, engl. IDPs – „internally displaced persons“). Demnach sind zurzeit 79,5 Millionen Menschen auf der Flucht (UNHCR 2020). Dies ist die höchste Zahl an Geflüchteten, die jemals offiziell ermittelt wurde.
Abbildung 17:
Die fünf größten Ursprungsländer von Geflüchteten 2019 (in Millionen)
Quelle: UNHCR, Global trends. Forced displacement in 2020.
3.2 Genfer Flüchtlingskonvention und UNHCR
Aufgrund der schlimmen Erfahrungen aus zwei Weltkriegen und der daraus resultierenden Fluchtbewegungen hat die internationale Staatengemeinschaft nach dem zweiten Weltkrieg neue Rahmenbedingungen für die Aufnahme und Schutzgewährung von Geflüchteten geschaffen. Hierzu wurde im Jahr 1951 auf einer UN-Sonderkonferenz die Genfer Flüchtlingskonvention (GFK) verabschiedet.1 Sie bildet seither die Grundlage des internationalen Flüchtlingsrechts.2 Hier wird definiert, wer als Geflüchteter gilt und welche staatlichen Schutzgarantien Geflüchteten zu gewähren sind. Zudem werden Hilfsmaßnahmen und die Rechte der Geflüchteten festgelegt. Bis heute haben 149 Staaten die GFK ratifiziert (UNHCR 2020).
Als zentrale Institution der internationalen Flüchtlingsvereinbarung wurde, ebenfalls im Jahr 1951, das Flüchtlingshilfswerk der Vereinten Nationen gegründet, das Hochkommissariat der Vereinten Nationen für Flüchtlinge (engl. United Nations High Commissioner for Refugees, UNHCR). Der UNHCR ist in erster Linie für die Rechte der Geflüchteten und die Einhaltung der Genfer Konvention verantwortlich und soll weltweit in Krisengebieten vor Ort Hilfe leisten, wie das Organisieren von Camps für Geflüchtete und die Bereitstellung von Nahrung und Medizin (Loescher 2009). Der UNHCR ist von einer kleinen Behörde mit nur einem Kommissar (Gerrit Jan van Heuven Goedhart) und einem Sekretär im Jahr 1951 zu einer großen Organisation mit einer Belegschaft von heute über 17.000 Mitarbeiter*innen und einem jährlichen Budget von rund 8,6 Milliarden US-Dollar im Jahr 2018 angewachsen (UNHCR 2020). Dennoch leidet der UNHCR unter finanzieller Unterversorgung durch die UN-Mitgliedsstaaten und ist v.a. abhängig von den größten Beitragszahlern USA, EU, Deutschland, Schweden, Japan, Großbritannien, und Norwegen.
Vorgeschichte zur GFK
Bevor die GFK in Kraft gesetzt wurde, wurden Geflüchtete in bestehende Migrationskanäle integriert, wobei dies hauptsächlich nach ökonomischen Kriterien erfolgte. So wurden Geflüchtete, wie die russischen Geflüchteten, die ihr Land nach der Oktoberrevolution verlassen mussten, idealerweise in ein Land vermittelt, das Bedarf an Arbeitskräften hatte. Hierfür wurde 1922 der sog. Nansen-Pass eingeführt, mit dem ihnen die Weiterreise ermöglicht wurde. Für einige Jahre übernahm die Internationale Arbeitsorganisation (ILO) die Vermittlung von Geflüchteten auf dem internationalen Arbeitsmarkt (Long 2013). So wurden Geflüchtete zu Arbeitsmigrant*innen gemacht. Die Kehrseite war, dass nicht universeller Schutz, sondern Kriterien wie berufliche Qualifizierung über ihre Aufnahme entschieden.
Im Zuge der Weltwirtschaftskrise in den 1930er Jahren brach dieses System aber weitgehend zusammen. Viele Länder schotteten sich auch vor den Geflüchteten des Naziregimes ab. Angesichts von Millionen Vertriebenen im Zweiten Weltkrieg wurden zunächst neue Institutionen geschaffen. Ein Beispiel ist die International Refugee Organization (IRO), deren Aufgaben seit 1952 vom UN-Flüchtlingshilfswerk UNHCR übernommen werden. Viele Staaten rechneten Geflüchtete auf ihre selbstdefinierten Zuwanderungsquoten an. Ob ein selbstbestimmtes Leben außerhalb von Lagern möglich war, hing dabei erneut von ökonomischen Faktoren ab. Die Sowjetunion brandmarkte Geflüchtetenlager als Sklavenmärkte, in denen sich westliche Mächte billige Arbeitskräfte besorgten. Für Long (2013) erklären solche Vorwürfe bis heute die Trennung in Geflüchtete und Migrant*innen sowie die Schwierigkeiten der internationalen Gemeinschaft, Geflüchtete auch als potenzielle Arbeitskräfte wahrzunehmen.
Neben den Pflichten, die Geflüchtete im Gastland erfüllen müssen, werden in der GFK vor allem die wichtigsten Rechte der Geflüchteten festgelegt, die bis heute die Grundpfeiler der internationalen Flucht- und Asylpolitik darstellen. So wird in Art. 31, Nr. l der GFK festgelegt, dass Geflüchtete, die unrechtmäßig in ein Land einreisen, um ihr Leben zu schützen, nicht bestraft werden dürfen. Auch ist es verboten, Personen, die in ein Land einreisen, um dieses um Asyl zu bitten, unter Zwang zurückzuweisen, wenn ihnen in dem Land, in das sie zurückgeschickt werden sollen, Verfolgung aufgrund ihrer Ethnie, Religion, Nationalität, politischen Einstellung oder Zugehörigkeit zu einer bestimmten sozialen Gruppe droht (Art. 33). Dieser Grundsatz der Nichtzurückweisung (Principle of non-refoulement) von 1951 beschränkte erstmals die nationalstaatliche Entscheidungsgewalt im Feld der Migration zugunsten der Menschenrechte (Martin 2018, S.278f.).
In Art. 1A Abs. 2 wird definiert, wann eine Person als geflüchtet im Sinne der Genfer Flüchtlingskonvention gilt. Demnach wird jede Person als Geflüchete*r anerkannt, die „aus der begründeten Furcht vor Verfolgung wegen ihrer Rasse, Religion, Nationalität, Zugehörigkeit zu einer bestimmten sozialen Gruppe oder wegen ihrer politischen Überzeugung sich außerhalb des Landes befindet, dessen Staatsangehörigkeit sie besitzt, und den Schutz dieses Landes nicht in Anspruch nehmen kann oder wegen dieser Befürchtungen nicht in Anspruch nehmen will“ (UNHCR 1951, Art. 1 A, Nr.2).
Wichtig ist hierbei zu sehen, dass in der Regel nur Personen als Geflüchtete anerkannt werden, die eine individuelle Verfolgung durch einen staatlichen Akteur glaubhaft machen können. Alle anderen Gruppen, die etwa vor nichtstaatlichen Akteuren fliehen, fallen nicht unter diese Definition (Hoesch 2018, S.22). Für sie wurde später, auf europäischer Ebene, die Kategorie der sog. subsidiär Schutzberechtigten eingeführt. Hierdurch wird eine Person geschützt, „die nicht die Voraussetzungen [der GFK] erfüllt, der aber dennoch ersthaften Gefahren für Leib und Leben, etwa aufgrund eines Bürgerkrieges, oder unmenschliche Behandlung drohen“ (UNHCR 2020), wie Folter oder Todesstrafe. In vielen Länder wird das internationale Flüchtlingsrecht zudem noch durch nationale Bestimmungen ergänzt, wie etwa in Deutschland durch das grundgesetzlich verankerte Recht auf Asyl sowie Abschiebeverbote (Hoesch 2018).
Art. 1 A, Nr.2 GFK geht zudem auch auf Staatenlose ein, die sich „infolge solcher Ereignisse [begründete Furcht vor Verfolgung wegen Rasse, Religion, Nationalität, Zugehörigkeit zu einer bestimmten sozialen Gruppe oder wegen politischer Überzeugungen] außerhalb des Landes“ befinden, „in welchem sie ihren gewöhnlichen Aufenthalt hatte[n,| und nicht dorthin zurückkehren [können] oder wegen der erwähnten Befürchtungen nicht dorthin zurückkehren [wollen]“. Ein besonderes Augenmerk innerhalb dieser Gruppe gilt palästinensischen Geflüchteten, die in der Westbank, dem Gazastreifen, Jordanien, Syrien oder dem Libanon leben. Für diese Gruppe gibt es ein Sonderprogramm, die United Nations Relief and Works Agency for Palestine Refugees in the Near East (UNRWA), das bereits im Jahr 1949 als temporäres Hilfswerk der Vereinten Nationen gegründet worden war und das in Folge des ersten arabisch-israelischen Krieges3 (1947-49) die aus ihren Siedlungsgebieten vertriebenen Palästinenser*innen mit Hilfsleistungen unterstützen sollte.4 2019 gab es 5,6 Millionen anerkannte Geflüchtete nach UNRWA-Definition, laut der alle zwischen 1946 und 1948 aus Palästina Vertriebenen sowie deren Nachkommen als Geflüchtete gelten (UNHCR 2020).5
Die UNRWA bietet Programme in den Bereichen Bildung, Gesundheit, Sozialleistungen und Rechtssicherheit, finanziert aber auch Mikrokredite und verbessert die Lebensbedingungen in 58 Geflüchtetenlagern, in denen ein großer Teil der palästinensischen Geflüchteten lebt (UNRWA 2019; Feldman 2012, S.390). Dabei lässt sich ein Wandel von der ursprünglichen Fürsorgefunktion hin zu Unterstützungsleistungen zur Selbsthilfe nachvollziehen, die auch verstärkt den Schutz von Menschenrechten beinhalten. Im Kontext der bewaffneten Konflikte in Syrien und im Irak hat die UNRWA gemeinsam mit dem UNHCR Schutzmaßnahmen für Palästinenser*innen in grenznahen Auffanglagern etabliert. Versuche der UNRWA, palästinensische Geflüchtete langfristig in den Aufnahmegesellschaften zu integrieren, werden allerdings von arabischen Aufnahmestaaten und auch von vielen Geflüchteten nach wie vor blockiert. Die Hilfsleistungen der seit Jahren unterfinanzierten UNRWA hängen außerdem zu über 90 Prozent an der Finanzierung durch wenige Hauptgeberländer (Akram 2016, S.7ff.; UNRWA 2020).
Aus der UNRWA-Sonderregelung ergibt sich in der Praxis eine Schutzlücke für die überwiegend staatenlosen palästinensischen Geflüchteten. So fallen UNRWA-Geflüchtete nicht unter den Schutz des UNHCR, da die UNRWA aus Sicht der Vereinten Nationen als separates Hilfsprogramm etabliert worden war. Die umfangreichen Regelungen des UNHCR zur Verantwortung von Drittstaaten gegenüber Geflüchteten (z.B. Resettlement) gelten demnach nicht für Palästinenser*innen in den arabischen Hauptaufnahmeländern. Lediglich palästinensische Geflüchtete außerhalb der UNRWA-Regionen können den Schutz des UNHCR in Anspruch nehmen, insofern sie unter die individualisierte Flüchtlingsdefinition der GFK (Art. 1A, Nr.2 fallen, s.o.). Zudem hat die UNRWA kein Mandat, um dauerhafte Lösungen zu finden, was die Möglichkeiten der Organisation gegenüber den fast zwölf Millionen Palästinenser*innen weltweit deutlich einschränkt (Akram 2016, S.6-9).
Der Israel-Palästina-Konflikt
Die Zuwanderung von Jüd*innen nach Palästina, das bis ins 19.Jahrhundert überwiegend arabisch geprägt war, begann bereits in den 1880er Jahren.6 Getragen von der Idee des Zionismus, also der Rückkehr in das ‚gelobte Land‘, immigrierten Jüd*innen aus aller Welt, um Antisemitismus und gesellschaftlicher Benachteiligung zu entfliehen. Die Errichtung eines israelischen Nationalstaates wurde schon früh zum erklärten Ziel der zionistischen Bewegung. In dem ab 1920 unter britischem Mandat stehenden Palästina kam es schon bald zu ersten, teilweise bewaffneten Konflikten zwischen der arabischen Mehrheitsbevölkerung und den jüdischen Siedler*innen, aber auch gegenüber den britischen Machthabern. Der Holocaust in Europa hatte in den 1940er Jahren nicht nur große Migrationsbewegungen nach Palästina zur Folge – die jüdische Bevölkerung umfasste schließlich über 600.000 Personen –, sondern verlieh dem Vorhaben eines jüdischen Staates auch zusätzliche Legitimität. Nachdem die britische Regierung ihr Mandat 1947 abgegeben hatte, einigten sich die Vereinten Nationen zunächst auf einen Teilungsplan (Zwei-Staaten-Plan), der jedoch von bürgerkriegsartigen Unruhen unterbrochen wurde. Die Unabhängigkeitserklärung Israels 1948 provozierte schließlich einen Krieg mit den arabischen Nachbarstaaten. Der Sieg Israels resultierte in der Vertreibung von 600.000-800.000 Palästinenser*innen, von denen mehr als die Hälfte in den Gazastreifen bzw. die Westbank umsiedelte. Viele suchten jedoch auch Zuflucht in den Nachbarländern, vor allem in Jordanien (70.000), Syrien (75.000), Libanon (100.000) und zu einem geringeren Teil im Irak und in Ägypten (Schneider 2008, S.1ff.).
Seit der Gründung des Staates Israel hat das Land, bedingt durch die weltweite Immigration aus der jüdischen Diaspora, einen durchweg positiven Wanderungssaldo. Die Bevölkerung ist im Jahr 2019 auf fast neun Millionen angewachsen, von denen nur noch ca. 21 Prozent arabischer Herkunft sind (Israel Central Bureau of Statistics 2020, S.6). Gleichzeitig leben rund 5,6 Millionen palästinensische Geflüchtete in Gaza, der Westbank (inkl. Ostjerusalem), Jordanien, Syrien und dem Libanon.
Neben Geflüchteten und Staatenlosen definiert der UNHCR zudem Asylbewerber*innen als eigene Kategorie. Hierbei handelt es sich um Flüchtende bzw. Migrant*innen, die von den offiziellen Stellen noch nicht als Geflüchtete (im Sinne der GFK oder im Sinne eines subsidiären Schutzes, s.o.) anerkannt worden sind. Ob ein Asylantrag angenommen wird, richtet sich nach den nationalen Asylgesetzen, die in der Regel den Grundsätzen der Genfer Flüchtlingskonvention folgen. Da in der Praxis nicht immer einfach zu entscheiden ist, ob es sich um erzwungene oder freiwillige Migration handelt, da sich in Migrationen politische mit wirtschaftlichen Gründen mischen können, wurde in den 1990er Jahren das Konzept der sog. ‚mixed migrations‘ entwickelt (Linde 2011). Hierbei ging es vor allem darum, die Unterscheidbarkeit von erzwungener und freiwilliger Migration zu erleichtern, und Geflüchteten zu helfen, Arbeit aufnehmen und ein normales Leben führen zu können. Die Vermischung beider Wanderungen ist insbesondere für humanitäre Hilfsorganisationen schwierig, weil diese häufig an ein bestimmtes politisches Mandat (z.B. den Schutz einer bestimmten Gruppe wie etwa Geflüchtete) gebunden sind.
Der UNHCR hat jedoch dazu aufgerufen, auch migrierenden Menschen, die keine Geflüchteten sind, Schutz zu bieten und die Gefahren, denen sie sich bei der Wanderung aussetzen, anzuerkennen. Dieses Signal ist besonders wichtig, da diese (äußerst diverse) Gruppe ansonsten keinerlei Fürsprechende hat, die sich für sie einsetzen. Damit überschreitet der UNHCR zwar sein Mandat, füllt aber eine wichtige Lücke aus.
Schutz von Geflüchteten und gemischte Wanderungen
Der UNHCR hat sich bereits früh mit dem Problem der gemischten Wanderungen auseinandergesetzt, um die Gefahren, denen Menschen, die migrieren, ausgesetzt sind, ins Bewusstsein zu bringen und deren Menschenrechte zu wahren. Er hat hierfür ein Zehn-Punkte-Programm aufgestellt, mit dessen Hilfe Migrant*innen, die keine Geflüchteten sind, geschützt werden sollen (UNHCR 2007, S.1-2). Die Punkte umfassen u.a. mehr Kooperation der beteiligten Hilfsorganisationen, eine Verbesserung der Datenlage sowie die Entwicklung einer Informationsstrategie, mit der mehr Sicherheit auf der Wanderungsroute und mehr Aufnahmemöglichkeiten für die Geflüchteten geschaffen werden sollen. Zudem soll eine unterstützte Rückkehr gefördert werden.
Einen ähnlichen Ansatz verfolgt der North Africa Mixed Migration Hub (MHub). Er setzt sich für den Schutz von Migrierenden in Nordafrika ein. U.a. sammelt er Daten zum Verstoß gegen Menschenrechte, die Politik und Öffentlichkeit aufrütteln sollen. Auch der MHub verweist auf die komplexen Wanderungsbewegungen unterschiedlichster Menschen mit unterschiedlichsten Migrationsmotiven. Er betont aber, dass all diese Menschen ständig Gefahren ausgesetzt sind. Er setzt sich damit für den Schutz der Menschenrechte ungeachtet der Form der Migration ein (MHub 2016, S.1).
Daneben hat der UNHCR auch ein Mandat für die oben angesprochenen Binnengeflüchteten, die innerhalb ihres Heimatlandes flüchten, und von der UNHCR offiziell als „Internally Displaced Persons“ (s.o.) bezeichnet werden. Wie wir schon gesehen haben, machen sie den größeren Teil der weltweit Geflüchteten aus. Obwohl sie häufig aus den gleichen Gründen fliehen (bewaffnete Konflikte, Menschenrechtsverletzungen), verbleiben sie jedoch im Gegensatz zu internationalen Geflüchteten unter dem Schutz des Rechtssystems ihres Staates (UNHCR 2014). Dennoch ist klar, dass auch diese Gruppe internationalen Schutzes bedarf, insbesondere wenn die eigene Regierung der Grund für ihre Flucht ist, wie man aktuell in Syrien sieht.
Abbildung 18:
Entwicklung der Zahl der Geflüchteten weltweit 1951-2019 (inkl. Binnenvertriebene) (in Millionen)
Quelle: UNHCR 2020.
Über die Hälfte der weltweit flüchtenden Menschen sind Kinder und Jugendliche unter 18 Jahren. Viele von ihnen flüchten sogar alleine, ohne die Begleitung ihrer Eltern oder sie werden auf der Flucht von ihnen getrennt. Im Jahr 2015 wurden weltweit knapp 100.000 unbegleitete geflüchtete Kinder und Jugendliche außerhalb ihrer Herkunftsländer registriert (UNHCR 2017). Diese Gruppe der unbegleiteten minderjährigen Geflüchteten gehört zu der Gruppe der „besonders schutzbedürftigen Personen“ (Müller 2014, S.10). Sie sind auf der Flucht oftmals besonderen Gefährdungen ausgesetzt, werden häufig Opfer von Gewalt, Konflikten und auch Ausbeutung. Aus diesen Gründen benötigen sie besonderen Schutz und Aufmerksamkeit (Müller 2014, S.10). Besonders problematisch ist ihre Situation an der US-amerikanischen Grenze. Hier werden trotz strenger Gesetze und Richtlinien Kinder immer wieder inhaftiert und sogar vermisst gemeldet.