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Sorin Mirel Constantin

Grenzen

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Inhaltsverzeichnis

Titel

Widmung

Ein paar Sekunden

Man muss bezahlen

Schnee

Der Wein und die Spuren im Schnee

Die Anrufe

Im Schlamm gelandet

Der Lieblingsgast

Der große Fluss

Im Bauch der blinden Kuh

Schmetterlinge

Zeichen am Kontrollposten

Neues Kapitel

Orientexpress

Passt auf euch auf!

Onkel Karl

Die Zugfahrt

Am Arm gepackt

Budapest

An der Front

Absurder Spaziergang

Blumen vor dem Fenster

Die Überraschung

Draußen und Blick zurück

Kopfbahnhof Wien

Mit zwölf

Endstation

Visa

Erleichterung

Mia hat gewonnen

Sie ist da

Verhör

Und noch einmal

Freunde

Theo

Fehlschlag

Neuer Versuch

Zwischenstation

Die Türe

Hürden

Die erste Wohnung

Victor und seine Rache

Alexandru

Zukunft?

Anna

Zuhause in Italien

Vittorio Emanuele II.

Der Graf

Neapel

Spaghetti nur heiß

Baia

Nichts wie weg

Danksagung

Impressum neobooks

Widmung

Für Anca und Sonia

Ein paar Sekunden

Nur ein paar Sekunden. Wahrgenommen hatte sie es gar nicht. Das weiße Pferd, das in aller Ruhe über die Straße mitten in der Nacht lief, hatte sie nicht gesehen. Den Satz, den sie vor diesen Sekunden angefangen hatte, hatte sie unterbrochen. Das weiße Pferd überquerte die Landstraße und kümmerte sich nicht um die hellen Scheinwerfer des Wagens, deren Licht sich wie scharfe Messer in die dunkle Nacht hineindrückte. Es lief langsam, gemächlich. Es wollte zeigen, dass es dahin gehörte und dass es genau um diese Uhrzeit einen weißen Strich über die Straße ziehen musste. So, als sollte es ein »vor dem weißen Pferd« und ein »nach dem weißen Pferd« geben.

Alexandru drückte das Gaspedal so kräftig, dass die Reifen laut quietschten wie die Sirenen der alten Salamifabrik in der Nähe ihrer Wohnung damals in Hermannstadt, bei jedem Schichtwechsel, sogar nachts konnte man sie hören. Die schwarzen Reifenspuren, die der Wagen hinterließ, blieben zurück als einzige Zeugen der Begegnung mit dem weißen Pferd. Lang und schwarz waren sie, als wollten sie die Schärfe der Scheinwerfer wegwischen. Anna wurde von dem Quietschen der Reifen und dem Ruck, mit dem der Wagen fast stehen blieb, wach.

Er wusste nicht, ob sie das Pferd gesehen hatte, fragte nicht danach, so wie er den ganzen Tag und die halbe Nacht fast keine Fragen gestellt hatte. Welches Zeichen wollte dieses Pferd setzen? Ein weißes Pferd, das ihnen bei Nacht vor ihrem Wagen erschienen war, um gleich danach zu verschwinden.

Sie hatten sich diese Reise gewünscht, sie wollten unbedingt zurück, nur für kurze Zeit. Sie machten diesen langen Weg und wussten, dass diese Reise zurück mehr bedeuten konnte, als nur die Eltern zu besuchen. Und jetzt dieses weiße Pferd! Er war zu müde, um tiefer zu grübeln, sich zu fragen, was all die Umleitungen, all die Umstöße und all die Umkehrungen, die es häufig in der letzten Zeit gegeben hatte, zu sagen hatten.

Als Anna ihren »vor dem weißen Pferd« unterbrochenen Satz wieder aufrollte, huschten die paar Sätze, die sie sprach, an seinem Ohr vorbei. Er, Alexandru, wusste es. Dieses Zeichen, was auch immer es zu bedeuten hatte, hatte sie nicht wahrgenommen, es existierte für sie nicht. Sie sprach weiter, um ihn am Steuer wach zu halten. Ihr dagegen fielen die Augen zu; an ihren Augenlidern hingen schwere Lasten, wie Steine, die man um die Hälse von Katzen legte in der alten Heimatstadt, wenn man diese Katzen ertränken wollte, wenn man diese Katzen nicht mehr haben wollte. Man warf sie in den alten Fluss, in den schlammigen, langsam fließenden Zibin. Anna wusste nicht, was sie sagte, sie sprach wie von einem Band, wie Alexandru in manchem Verhör, ohne Unterbrechung, ohne etwas sagen zu wollen, ohne etwas sagen zu können, die Krallen der Angst im Nacken. Die Angst jetzt bei Anna, dass Alexandru am Steuer einschlafen könnte. Sie war davon überzeugt, ihn wach halten zu können. Er musste schließlich noch etwa 150 km fahren, und die Nacht war schwarz wie Pech, und die digitale Uhr zeigte 03:24 morgens, tief in der Nacht. Nacht. Schlafen. Das Kind schlief hinten auf der Rückbank. Sie blickte plötzlich nach hinten, wie in Panik, das Kind atmet nicht! Auf der Rückbank schlief ihre fünfjährige Tochter, sorgenlos, sie atmete ruhig aus und ein, sie schien einen schönen Traum zu haben. Anna beruhigte sich.

Man muss bezahlen

Die Angst, sie nicht mehr atmen hören zu können, hatte sich so fest in ihr Gedächtnis eingegraben wie ein Maulwurf, der vor der Kälte flüchtet und sich tiefer und tiefer in der Erde seine winterliche Unterkunft baut. Es war damals an der Grenze gewesen, die schwer bewachte Grenze mit Maschinenpistolen, Grenztürmen und Kontrollen, bei denen man nicht einmal einen Liebesbrief in der Hosentasche verstecken konnte oder eine goldene Kette in einer Zahnpastatube. Dies galt sowohl für Ausreisende als auch für Einreisende. Man konnte sie nur passieren wie beim Passieren eines gewissen mythologischen Flusses: nur, wenn man etwas dafür abgab. Man gab Zigaretten, Whisky oder Geld ab, man verlor schnell die Achtung vor sich selbst, man fühlte sich erniedrigt, man wurde angesteckt mit einem Virus. Beim bloßen Wort »Grenze« schaute man nach links und rechts mit dem Blick eines gejagten Tieres, man spürte dieses Gefühl der Leere im Magen, als hätte man lange Zeit nichts gegessen. Das kleine Mädchen Sophia, ihre Tochter, wurde lange Jahre danach, beim Passieren welcher Grenze auch immer, selbst wenn keine Grenzsoldaten sie überwachten, schon Kilometer bevor die Grenze sichtbar war, hell wach, und Anna konnte es jedes Mal deutlich hören: Sophias Herz klopfte laut und schnell. Es war aber nicht Freude, die ihr Herz lauter und schneller klopfen ließ. »War die Grenze schon oder müssen wir noch warten?«, wollte sie jedes Mal wissen, obwohl viele Grenzen nicht mehr als Grenzen zu erkennen waren.

Alexandru fuhr weiter durch die warme tiefschwarze Nacht. Es war jetzt die zweite Reise nach Rumänien, und er musste an damals denken, als sie zum ersten Mal zurückfuhren, zurück nach Hermannstadt, wo die Eltern in ihrem kleinen Haus in der Nähe des Jungen Waldes lebten und wo auch sie gelebt hatten, zur Schule gegangen waren, sich ineinander verliebt und geheiratet hatten, wo ihre Tochter zur Welt kam. Es war die erste Erfahrung mit der rumänischen Grenze nach ihrer Ausreise vor einigen Jahren.

Nur die Augen des Grenzsoldaten konnte man erkennen, in seinem langen, dicken Mantel eingehüllt und mit seinen überdimensionalen Filzstiefeln, in denen er sich kaum bewegen konnte.

»Aussteigen, alle!«

Sie stiegen aus und wussten sofort, warum er diesen Mantel brauchte. Der Schnee knirschte unter ihren feinen Schuhen, und sehr schnell wussten sie nicht mehr, warum sie zitterten, wegen der für diese Jahreszeit ungewöhnlichen Kälte, oder weil sie zum ersten Mal die Grenze zurück passierten und nicht wussten, was ihnen widerfahren würde. Oder war es die Aufregung, wieder diese Sprache dort zu hören und zu sprechen, die Gerüche, auch wenn sie sie nicht mochten, wiederzuerkennen?

»Auch die Tochter muss raus!«

»Sie schläft aber, sie ist vier Jahre alt, bitte lassen Sie sie schlafen, im Wagen ist es warm.«

»Alles raus! Kind, Gepäck, alles!« Den Tonfall des Befehls erkannten sie wieder, er war ruhig, gelassen und trotzdem bestimmend, getragen von einer ungeheuren Sicherheit: Hier bestimme nur ich und niemand anderes. Sie mussten sich fügen, sie hatten nicht einmal die Kraft oder den Mut, sich zur Wehr zu setzen. Nicht einmal innerlich. Es gab kein Zähneknirschen, keine in der Tasche geballte Faust. Sie packten alles heraus auf die für diesen Zweck aufgestellten Bänke: Kleiderkoffer, Nahrungsmittelkisten, Medikamente, alles, was sie hatten. Anna ging mit Sophia ins Zollhaus, es stank nach abgestandenem Zigarettenrauch. Sie kannte diesen Gestank. Es war der Gestank von schäbigen Kneipen, in deren Holzböden Petroleum eingelassen wurde, angeblich aus hygienischen Gründen, in denen unrasierte raue Männer streng riechenden Zwetschgenschnaps tranken und billige, filterlose Zigaretten der Marke Marasesti rauchten, nach der schweren Arbeit in der Fabrik. Sie betranken sich, damit sie zuhause einen Grund hatten, ihre Frauen schlagen zu dürfen. Es war kalt im Zollhaus, genauso kalt wie draußen vielleicht. Draußen nahm sich der warm angezogene Zöllner die Zeit, alles in Ruhe zu betrachten und wollte auch unterhalten werden.

»Wie seid ihr denn raus?«

»Als Touristen.«

»Aha, und nicht mehr zurückgekommen, eh?« Was wollte er damit sagen? Es wurde deutlich kälter, Alexandru fing an, noch stärker zu zittern unter seiner kurzen ledernen Jacke. Was hatten sie vor mit einem, der »geflüchtet« war? Trotz seines deutschen Reisepasses, den er stolz an jeder Grenze vorzeigen wollte und den keiner anschauen wollte?

»Und diese Tasche, was ist drin?«

»Medikamente für meinen herzkranken Schwiegervater«. Es fing eine Auslese an, die Guten ins Töpfchen und diejenigen, die der Zöllner nicht weiterverkaufen konnte, blieben in der Tasche.

»Die hier sind für mich, ihr könnt weiterfahren. Übrigens, nach zwei Kilometern ist die Straße unpassierbar. Schnee.«

Schnee

Sie fuhren trotzdem weiter, sofort, der Soldat könnte sich das auch anders überlegen, nein, sie mussten schnell weg.

In einem kleinen für sie namenlosen Grenzdorf mussten sie tatsächlich nach zwei Kilometern anhalten. Die hellen Scheinwerfer leuchteten auf ein mitten auf der Straße stehendes Schild aus Pappe: »Drum barat!« Es ging nicht weiter. Alexandru stieg aus dem Wagen und sah sich um. Alles dunkel, keine Straßenlaternen, er konnte kein Haus sehen. Doch, auf der rechten Seite der Straße erblickte er ein schwaches Licht. Er ging dem Licht entgegen. Es war ein großes, schmutziges Fenster, auf dem er das Wort »Hotel« erkennen konnte. Rechts davon eine dunkle, schwere Metalltür, die Alexandru mit großer Mühe öffnete. Die kleine Eingangshalle war voller Menschen. Manche saßen in den paar Sesseln, die um einen kleinen quadratischen Tisch aufgestellt waren, andere sah man auf dem Teppichboden sitzend oder liegend, Kinder schliefen in den Armen ihrer Mütter. Die Metalltür fiel mit einem höllisch lauten Knall zu, alle Anwesenden sprangen auf, böse Blicke richteten sich auf Alexandru, der vergessen hatte, dass man Türen hier leise schließen musste. Nein, es gab keine freien Zimmer. »Sie sehen es doch, alle hier wollen ein Zimmer!«

Die Nacht verbrachten sie im Wagen, einige Kilometer hinter der Grenze, bei laufendem Motor, damit sie nicht erfrieren würden. Sie hatten sich eingehüllt in Daunenjacken und Pullover, die sie als Geschenke für die Cousins und Cousinen mitgenommen hatten. Anna schaute jede fünf Minuten nach hinten und schüttelte Alexandru jedes Mal wach: »Sie atmet nicht mehr.«

»Doch, sie schläft, ruh dich aus, sie schläft tief, hab keine Angst.« Fünf, zehn Mal, fünfzehn Mal sprang sie auf. Sie schliefen trotzdem ein wenig.

Ein improvisiertes Frühstück. Die Bewohner des kleinen Dorfes an der Grenze brachten etwas Wurst in die Hotelhalle, etwas Butter, die sich nicht streichen ließ, weil sie zerbröckelte. Die Hotelangestellten machten Tee, für alle, selbst für diejenigen, die kein Zimmer in der Nacht mehr bekommen hatten und in ihren Autos übernachten mussten bei laufendem Motor. Die Sonne schien so hell und weiß über das Meer von sauberem Schnee, als wäre nichts passiert, und der Schnee verspräche, alles sauber zu waschen, um alles vergessen zu machen. Man konnte tatsächlich nach dem improvisierten Frühstück weiterfahren.

Der Schnee hielt sein Versprechen nicht, er wurde immer grauer, immer holpriger, immer glitschiger wie die Haut eines aus einem trüben, matschigen Wasser gefischten Aals. Man verlor das Gefühl, das man für einen Augenblick hatte, alles würde glattgehen, weiß und hell sein, wie der Morgen es versprochen hatte. Die Reise dauerte ewig, man konnte nicht schnell fahren, die Straßen waren nicht geräumt, man wusste nicht, trotz der fast blind machenden Helligkeit, ob man auf der Straße fuhr oder quer durchs Feld.

Dreihundert Kilometer und sechzehn Stunden weiter, um drei Uhr morgens, der erste geräumte Weg: die Einfahrt zur Garage ihrer Eltern, Annas Eltern, geräumt, als hätte es in den letzten Stunden nicht geschneit. Victor war jede Stunde aufgewacht und hatte den Schnee zur Seite geschaufelt, der Schnee, der auf der Straße aufgetürmt war, als bildete er einen Wehrturm oder eine Wehrmauer um alle Häuser herum zum Schutze gegen die langen Ohren der »Staatsnacht« oder der Staatsmacht in der Stadt, in der vor Jahrhunderten drei Gürtel von Wehrtürmen und Wehrmauern gegen die Türken oder gegen die Mongolen errichtet wurden. Nicht gegen die eigene Bevölkerung. Drei Gürtel, die die Bevölkerung zusammenhalten sollten und die es taten, sechs- oder siebenhundert Jahre lang, oder waren es mehr? Sie hielten Sprache, Trachten, Gewohnheiten zusammen bis jetzt, wo alles zerbröselt, wo die Menschen, trotz der Grenzen und der Mauern, die um sie gebaut wurden, abhauen, neue Sprachen oder neue Dialekte der eigenen Sprache lernen müssen.

Der Wein und die Spuren im Schnee

Der Wein wurde aus dem Keller geholt, Alexandru wusste noch genau, wie das ging. Mit einem Gummischlauch zog man im Keller den Wein, der vom Schwiegervater im Herbst gemacht wurde, aus der bauchigen 25 Liter Flasche mit ganz dicken grünen Glaswänden in Literflaschen und hatte dabei jedes Mal einen Schluck von dem Wein sicher. Dann ging man die Treppen hoch und stellte den Wein auf den Tisch. Dies wiederholte sich etliche Male. Der Wein schmeckte ihnen, er war weich und nicht sehr süß, Victor war sehr stolz auf seine Weinmacherkunst. Früher holten sie den Wein von einem Siebenbürger Sachsen aus Agârbiciu, deutsch »Arbegen« und sächsisch »Arbäjen« im Kreis Hermannstadt, Gemeinde Frauendorf. Herr Hermann, ein kräftiger Mann mit immer roten Wangen, erwartete sie und führte sie ins Haus, ins vordere Zimmer, wo keiner schlief, wo aber die Gäste empfangen wurden. Dort gab es jedes Mal große Platten mit geräucherter Wurst, in Schmalz eingelegtes Schweinefleisch, Scheiben von einem dicken weißen Speck und ein wunderbar duftendes Bauernbrot. Den Anfang machte eine Runde Zwetschgenschnaps, und dann wurden mit jedem Happen die Weine probiert, die Herr Hermann benannte: Riesling, Mädchentraube, Muskateller. Einmal durften sie alle auf den Kirchturm, wo die ganze Gemeinde ihre Vorräte aufbewahrte. Oben unter dem Kirchturmdach hingen hunderte geräucherte Würste, Riesentafeln Speck, geräucherter Schinken, alles unmarkiert. Jeder aus dem Dorf wusste genau, wem was gehörte und es fehlte nie jemandem etwas von seinen Vorräten. All das ging Alexandru durch den Kopf, als er die Treppen vom Keller aus in die Küche hochlief, die er so mochte, vielleicht auch, weil er an der Gestaltung dieser Küche damals sehr beteiligt war. Er war so begeistert von Victors Idee gewesen, einen Schreiner aus Rasinari, »Städterdorf« genannt, mit dem Bau der Küchenmöbel zu beauftragen, dass er, als alle ins Bett gingen, Stifte in die Hand nahm und am großen Küchentisch sitzend Möbel entwarf, so wie er sie in deutschen und französischen Zeitschriften gesehen hatte. Er zeichnete, bis die Sonne durch das Küchenfenster schien und er geblendet wurde von den Sonnenstrahlen und vom stechend weißen Schnee im Hinterhof und im Garten. Der Schnee lag da noch unberührt, damals.

Die amerikanischen Zigaretten wurden aus dem Wagen geholt, die Müdigkeit war verflogen. Das erste Wiedersehen nach drei Jahren. Man hatte so viel zu erzählen im Schutze der Nacht, die letzten drei Jahre hatten so viel gebunkert. Wie ein Hamster, der seine Vorräte versteckt, hatte man jeden Eindruck, jedes Geschehnis aufbewahrt, um es jetzt zu erzählen. Im Schutze der Nacht.

In der Morgensonne konnte man es am nächsten Tag deutlich sehen. Der Baum – mitten im Garten. Unter ihm konnte man, ohne gehört zu werden, über alles sprechen, ohne dass das Ohr der Wanze im Telefon oder in der Mauer davon Wind bekam. Mal voller Blüten, weiß über den Köpfen der miteinander Sprechenden wie eine runde, gezipfelte Schlafmütze, die das Schweigen oder das Geredete, die Geheimnisse oder das Unausgesprochene aufsog und nicht weitergab. Mal kahl, die Zweige wie Antennen der »Staatsnacht« oder der Staatsmacht gen Himmel gerichtet, die mit breitem Stiefel ungeniert in dem neuen Schnee ihre Spuren hinterließ. Das waren sichtbare, beabsichtigte Zeichen. Wir waren hier, wir haben alles gehört. Dort, wo ihr eure Geheimnisse der großen Schlafmützenkrone anvertraut habt. Spuren der breiten Stiefel zum Baum hin und um den Baum herum, Zigarettenstummel um den Baum herum. Der Blick des rauchenden Stiefeltragenden direkt durch das Küchenfenster auf den Tisch gerichtet, wo alle gesessen hatten. Wo sie ihre Geschichten, ihre Ängste, ihre Pläne ausgebreitet hatten. Im Schutze der Nacht, geschützt von der »Staatsnacht«, oder besser der Staatsmacht, dachten sie.

Die Anrufe

Das verwanzte Telefon klingelt um elf Uhr, gleich am nächsten Morgen. Mia weiß es ganz genau, das Telefon ist verwanzt, sie selbst hat früher bei der Telefongesellschaft gearbeitet.

Man wolle Alexandru sprechen. Wer da sei? Oberst Soundso.

»Ich bin aus diesem Grunde aus diesem Land geflohen, ich möchte keine Gespräche mit Ihnen führen!« Aufgelegt.

Zehn Minuten später. Man wolle Alexandru sprechen, Oberst Soundso.

»Sie haben es doch gehört, er möchte nicht mit Ihnen sprechen, war es nicht deutlich genug?«, sagt Mia mit einem am Anfang zögerlichen Ton und dann immer entschlossener, als machte sie ihr eigener Mut mutiger. Alexandru nimmt den Hörer in die Hand, Mias Mut gibt ihm Kraft.

»Und wenn Sie noch einmal anrufen, dann …«, was dann? Wie kann er in diesem Land, in dieser Stadt, die er so geliebt hat, die von der Staatsmacht umzingelt und vermauert ist, zeigen, dass er über das eigene Schicksal selbst entscheiden kann?

»… dann packe ich meine Leute und meine Sachen ins Auto und fahre zurück!« Lächerliche Antwort, er hat Angst, nichts anderes. Flüchten, erneut flüchten vor einer Stimme am Telefon, die nichts anderes tut, als ihn eine vergessen geglaubte Ekelkralle im Nacken spüren zu lassen. Eine Machtlosigkeit, die ihn grau und dumpf fesselt. Und dann die Vorstellung dessen, was unterwegs zurück in die Freiheit passieren könnte. Die Kralle drückt immer heftiger in seinen Nacken. Soll er aufgeben, soll er versuchen, wie damals zu sprechen, als er verhört wurde und stundenlang sprach, ohne etwas zu sagen, soll er so tun als ob? Einen Unfall zu inszenieren, wäre für diese Machtkrake ein Kinderspiel. Bericht in der lokalen Zeitung: »Drei Ausländer: Mann, Frau, Kind gestorben in einem fürchterlichen Unfall auf der E 34. Erhöhte Geschwindigkeit und Trunkenheit am Steuer.«

Er legt auf und wartet. Nichts. Bis zum nächsten Tag nichts. Kein Anruf vom Oberst Soundso. Er will nicht zugeben, dass er wartet, er tut es aber. Er kann sich nicht vorstellen, dass diese rauen, grauen immer adrett angezogenen Diener der Diktaturkrake bei so einem Satz aufgeben. »Ich nehme meine Spielsachen und gehe«, das ist kein Satz für die geschulten Henker der Staatsmacht. Sie versuchen es mit Sicherheit anders. Staatsicherheit, Securitate.

Der Rumäne sagt: »Geduld und Tabak«. Als könnte ihm das helfen.

Er zerdrückt in seinem Aschenbecher die kleinen, zylindrischen Formationen der Asche, die von seiner Zigarette herabfallen. Er zerkleinert sie, als wären sie in der ursprünglichen zylindrischen Form bedrohlich. Er scheint vor ihnen Angst zu haben. Sein Blick verrät aber, dass er geistesabwesend ist, dass diese Bewegung automatisch ist und er nicht nach vorne blickt, sondern tief in die Vergangenheit, er erinnert sich. Er will es nicht, er verdrängt es, aber es hat sich so viel angestaut. So wie sich Regenwasser in einem Regenwasserkübel während eines regnerischen Sommers sammelt und irgendwann, wenn die Pflanzen nicht damit bewässert werden, überläuft und Pfützen um den Kübel bildet, die bei Sonnenschein schnell verdunsten und doch Spuren hinterlassen. Getrockneter Schlamm, dunkel und unergründlich, bereit, beim nächsten Regen neue Pfützen zu beherbergen. Er wartet. Er sucht und versucht in diesem Schlamm die Antwort für die jetzige Situation zu finden.

Wie ist er in diesen Schlamm gelandet? Er erinnert sich ungern und doch flimmern ihm Bilder vor den Augen, Bilder, die er verdrängt hatte, die er gelöscht geglaubt hatte.

399
623,28 ₽
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120 стр. 1 иллюстрация
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9783750225732
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