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Sophie Scholl ist eine Ikone der deutschen Geschichte. Gemeinsam mit ihrem Bruder Hans und anderen Mitstreitern der Weißen Rose rief sie in Flugblättern zum Widerstand gegen das Hitler-Regime auf; ihren mutigen Einsatz bezahlte sie mit dem Leben. Wer war diese junge Frau, die nicht zögerte, für Frieden und Freiheit alles zu riskieren? Wie wurde aus der einst begeisterten Anhängerin des BDM eine überzeugte Widerstandskämpferin? Simone Frieling nähert sich Sophie Scholl in ihrem einfühlsamen Porträt anhand von Briefen, Aufzeichnungen und anderen historischen Dokumenten, beleuchtet ihre Kindheit, Jugend und Studentenzeit sowie die Beziehungen, Werte und Vorbilder, die sie prägten. So entsteht ein vielschichtiges und zutiefst menschliches Bild von Sophie Scholl jenseits der Legende.

Simone Frieling, 1957 in Wuppertal geboren, lebt als Malerin und Autorin in Mainz. Sie veröffentlichte Erzählungen, Romane, Essays, literarische Sachbücher und Anthologien. 1998 erhielt sie den Martha-Saalfeld-Literaturpreis. Ihre Ölbilder, Aquarelle, Pastelle und Grafiken wurden in zahlreichen Ausstellungen gezeigt.

Simone Frieling

SOPHIE SCHOLL

AUFSTAND DES GEWISSENS

Mit Grafiken

von Simone Frieling


INHALT

1UNERSCHÜTTERBARE WAHRHEITSLIEBE UND GROSSE PROPAGANDA

Sophie Scholl und Joseph Goebbels

2SIE WAREN BEREIT, MIT ALLEM ZU BEZAHLEN, WAS SIE HATTEN

Der Prozess

3ICH KANN GANZ RUHIG AN DICH DENKEN

Liebe und Krieg

4DIESE LIEBE, DIE SO UMSONST IST, IST FÜR MICH ETWAS WUNDERBARES

Die Familie

5SIE WAR WIE EIN FEURIGER, WILDER JUNGE

Körper und Identität

6DER GOTTGESCHENKTE FÜHRER

Das verherrlichte Regime

7AM BODEN ZERSTÖRT

Schmerzhafte Erinnerungen und neue Wege

8NACHWORT

ZEITTAFEL

LITERATUR

Das Bewusstsein eines inneren Gerichtshofes im Menschen (»vor welchem sich seine Gedanken einander verklagen oder entschuldigen«) ist das Gewissen.

Jeder Mensch hat Gewissen, und findet sich durch einen inneren Richter beobachtet, bedroht und überhaupt im Respekt (mit Furcht verbundener Achtung) gehalten, und diese über die Gesetze in ihm wachende Gewalt ist nicht etwas, was er sich selbst (willkürlich) macht, sondern es ist seinem Wesen einverleibt. Es folgt ihm wie sein Schatten, wenn er zu entfliehen gedenkt. Er kann sich zwar durch Lüste und Zerstreuungen betäuben, oder in Schlaf bringen, aber nicht vermeiden, dann und wann zu sich selbst zu kommen, oder zu erwachen, wo er alsbald die furchtbare Stimme desselben vernimmt. Er kann es, in seiner äußersten Verworfenheit, allenfalls dahin bringen, sich daran gar nicht mehr zu kehren, aber sie zu hören kann er doch nicht vermeiden.

Immanuel Kant


1
UNERSCHÜTTERBARE WAHRHEITSLIEBE UND GROSSE PROPAGANDA
Sophie Scholl und Joseph Goebbels

Während die Studentin Sophie Scholl am frühen Nachmittag des 18. Februar 1943 im Wittelsbacher Palais, dem Gefängnis der Gestapo-Leitstelle München, verhört wird, verlässt Joseph Goebbels in einem kugelsicheren Mercedes das Ministerium und wird zum Berliner Sportpalast chauffiert. Der Reichsminister für Volksaufklärung und Propaganda trifft kurz vor 17 Uhr im Stadtteil Schöneberg ein. In der Veranstaltungshalle ist alles vorbereitet für seinen größten Auftritt. Die Rednertribüne, die er schneidig betritt, ist mit zwei überdimensionalen Hakenkreuzfahnen geschmückt, an der Balustrade über ihr hängt, für jeden sichtbar, ein Spruchband mit vier Wörtern: »TOTALER KRIEG – KÜRZESTER KRIEG«. Vor vierzehntausend ihm begeistert zujubelnden Zuhörern hält der Berliner Gauleiter eine Rede, in der er das deutsche Volk auf den ›Totalen Krieg‹ einschwört. Als er nach fast zwei Stunden zum Schluss kommt, stellt er den sorgfältig ausgewählten Besuchern zehn rhetorische Fragen, von denen die vierte lautet: »Wollt ihr den totalen Krieg?« Ein tosendes »Ja!« ist die Antwort, und der Redner setzt nach: »Wollt ihr ihn, wenn nötig, totaler und radikaler, als wir ihn uns heute überhaupt vorstellen können?« Applaudierend erheben sich die Menschen von ihren Sitzen, der ganze Saal tobt in einer Art Massenhysterie.

Während der Minister die Menge im Saal aufwiegelt und sie für weitere Kriegshandlungen begeistert, hat Sophie Scholl ihr erstes Verhör durch den Kriminalobersekretär Robert Mohr hinter sich gebracht. Ruhig und gefasst hat die Einundzwanzigjährige Angaben zur Person und zur Familie, zum Lebensunterhalt und zum Studium sowie zu ihrem Freundes- und Bekanntenkreis gemacht. Sie hat ihre Festnahme durch den Hausschlosser Jakob Schmied geschildert, der ihren Bruder und sie mit dem Ruf »Ich verhafte Sie« in die Amtsräume des Syndikus brachte, wo sie unter Bewachung auf die Gestapo warteten.

Mit dem Auslegen von Flugblättern der Weißen Rose in der Ludwig-Maximilians-Universität, die zum Widerstand gegen die Diktatur Hitlers aufrufen, habe sie allerdings »nicht das Geringste« zu tun. Sie habe bei dem Gang durch das Gebäude Flugblätter »auf dem Boden ausgestreut« liegen sehen und »eines der Blätter aufgehoben, flüchtig gelesen« und in die Manteltasche gesteckt. Als sie im zweiten Stock einen Stapel der Flugblätter »auf dem Geländer aufgeschichtet liegen sah«, habe sie ihm im Vorbeigehen »mit der Hand einen Stoß gegeben, sodass diese in den Lichthof hinunter flatterten.« Das sei eine »Dummheit« gewesen, die sie »bereue, aber nicht mehr ändern« könne.

Für Sophie Scholl ist die Situation im Wittelsbacher Palais neu. Als Sechzehnjährige ist sie zwar in Ulm mit ihren Geschwistern schon einmal wegen ›bündischer Umtriebe‹ von der Gestapo verhaftet, aber umgehend wieder freigelassen worden. Man hatte sie, wegen ihres kurzen Haarschnitts, irrtümlich für einen Jungen gehalten. Einem Verhör hat Sophie sich jedoch noch nicht stellen müssen. Mit ihrem Bruder Hans hat sie sich nur ganz kurz absprechen können, solange sie auf die zwei Beamten warteten, die sie dann getrennt voneinander verhören. Die Beteiligung an der Herstellung und Verteilung der Flugblätter zu leugnen, wird zu ihren Absprachen gehört haben, ebenso, die Mitstreiter der Weißen Rose zu schützen und zu entlasten.

Und doch wird sich Sophie bei diesem Leugnen unwohl gefühlt haben, sonst hätte sie sich nicht schon bei der ersten Vernehmung dazu hinreißen lassen, von ihrer »Abneigung gegen die Bewegung« zu sprechen, weil durch sie »die geistige Freiheit des Menschen in einer Weise eingeschränkt wird, die meinem inneren Wesen widerspricht«. Sich der Gefährlichkeit ihrer Äußerung nur halb bewusst, fügt sie hinzu: »Zusammenfassend möchte ich die Erklärung abgeben, dass ich für meine Person mit dem Nationalsozialismus nichts zu tun haben will.«

Nicht der Mut kommt Sophie Scholl während der Befragung durch Robert Mohr abhanden, sondern die Fähigkeit zur Lüge und zur Verstellung. Seit vielen Jahren, so bezeugen es Briefe und Tagebuchnotizen, hat sie sich zur Wahrhaftigkeit erzogen, die mit einer ständigen Selbstbefragung einherging. Ebenso hat sie den inneren Dialog mit Gott gesucht und, obwohl manchmal an ihrem Glauben zweifelnd, doch an ihm festgehalten. Die Aufzeichnung vom 12. Februar 1942 macht die Art ihrer Selbsterziehung deutlich und zeigt, dass solch ein Mensch kaum zur Lüge fähig ist, auch wenn sie lebensrettend sein sollte:

»O Herr, ich habe es sehr nötig, zu beten, zu bitten. Ja, das sollte man immer bedenken, wenn man es mit anderen Menschen zu tun hat, dass Gott ihretwegen Mensch geworden ist. Und man fühlt sich selbst zu gut, zu manchen von ihnen herabzusteigen! O ein Hochmut! Woher habe ich ihn nur?«

Während nach Goebbels’ Auftritt über die Lautsprecheranlage des Sportpalastes ein zwanzigminütiger Applaus von einer Schallplatte abgespielt wird, der den Millionen Radiohörern zu Hause und »dem Ausland« eine großartige Stimmung und den absoluten Kriegswillen des ganzen deutschen Volkes suggerieren soll, bereitet sich Sophie, nach kurzer Unterbrechung, auf das zweite Verhör an diesem Donnerstag vor. Um 19 Uhr sitzt sie wieder dem erfahrenen Kriminalbeamten gegenüber, der sie mit dem ältesten Trick der Kriminalistik unter Druck setzt: ihr Bruder Hans Scholl habe bereits alles gestanden. Jetzt ist Sophie bereit, vielleicht fast befreit, und will nun »auch nicht länger an mich halten, all das, was ich von dieser Sache weiß, zum Protokoll zu geben«.

Sie beginnt die Aussage wahrheitsgemäß: »Es war unsere Überzeugung, dass der Krieg für Deutschland verloren ist, und dass jedes Menschenleben, das für diesen verlorenen Krieg geopfert wird, umsonst ist. Besonders die Opfer, die Stalingrad forderte, bewogen uns, etwas gegen dieses, unserer Ansicht nach, sinnlose Blutvergießen zu unternehmen.«

Die Zerschlagung der 6. Armee in Stalingrad am 2. Februar 1943 liegt bei diesem Verhör erst sechzehn Tage zurück. Die erste große Niederlage der Wehrmacht beschäftigt das ganze Land. Die hohen Verlustzahlen sind alarmierend: die Schlacht hat fünfhunderttausend Russen und hundertfünfzigtausend Deutsche das Leben gekostet und noch einmal so viele Deutsche in die Kriegsgefangenschaft gezwungen.

Goebbels verfolgt im Berliner Sportpalast auch persönliche Ziele: Er will seinen Machtbereich erweitern und zum zweiten Mann im NS-Staat aufsteigen. Seine Rede, die die Voraussetzungen für eine Weiterführung des Krieges bis zum bitteren Ende schaffen soll, hat zudem den Zweck, auf Hitler Druck auszuüben. Indem er die Besucher des Sportpalastes auf den ›Totalen Krieg‹ einzuschwören vorgibt, glaubt er, Hitler zwingen zu können, ihn an der Kriegswirtschaftsplanung des Deutschen Reichs zu beteiligen. Deshalb darf Goebbels nichts dem Zufall überlassen, seine Rede muss bis ins Letzte ausgefeilt sein, das Publikum darf nur aus treuesten Parteianhängern bestehen, Sprechchöre müssen einstudierte Parolen von sich geben, eine Hundertschaft muss instruiert sein, im Verlauf der Rede an bestimmten Stellen zu applaudieren, und wie auf ein unsichtbares Kommando hin müssen sich Fahnen und Standarten schwingende Männer erheben. In Goebbels’ großer Inszenierung ist die Kommunikation zwischen ihm als Redner und dem Publikum als Chor aufeinander abgestimmt wie auf einer Theaterbühne. Bei diesem Spektakel gibt es keine spontanen, individuellen und freien Äußerungen.

Die fanatischen Nazis, die in den Rängen sitzen, müssen weder propagandistisch eingeschworen noch über die Ziele des Führers aufgeklärt werden. Es sind gerade die, die in der Diktatur ihre Individualität, ja ihre Identität verloren haben, um als Massenmenschen zu funktionieren. Sie kommen zu der Veranstaltung mit eben den Überzeugungen, die Goebbels jetzt von sich gibt. Sie sind schon längst ›Eingeschworene‹. Das schmälert die Vorstellung von einer großen propagandistischen Leistung des Ministers, der durch überragende rhetorische Fähigkeiten ein kriegsmüdes Volk zu einem kriegsbegeisterten gemacht hätte – Goebbels hat nur einen ganz kleinen Teil der Bevölkerung geschickt in eine Inszenierung eingebunden. Und dieser Teil ist auf das Spiel eingegangen, im Glauben daran, dass der totale Krieg der kürzeste werde.

Den Geschwistern Scholl und ihren Mitstreitern geht es nicht um persönliche Vorteile, sondern um die Zukunft Deutschlands. Beide sind sich bewusst, dass ihr Handeln die schrecklichsten Folgen für sie selbst und ihre Familie haben kann. Aber das Gewissen lässt ihnen keine andere Wahl. Die kleine studentische Gruppe in München muss den Versuch wagen, die Bevölkerung durch Aufklärung zur Umkehr zu bewegen. Die sechs Flugblätter, die sie insgesamt verfasst und vom Sommer 1942 bis zum Februar 1943 an bestimmten Orten verteilt und mit der Post verschickt hat, sollen die Menschen dazu bringen, gegen das verbrecherische Naziregime passiven Widerstand zu leisten. Zwar sind die Mitglieder der Weißen Rose über die Verluste an der Front nicht so genau informiert wie der Minister, aber das, was die Medizinstudenten Hans Scholl, Christoph Probst, Alexander Schmorell und Willi Graf bei ihren Einsätzen als Sanitätsdienst-Unteroffiziere an der Ostfront gesehen haben, hat sie in tiefer Weise getroffen und desillusioniert.

Auch Sophie Scholl, wache Beobachterin deutschen Alltags, nimmt die sich ständig ausweitende Deformierung der Gesellschaft im Überwachungsstaat sehr genau wahr. An ihren Freund Fritz Hartnagel schreibt sie am 7. November 1942: »Wann endlich wird die Zeit kommen, wo man nicht seine Kraft und all seine Aufmerksamkeit immer nur angespannt halten muss für Dinge, die es nicht wert sind, dass man den kleinen Finger ihretwegen krümmt. Jedes Wort wird, bevor es ausgesprochen wird, von allen Seiten betrachtet, ob kein Schimmer der Zweideutigkeit an ihm haftet. Das Vertrauen zu den anderen Menschen muss dem Misstrauen und der Vorsicht weichen. O es ist ermüdend und manchmal entmutigend.«

Aber Sophie Scholl lässt sich nicht so schnell niederdrücken. Sie schreibt: »Doch nein, ich will mir meinen Mut durch nichts nehmen lassen, diese Nichtigkeiten werden doch nicht Herr über mich werden können, wo ich ganz andere unantastbare Freuden besitze.«

Schon zu Anfang des Krieges, bald nach dem Überfall auf Polen, verrät sie Hartnagel: »Der Hoffnung, dass der Krieg bald beendet sein könnte, geben wir [Familie Scholl] uns nicht hin. Obwohl man hier der kindlichen Meinung ist, Deutschland würde England durch Blockade zum Ende zwingen.« Hellsichtig schließt sie an: »Wir werden ja alles noch sehen«.

Jetzt, nach der Niederlage von Stalingrad, nimmt die Widerstandsgruppe an, seien die Deutschen bereit, der Wahrheit über die Tyrannei des nationalsozialistischen Regimes Glauben zu schenken. Und in dieser Hoffnung verfasst die Gruppe die Flugblätter ›Fünf‹ und ›Sechs‹ und vervielfältigt sie in höheren Auflagen. Der »Kampf um Gedankenfreiheit, freie Meinungsäußerung, Freiheit in der Lebensgestaltung, Toleranz und Wahrung der Menschenrechte« bildet die Grundlage des Widerstands gegen das NS-Regime, so Eugen Grimmiger, der die Gruppe finanziell unterstützte.

Hauptanliegen des ersten Flugblatts ist, den Leser daran zu erinnern, dass der Staat dem Menschen dienen muss – und nicht umgekehrt. Des zweiten: den Leser aufzufordern, sich von den Nazis zu distanzieren und ihr verbrecherisches Handeln nicht mitzutragen. Des dritten: passiven Widerstand zu leisten, um das Regime zu Fall zu bringen. Des vierten: als Voraussetzung einer inneren Befreiung ein Bewusstsein für Schuld zu entwickeln. Des fünften: für eine Zusammenarbeit mit den anderen europäischen Ländern nach dem Krieg zu werben. Hier wird zum ersten Mal von Angehörigen der bevorzugten Generation der Nationalsozialisten der europäische Gedanke angesprochen. Sie fordern die Loslösung vom Nationalgefühl: »Nur in großzügiger Zusammenarbeit der europäischen Völker kann der Boden geschaffen werden, auf welchem ein neuer Aufbau möglich sein wird«. Im letzten Flugblatt werden besonders die deutschen Studenten angesprochen und in die Pflicht genommen, dass sie sich für die höchsten Werte der Nation, nämlich Freiheit und Ehre, einsetzen.

Im Flugblatt II und im vorletzten Aufruf an alle Deutsche! stellen sich die Verfasser eindeutig auf die Seite der verfolgten Juden. So heißt es im zweiten Flugblatt, man wolle die Tatsache anführen, »dass seit der Eroberung Polens dreihunderttausend Juden in diesem Land auf bestialische Weise ermordet worden sind. Hier sehen wir das fürchterlichste Verbrechen an der Würde des Menschen, ein Verbrechen, dem sich kein ähnliches in der ganzen Menschengeschichte an die Seite stellen kann.« Im vorletzten Aufruf an alle Deutsche! wird die Bevölkerung regelrecht gewarnt: »Deutsche! Wollt Ihr und Eure Kinder dasselbe Schicksal erleiden, das den Juden widerfahren ist?« Die Studenten gehen also davon aus, dass die Deutschen Kenntnis von den Verbrechen an den Juden haben.

Das Verfassen und Verbreiten von Flugblättern als einziges Mittel, eine Diktatur zu stürzen, ist einmalig. Den jungen Menschen steht nur das Wort als Waffe zur Verfügung, Gewaltanwendung und andere Aktionen lehnen sie ab. Ihre Worte aber müssen in den Ohren der Nationalsozialisten wie Donnerschläge geklungen haben. Denn sie nehmen sich heraus, Hitler einen »Lügner«, einen »Dilettanten« zu nennen, seine Minister als »Verbrecher« zu bezeichnen, die Regierungsform als eine »verabscheuungswürdige Tyrannis« zu kritisieren. Parteibonzen sind für die Verfasser nichts weiter als »Mordbuben«, die zur »blinden, stupiden Führergefolgschaft« aufrufen. »Darum trennt Euch von dem nationalsozialistischen Untermenschtum!« Auf den Fassaden der Münchner Universität und anderen Häusern sind die Inschriften zu lesen: »Nieder mit Hitler«, »Hitler der Massenmörder« und »Freiheit«.

Zu ihrer Art des Widerstands gibt Sophie Scholl im zweiten Verhör zu Protokoll: »Ich war mir ohne Weiteres im Klaren darüber, dass unser Vorgehen darauf abgestellt war, die heutige Staatsform zu beseitigen und dieses Ziel durch geeignete Propaganda in breiten Schichten der Bevölkerung zu erreichen«.

Auch sie spricht wie Goebbels von ›Propaganda‹, vielleicht gedankenlos, denn nicht in einem der sechs Flugblätter der Weißen Rose ist eine bewusste Verdrehung von Tatsachen vorgenommen worden, eine Übertreibung oder Unwahrhaftigkeit zu finden. Es gibt keine Formulierung, die mit unredlichen Mitteln Gefühle beim Leser hervorruft. »Mein Bruder und ich haben vollkommen aus ideellen Gründen gehandelt«, gibt Sophie weiter zu Protokoll.

Goebbels hingegen täuscht seinen Zuhörern Gefühle vor, die er nicht hat. Er erinnert sein Publikum an die Veranstaltung vom 30. Januar zum »Zehnjahrestag der Machtergreifung«, die mit dem Höhepunkt der Krise an der Ostfront zusammenfiel. Goebbels, der Umjubelte, von Leibwächtern Beschützte, tut so, als berühre ihn das Schicksal der »letzten heldenhaften Kämpfer von Stalingrad«, die »in dieser Stunde durch die Ätherwellen mit uns verbunden« waren und »an unserer erhebenden Sportpalastkundgebung teilgenommen haben. Sie funkten«, dass sie »vielleicht zum letzten Male in ihrem Leben mit uns zusammen mit erhobenen Händen die Nationalhymne gesungen hätten«. Der Minister für Volksaufklärung schreckt nicht davor zurück, die zum Sterben verurteilten Soldaten für seine persönlichen Zwecke zu benutzen – eine sehr moderne, kalte Art des Umgangs, der ohne die neuen Kommunikationsmittel nicht zu denken ist. Goebbels ist ein Meister darin, Medien wie Film und Rundfunk für sich zu nutzen; der studierte Germanist liebt es, vor großem Publikum Reden zu halten, Aufsätze und Artikel zu schreiben, die in hohen Auflagen gedruckt werden. Er will möglichst alle Deutschen mit seiner Propaganda erreichen.


Im weiteren Verlauf seiner Rede lobt er die Haltung des »deutschen Soldatentums«, spricht von einer »großen Zeit«, aus der die Verpflichtung erwachse, weiter zu kämpfen. Er mahnt: »Stalingrad war und ist der große Alarmruf des Schicksals an die deutsche Nation«. Er versichert: »Ein Volk, das die Stärke besitzt, ein solches Unglück zu ertragen und auch zu überwinden, ja, daraus noch zusätzliche Kraft zu schöpfen, ist unbesiegbar.«

Ganz besonders gefällt sich Goebbels in der Rolle des Redners, dem »viele Millionen Menschen« heute Abend »an der Front und in der Heimat« zuhören. »Ich möchte zu Ihnen allen aus tiefstem Herzen zum tiefsten Herzen sprechen. Ich glaube, das ganze deutsche Volk ist mit heißer Leidenschaft bei der Sache, die ich Ihnen heute Abend vorzutragen habe. Ich will deshalb meine Ausführungen auch mit dem ganzen heiligen Ernst und dem offenen Freimut, den die Stunde von uns erfordert, ausstatten. Das im Nationalsozialismus erzogene, geschulte und disziplinierte deutsche Volk kann die volle Wahrheit vertragen.«

»Das große Heldenopfer« in Stalingrad »war nicht umsonst«, prahlt Goebbels: »Warum, das wird die Zukunft beweisen!« Zum Ende seiner Rede tut er so, als könne er für die ganze Nation sprechen: »Die Nation ist zu allem bereit. Der Führer hat befohlen, wir werden ihm folgen. Wenn wir je treu und unverbrüchlich an den Sieg geglaubt haben, dann in dieser Stunde der nationalen Besinnung und der inneren Aufrichtung. Wir sehen ihn greifbar nahe vor uns liegen; wir müssen nur zufassen. Wir müssen nur die Entschlusskraft aufbringen, alles andere seinem Dienst unterzuordnen. Das ist das Gebot der Stunde. Und darum lautet die Parole: Nun Volk steh’ auf und Sturm brich los!«

Beglückt notiert Goebbels am 5. März 1943: »Meine Maßnahmen bezüglich des totalen Krieges werden vom Führer vollauf gebilligt. Er lässt sich in diesem Zusammenhang auf das Schmeichelhafteste für mich über meine Sportpalast-Rede aus, die er als ein psychologisches und propagandistisches Meisterwerk bezeichnet. Er habe sie von Anfang bis zu Ende aufmerksam durchstudiert, auch das Auslandsecho gelesen, und sei zu dem Ergebnis gekommen, dass wir hiermit einen Hauptschlager gelandet hätten. Er ist von der Wirkung geradezu begeistert.«

Dass sein Meisterwerk einer perfekten Inszenierung ein Blendwerk ist, stürzt einen Mann wie Goebbels keineswegs in Gewissensnöte. Zu seiner Zweideutigkeit gehört, dass er für die, die ihm glauben und zujubeln, nur Verachtung übrig hat. Er selbst und Hitlers Kabinett sind schon am 4. Februar 1943 vom Sicherheitsdienst der SS darüber informiert worden, dass die Allgemeinheit der Überzeugung sei, »dass Stalingrad einen Wendepunkt des Krieges bedeute und die labileren Volksgenossen sind geneigt, im Fall von Stalingrad den Anfang vom Ende zu sehen«. Sogar unter überzeugten Nazis kommen Zweifel an einem ›Endsieg‹ auf.

Für Goebbels, der zwei Jahre später seine sechs Kinder umbringen lässt und sich anschließend mit seiner Frau zusammen das Leben nimmt, hat jetzt seine politische Karriere einen höheren Wert als das unendliche Leid von Millionen deutschen Soldaten und Zivilisten. Seine Sportpalast-Rede verschafft ihm zwar nicht die gewünschte Machtstellung, auch seine Forderung nach einer vollständigen Ausrichtung der Wirtschaft, der gesamten Gesellschaft und der Politik auf den Krieg kann nur teilweise umgesetzt werden. Zwar erreicht die Zahl der Menschen, die in der Rüstungsindustrie beschäftigt sind, durch Goebbels’ Drängen im Oktober 1944 mit über 6,2 Millionen einen Höchststand, aber der Krieg ist dennoch nicht mehr zu gewinnen. Die bedingungslose Kapitulation der deutschen Wehrmacht erfolgt am 8. Mai 1945 um 23 Uhr.

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