Читать книгу: «Unterrichtsentwicklung begleiten - Bildungsreform konkret (E-Book)»

Шрифт:


Thomas Balmer, Silvia Gfeller, Ueli Hirt

Unterrichtsentwicklung begleiten – Bildungsreform konkret

ISBN Print: 978-3-0355-1518-3

ISBN E-Book: 978-3-0355-1519-0

1. Auflage 2020

Alle Rechte vorbehalten

© 2020 hep Verlag AG, Bern

hep-verlag.com

Inhaltsverzeichnis

  Einleitung

  Unterrichtsentwicklung: Lernen von Lehrpersonen im Kontext von Reformen mit wirksamer Weiterbildung unterstützen 1 Einleitung 2 Schulentwicklung und Unterrichtsentwicklung: Ein Rückblick und eine begriffliche Einordnung 3 Unterrichtsentwicklung: Lernprozesse von Lehrpersonen 4 Lernen angesichts einer Reform 5 Gestaltung von Lerngelegenheiten 6 Dozierendenkompetenz 7 Didaktische Folgerungen für die Unterrichtsentwicklung unterstützende Lehrerinnen- und Lehrerweiterbildung 8 Literaturverzeichnis

 Geschichte der Bildungsreformen im Hinblick auf die Entwicklung eines spezifischen Angebotsformats zur Umsetzung des Lehrplans1 Ausgangslage im Kanton Bern2 Gesamtrevision der Bildungsgesetzgebung Ende des 20. Jahrhunderts3 Eine neue Schülerbeurteilung4 Die Einführung der Struktur 6/3 an den Berner Schulen5 Lehrplan 956 Korrekturen der Beurteilungsreform: Schübe 047 Integration an Berner Schulen8 Der Bildungsartikel in der Bundesverfassung und das Projekt HarmoS9 Der neue Fremdsprachenunterricht – das Projekt Passepartout10 Der Lehrplan 21 als Impuls, Unterricht neu zu denken?11 Fazit12 Literaturverzeichnis

  Das fachdidaktische Begleitangebot – Unterrichtsentwicklung zur Umsetzung der Kompetenzorientierung und des Lehrplans 21 1 Sechs Kernideen zur Unterrichtsentwicklung 2 Rolle und Aufgaben der Beteiligten 3 Die Struktur der fachdidaktischen Begleitangebote 4 Literaturverzeichnis

  Mathematikunterricht gestalten und weiterentwickeln 1 Ausrichtung und Zielpunkt der Unterrichtsentwicklung im Fachbereich Mathematik: Vier Merkmale kompetenzorientierten Mathematikunterrichts 2 Unterrichtsentwicklung in Mathematik konkret: Der Einblick in das fachdidaktische Begleitangebot Zyklus 2 (3.–6. Schuljahr) 3 Übergeordnete Aspekte zur Entwicklung des Mathematikunterrichts im Rahmen eines fachdidaktischen Begleitangebots 4 Literaturverzeichnis

 Bewegungs- und Sportunterricht weiterentwickeln1 Fachdiskussionen anregen – Unterricht reflektieren2 Rahmenbedingungen und weiterbildungsdidaktische Überlegungen3 Einblicke in fachdidaktische Begleitangebote Bewegung und Sport 1. und 3. Zyklus – Reflexion der eigenen Praxis4 Zusammenfassung und Ausblick5 Literaturverzeichnis

 Unterrichtsentwicklung im Zyklus 1 mit Fokus auf den Fachbereich «Natur, Mensch, Gesellschaft»1 Einleitung2 Voraussetzungen3 Ausrichtung der Unterrichtsentwicklung im Fachbereich «Natur, Mensch, Gesellschaft»4 Aufbau und Durchführung des Angebots5 Moderation im fachdidaktischen Begleitangebot NMG: Interpretationen und Reaktionsmöglichkeiten in anspruchsvollen Situationen6 Erwartungen, Erfahrungen und Anpassungen7 Offene Fragen der teilnehmenden Lehrpersonen, Weiterbildungsbedarf6 Literaturverzeichnis

  Deutschunterricht weiterentwickeln 1 Grundsätzliche Ausrichtung und Zielsetzungen 2 Aufbau und Struktur des fachdidaktischen Begleitangebots 3 Entwicklungsschwerpunkte 4 Beobachtungen 5 Fazit 6 Literaturverzeichnis

  Bilanz 1 Gespräch mit Dozierenden 2 Erfahrungen und Einschätzungen 3 Evaluation der fachdidaktischen Begleitangebote 4 Fazit 5 Literaturverzeichnis Die Autorinnen und Autoren Dank

Einleitung

Lehrpersonen unterrichten je auf ihre eigene Art. Routinen haben sich über die Jahre der Berufserfahrung aufgebaut. Eigene Überzeugungen und Vorstellungen zur Gestaltung des Unterrichts haben sich stabilisiert. Aus ihrer Sicht praktizieren sie guten Unterricht im Wissen darum, «Best Practice» nur in seltenen Fällen zu erreichen. Angesichts der grossen Herausforderungen im Unterricht ist die Bereitschaft vieler Lehrpersonen hoch, den eigenen Unterricht weiterzuentwickeln. Lehrpersonen praktizieren Unterrichtsentwicklung häufig jedoch mehr oder weniger allein, mehr oder weniger zufällig.

Sich mit einem neuen Lehrplan auseinanderzusetzen, die Kompetenzorientierung ins eigene Unterrichtshandeln aufzunehmen, steht nicht unbedingt auf der Prioritätenliste von Lehrpersonen. Dennoch setzen sie sich mit Neuem auseinander. Das erfordert Zeit, ist anstrengend, bricht in jedem Fall Routinen auf, wenn auch nicht immer im Unterricht, so doch in den Diskussionen in und um die Schule. Ein systematisches Vorgehen ist erforderlich, welches bestehende Vorstellungen und das vielfältige Unterrichtshandeln von Lehrpersonen einbezieht. An dieses schliesst Neues an.

Diese Überzeugungen liegen der Einführung des Lehrplans 21 im Kanton Bern und der damit verbundenen Umsetzung der Kompetenzorientierung zugrunde. Aus einer Bildungsreform entsteht Unterrichtsentwicklung: in der Schule organisiert, im Fachbezug, als Kern von Schulentwicklung und aufnehmend, was Lehrpersonen eh tun, nämlich unterrichten.

In diesem Buch werden Erfahrungen dargelegt mit systematisch angelegter fachspezifischer Unterrichtsentwicklung zur Umsetzung einer Bildungsreform, die letztlich und optimal genutzt die Unterrichtsqualität verbessert. Die Bildungsreform umfasst die Einführung des Lehrplans 21 für die Volksschule im Kanton Bern. Der Lehrplan 21 wurde im Rahmen eines interkantonalen Projekts der 21 deutschsprachigen Kantone der Schweiz unter der Leitung der Deutschschweizer Erziehungsdirektorenkonferenz, der interkantonalen Ebene im föderalen Bildungssystem der Schweiz, entwickelt. Er ist im Wesentlichen durch folgende Merkmale gekennzeichnet:

 Er beschreibt das Lern- und Unterrichtsverständnis eines kompetenzorientierten Unterrichts.

 Die Unterrichtsziele werden als Kompetenzen auf der Basis fachspezifischer Kompetenzmodelle beschrieben, die fachliche Inhalte und Handlungsaspekte zueinander in Beziehung setzen.

 An den meisten Kompetenzen soll während der ganzen Schulzeit von elf Jahren gearbeitet werden.

 Jede Kompetenz wird durch die Beschreibung von Kompetenzstufen konkretisiert, die als Hinweise für Zwischenschritte dienen, was die Schülerinnen und Schüler wissen und können sollen, um am Ende des Lernprozesses über die entsprechende Kompetenz zu verfügen; sie signalisieren, dass der Lernprozess kumulativ gedacht ist.

Die Einführung des Lehrplans 21 erfolgte im Sinne des Föderalismus in der Hoheit und in der Verantwortung der Kantone. Der Kanton Bern hat sich unter Einbezug verschiedener Akteure entschieden, die Einführung des Lehrplans 21 als mehrjährigen Schul- und Unterrichtsentwicklungsprozess anzulegen. Die Erziehungsdirektion des Kantons Bern erteilte dem Institut für Weiterbildung und Medienbildung (IWM) der Pädagogischen Hochschule Bern (PHBern) den Auftrag, dazu ein Weiterbildungsangebot zu konzipieren und durchzuführen. Im Zentrum steht das Format «Fachdidaktisches Begleitangebot», das dem Anspruch einer systematischen Unterrichtsentwicklung entspricht.

Seine Entstehung und die daraus gewonnenen Erfahrungen werden in diesem Buch vorgestellt. Sie basieren auf der ersten Phase der Einführung des Lehrplans 21 im Kanton Bern. Zur Entwicklung der fachdidaktischen Begleitangebote wurden folgende Bezugspunkte aufgenommen: Theorien zu Schul- und Unterrichtsentwicklung sowie Reformeinführungen, Ergebnisse der Professions- und Weiterbildungsforschung und der fachdidaktischen Unterrichtsforschung sowie historische Erfahrungen bei bisherigen Lehrplaneinführungen und Bildungsreformen im Kanton Bern.

Der erste Beitrag beschreibt historisch und theoretisch-empirisch die Grundlagen zur Entwicklung des Weiterbildungsangebots. Zentral ist die These, dass es einer Inszenierung individuellen und kollektiven Weiterlernens im Beruf bedarf, damit die Lehrpersonen als die zentralen Akteure einer Reformumsetzung ihren Unterricht vermehrt kompetenzorientiert gestalten. Das Unterstützungsangebot fokussiert auf den Unterricht und begleitet dessen Weiterentwicklung mittels fachdidaktischer Expertise und Strukturierungsmassnahmen.

Der zweite Beitrag zeigt die Geschichte der Bildungsreformen und Lehrplaneinführungen im Kanton Bern über die letzten 30 Jahre. Die Entwicklung eines spezifischen Angebotsformats zur Einführung des Lehrplans 21 zeigt sich aus historischer Perspektive als Entwicklung vom «Fortbildungskurs» zu einem ausgebauten Unterstützungssystem für Bildungsreformen.

Die Beschreibung dieses spezifischen Formats, des fachdidaktischen Begleitangebots, bildet den Kern des dritten Beitrags. Es wird sichtbar, in welcher Art und Weise fachspezifische systematische Unterrichtsentwicklung angelegt ist, in deren Rahmen Lehrpersonen ihre Unterrichtspraxis hin zur Kompetenzorientierung mit externer Unterstützung weiterentwickeln. Beschrieben werden auch die Rollen und Aufgaben aller Beteiligten, jene der Lehrpersonen, der Dozierenden als extern Unterstützende sowie der Fachbereichsverantwortlichen vor Ort wie auch der Schulleitung. Dieser Beitrag wird eingeleitet mit sechs Kernideen zur Unterrichtsentwicklung.

Die vier fachspezifischen Beiträge geben Einblicke in die Durchführung des fachdidaktischen Begleitangebots in den Fachbereichen Mathematik, Deutsch, Natur – Mensch – Gesellschaft sowie Bewegung und Sport. Aufträge und didaktische Impulse, aber auch Umsetzungsbeispiele, Austauschsequenzen und Erkenntnisse wie auch Beobachtungen und Erfahrungen werden beispielhaft dargestellt. Somit wird die Weiterentwicklung des Unterrichts von Lehrpersonen und eine Praxis fachspezifischer systematischer Unterrichtsentwicklung konkret sichtbar.

Der abschliessende Bilanzbeitrag enthält ein Gespräch mit drei Dozierenden, die an der Planung und Durchführung fachdidaktischer Begleitangebote beteiligt waren und verschiedene Aspekte einer fachspezifischen systematischen Unterrichtsentwicklung reflektieren. Erfahrungen und Einschätzungen zum Handeln der verschiedenen Akteure – Lehrpersonen, Fachbereichsverantwortliche und Schulleitungen – zeigen Stärken und Schwächen einer so gewählten Einführung des Lehrplans 21 beziehungsweise einer Bildungsreform. Auch zeigt sich unter dem Gesichtspunkt «Verbindlichkeit» die Bedeutsamkeit klarer Ansagen im Hinblick auf Unterrichtsentwicklung. Der Nutzen des Formats «fachdidaktisches Begleitangebot» wird schliesslich auch basierend auf einer datengestützten Evaluation eingeschätzt.

Beitrag 1

Unterrichtsentwicklung: Lernen von Lehrpersonen im Kontext von Reformen mit wirksamer Weiterbildung unterstützen

Thomas Balmer

Von der Einführung eines neuen Lehrplans wird erwartet, dass Schulen und Lehrpersonen seine Vorgaben übernehmen und ihre Praxis darauf ausrichten. Dieser Beitrag beschreibt Grundlagen, auf die das Institut für Weiterbildung und Medienbildung der PHBern für die Entwicklung des Angebots zur Einführung des Lehrplans 21 im Kanton Bern Bezug genommen hat. Zentral ist die Erwartung an das Angebot, dass es Lernprozesse bei den Lehrpersonen auslöst, ihren Unterricht vermehrt kompetenzorientiert zu gestalten. Unterrichtsentwicklung als Kern der Schulentwicklung wird als eine Inszenierung individuellen und kollektiven Weiterlernens im Beruf verstanden. Dieser Prozess unterliegt gerade im Kontext einer Innovation, als die ein neuer Lehrplan verstanden werden kann, besonderen Voraussetzungen. Die professionelle Kompetenz der Lehrpersonen, ihre aktuellen Unterrichtskonzeptionen und die Emotionen gegenüber der wahrgenommenen Reformnachricht sind wichtige Aspekte, an die die Unterrichtsentwicklung anzuschliessen hat. Der Lernprozess wird durch eine externe, strukturierende Begleitung unterstützt, die eine doppelte Kompetenz auf der Ebene des Unterrichts und der Weiterbildung verlangt. Zentrale strukturierende Massnahmen sind dabei einerseits ein reflexiver Zyklus, andererseits ein iterativer induktiv-deduktiver Verlauf des Weiterbildungsangebots.

1 Einleitung

Vorstellungen darüber, wie Lehrpläne oder Bildungsreformen allgemein Wirkung entfalten, wie sich Schule und Unterricht weiterentwickeln sollen und welche Rollen die Weiterbildung, die Schule und die Lehrpersonen dabei spielen, sind auch ein Produkt historischer Entwicklungen. In diesem Beitrag geht es um die historische und die theoretisch-empirische Rahmung der im Kanton Bern am Institut für Weiterbildung und Medienbildung der Pädagogischen Hochschule Bern (IWM) zur Lehrplaneinführung entwickelten Weiterbildungskonzeption und der darin steckenden Begriffe und Konzepte.

Ein neuer Lehrplan weckt immer auch die Erwartung, dass sich die Schule weiterentwickelt. Wie sich die Vorstellungen darüber historisch verändert haben, wird im ersten Kapitel skizziert. Eine zentrale Veränderung betrifft den Fokus auf die Unterrichtsentwicklung, die letztlich Lernen von Lehrpersonen bedeutet. Das wird im zweiten und dritten Kapitel dargelegt. Im vierten Kapitel wird argumentiert, dass eine Reform als eine von aussen an die Schule herangetragene Aufgabe, wie die Einführung eines neuen Lehrplans, für die Unterrichtsentwicklung beziehungsweise das Lernen von Lehrpersonen ganz bestimmte Voraussetzungen schafft. Für die Gestaltung eines Weiterbildungsangebots1 gilt es daraus folgernd verschiedene Aspekte zu berücksichtigen, die in Kapitel 5 beschrieben sind. Ein wichtiger Aspekt ist dabei die in Kapitel 6 angesprochene Kompetenz der Dozierenden, die solche Weiterbildungsangebote inszenieren. Abschliessend werden weiterbildungsdidaktische Folgerungen gezogen, die dem Entwicklungsprozess der Einführungsangebote des IWM zugrunde lagen.

2 Schulentwicklung und Unterrichtsentwicklung: Ein Rückblick und eine begriffliche Einordnung

Neue Lehrpläne – ihre Funktionen

Lehrpläne werden immer wieder erneuert. Damit reagieren Schulsysteme auf neue Erwartungen an die öffentliche Schule, weil die Zukunftstauglichkeit der schulischen Bildung optimiert werden soll (Vollstädt, 2003). Zum einen legitimiert ein Lehrplan bildungspolitisch und staatsrechtlich die öffentliche Bildung in der Schule. Ein neuer Lehrplan ist zuerst einmal eine neue rechtliche Grundlage für das, was im Unterricht durch die Lehrpersonen gelehrt beziehungsweise von den Schülerinnen und Schülern gelernt werden soll. Lehrpläne stellen ein staatsrechtliches Instrument dar, das letztlich den Unterricht steuern soll, selbstverständlich verbunden mit der Annahme, dass durch seine Umsetzung die schulische Praxis besser wird (Hopmann, 2013; siehe auch Beitrag 2). Den an der Schule Beteiligten dient der Lehrplan zum anderen als Orientierungs- oder Steuerungsinstrument, indem er Bildungsziele benennt, schul- und unterrichtsorganisatorische Parameter setzt (z.B. die Verteilung der Unterrichtszeit auf die Fächer), aber auch ein Bildungs- und Lern- und Unterrichtsverständnis transportiert. Zudem orientiert sich auch die Produktion neuer Lehrmittel daran (Adamina, 2014).

Empirisch zeigt sich, dass Lehrpläne eher indirekte Wirkung auf die Unterrichtspraxis haben, insbesondere durch Lehrmittel (Vollstädt, 2003), weil diese für die zentralen Akteure der Umsetzung in die Unterrichtspraxis, die Lehrpersonen, bedeutsamer sind (vgl. dazu auch Bähr & Künzli, 1999).

Verändern der Unterrichtspraxis der Lehrpersonen durch Unterrichtsentwicklung

Immer schon wird mit neuen Lehrplänen mehr oder weniger explizit eine veränderte Unterrichtspraxis und damit auch ein verändertes Handeln der Lehrpersonen im Unterricht verbunden (Ladwig, 2010). In den letzten zwei Jahrzehnten des 20. Jahrhunderts wird im deutschsprachigen Raum dieser Lernprozess von Lehrpersonen, das eigene Handeln und damit den Unterricht zu verändern, zunehmend als «Unterrichtsentwicklung» bezeichnet. Der Begriff kommt im Anschluss an den Terminus «Schulentwicklung» auf, mit dem die Einzelschule als Ansatzpunkt für Veränderungen und Reformen in den Fokus gerückt wurde.

2.1 Schulforschung: Schule spielt keine Rolle – Schule spielt doch eine Rolle

Historisch und empirisch hat sich die Unterrichtsentwicklung als Mittel zur Veränderung herauskristallisiert. Um unser Verständnis von Unterrichtsentwicklung einzuordnen und zu klären, wird im Folgenden kurz skizziert, wie die Unterrichtsentwicklung historisch und empirisch zum zentralen Element der Schulentwicklung wurde, um die Schule und die Unterrichtspraxis zu verändern. Es hat wesentlich auch damit zu tun, dass sich die empirische Beforschung von Schule und Unterricht in dem, was sie genau und wie sie es untersucht, wandelt. Damit einher gehen andere Antworten auf die Frage, was eine gute Schule und guten Unterricht ausmacht.

Die gleichermassen einflussreiche wie kontrovers diskutierte Studie des US-amerikanischen Soziologen James S. Coleman in den 1960er-Jahren (Coleman et al., 1966) zu Fragen der Ungleichheit beziehungsweise Gleichheit von Bildungschancen kam zum Ergebnis, dass der Leistungsunterschied zu grossen Teilen auf den sozialen und familiären Hintergrund der Schülerinnen und Schüler zurückzuführen ist. Mit anderen Worten, Schulen haben im Verhältnis zu den Eltern wenig Einfluss auf die Leistungen der Schülerinnen und Schüler. Damit kam für eine Verbesserung der Situation auch nicht eine Veränderung von Schule und Unterricht in den Blick. Das Ergebnis basiert auf dem Einbezug von Schuleigenschaften wie zum Beispiel der Ausstattung der Schule, Ausgaben pro Schüler oder Gehälter, also inputseitige Faktoren auf der Ebene der Schule.

Untersuchungen zur Qualität von Schulen in den 1970er-Jahren – als Reaktion auf die Coleman-Studien – zeigten hingegen insbesondere grosse Unterschiede zwischen den Schulen auf, die auf Merkmale der einzelnen Schulen zurückgeführt wurden: Schule spielt also eine Rolle (z.B. Rutter, Maughan, Mortimore & Ouston, 1979; Mortimore, Sammons, Stoll, Lewis & Ecob, 1988). Dass die einzelne Schule als «pädagogische Handlungseinheit» hoch bedeutsam ist, fand breite Anerkennung (Fend, 1986). Forschungsmethodisch haben komplexere konzeptuelle Modelle, die Variablen auf den verschiedenen Ebenen des Schulsystems berücksichtigen, sowie die Weiterentwicklung statistischer Verfahren, insbesondere die Mehrebenenanalyse, dazu beigetragen (Teddlie & Stringfield, 2007; Scheerens, 2015).

Mit Begriffen wie «Schulethos» (Rutter et al., 1979), Schulkultur oder Schulklima (Fend, 1977, 1986; La Schoen & Teddlie, 2008) wurden sozioemotionale Merkmale einer Schule wie Werte, Normen und kollegiale Kooperation, die zur Schulqualität beitragen, beschrieben. Teddlie und Stringfield (2007) fassen aus verschiedenen Studien folgende neun Eigenschaften effektiver Schulen zusammen:

1 effektive Schulleitung («leadership»)

2 allgegenwärtiger Fokus auf das Lernen

3 positive Schulkultur

4 hohe und angemessene Erwartungen an alle

5 kontinuierliche Überwachung («monitoring») der Fortschritte auf allen Ebenen

6 effektiver Unterricht

7 produktiver und angemessener Einbezug der Eltern

8 Weiterentwicklung des Personals in der Schule

9 Betonen der Verantwortung und Rechte der Schülerinnen und Schüler

Solche Schuleffektivitätsstudien nahmen ihren Anfang in Grossbritannien und den USA und wurden dann auch im übrigen europäischen Raum übernommen (Creemers, 2007).

2.2 Schulentwicklung

Ermöglichung von Schulautonomie und Installierung der Schulleitung

Aus diesen Forschungsergebnissen liess sich die Notwendigkeit ableiten, dass erfolgreiche Schulreformen bei den einzelnen Schulen anzusetzen haben. Das Interesse fokussierte auf die Frage, warum sich Schulen in ihren Wirkungen unterscheiden. Mit der Ermittlung von verschiedenen Merkmalen von Schulen, die in Zusammenhang mit den Lernergebnissen der Schülerinnen und Schüler stehen, wird die Frage bedeutsamer, wie mithilfe der gewonnenen Forschungserkenntnisse die Schul- und Unterrichtspraxis verändert werden kann. Die Erkenntnisse der Schulforschung zu den Zusammenhängen von Schulmerkmalen und den Lernergebnissen soll zur Verbesserung von Schulen genutzt werden. «School-Improvement»-Projekte bezeichnen im europäischen Raum in der Regel ein Innovationsprogramm, das auf Veränderung und Problemlösung in der Schul- und Unterrichtspraxis zielt (Creemers, Stoll, Reezigt & the ESI Team, 2007) und in etwa dem deutschen Begriff der «Schulentwicklung» entspricht.

In die Überlegungen, wie Schulen reformiert, und damit, wie Programme der Schulentwicklung lanciert werden können, fliessen verschiedene Perspektiven und Theorien ein. In den Anfängen lag der Fokus in erster Linie auf Aspekten der Organisation und des Klimas.2 Dabei wurde insbesondere auf folgende Theorien und Praxen Bezug genommen:

 die Organisationstheorie und Praxen der Organisationsentwicklung (Dalin, 1986; Horster, 1991; Rolff, 1991; Landwehr, 1993),

 das Konzept der «lernenden Organisation» (Argyris & Schön, 1978; Schley, 1998),

 beim europäischen Effective School Improvement Project ESI zusätzlich Curriculumtheorien, sozialpsychologische Konzepte und Theorien des Human Ressource Managements (Creemers et al., 2007).

Es besteht die Erwartung, dass diese Theorien und Praxen für den komplexen Prozess der Schulentwicklung, wo Unterrichtsfragen, die Organisation der Schule und das Verhalten der Beteiligten zusammentreffen, unterstützende Konzepte bereitstellen (ebd.). Der Kern dieser Perspektiven liegt in der breiten Wahrnehmung der Tatsache, dass Schulen soziale Organisationen sind, in denen es dynamische Wechselwirkungen zwischen der Organisation, dem Verhalten ihrer Mitglieder und damit auch den Schulergebnissen gibt (Hopkins, Stringfield, Harris, Stoll & Mackay, 2014).

Dazu gesellen sich bildungspolitische transnationale Einflüsse zu Fragen der Steuerung der Schule mit der Idee der Outputsteuerung (Cedefop, 2009) und Entbürokratisierung, dies etwa durch verschiedene Varianten des «New Public Management» (NPM).3 Damit verbunden sind auch Bewegungen, die unter dem Begriff der Dezentralisierung zu fassen sind (OECD, 1989; Liket, 1993). Über neue Steuerungsmodelle der Verantwortungsteilung wird auch dem Staat eine neue Rolle zugewiesen. Dezentralisierung als die Übertragung neuer Zuständigkeiten auf lokale Ebenen wird dabei durch eine heterogene politische Rhetorik begründet. Gesprochen wird etwa von der Unterstützung lokaler Unterschiede, grösserer Partizipation, Demokratisierung und lokaler Schulautonomie. Damit verbunden wird die Erwartung an eine Entwicklung der Schulqualität und -effektivität (van Zanten, 2005). Als Ergebnis davon wurden in der Schweiz die Führungs- und Organisationsprozesse über die verschiedenen Ebenen des Bildungssystems – interkantonale, kantonale, Gemeinde- und Schulebene – neu konfiguriert (Huber, 2016; Criblez, 2008). Mit der deutlichen Annahme der revidierten Bildungsartikel in der Bundesverfassung durch das Stimmvolk 2006 bleiben zwar die Kantone für das Schulwesen zuständig, sie werden jedoch zu einer «Harmonisierung des Schulwesens im Bereich des Schuleintrittsalters und der Schulpflicht, der Dauer und Ziele der Bildungsstufen und von deren Übergängen sowie der Anerkennung von Abschlüssen» (Artikel 62, Absatz 4, Schweizerische Eidgenossenschaft, 1999) verpflichtet, was zu einer Stärkung der Bedeutsamkeit der interkantonalen Ebene beiträgt (siehe auch Beitrag 2, Kapitel 8). Das kann neben der Dezentralisierung als die schweizerische Form einer Parallelstrategie, der Zentralisierung, gesehen werden. An der zunehmenden Bedeutung von Bildungsstandards und zentralen Lernstandserhebungen zeigt sich das Interesse, zentral den Bildungserfolg über die Ergebnisse des Bildungssystems, seinen Output, zu kontrollieren (das sogenannte «Monitoring»; Berkemeyer & Bos, 2015). Die neuen Lehrpläne, der Lehrplan 21 benannt nach der Anzahl Deutschschweizer Kantone, der Plan d’études romand für die französischsprachigen Kantone, sind Produkte dieser bildungspolitischen Entwicklungen. Erstmals wurden damit im föderalistischen Bildungssystem der Schweiz auf interkantonaler Ebene durch die Deutschschweizer Erziehungsdirektorenkonferenz beziehungsweise die Conférence intercantonale de l’instruction publique de la Suisse romande et du Tessin sprachregionale und nicht kantonale Lehrpläne für die Volksschule verfasst, die sich zudem an den nationalen Bildungsstandards ausrichten. Sie nehmen damit die «Harmonisierung» der «Ziele der Bildungsstufen» auf, wie sie der Bildungsartikel in der Bundesverfassung vorgibt.

Das Konzept einer vermehrten lokalen Schulautonomie beinhaltet, Schulleitungen mit grösseren Zuständigkeiten auszustatten. In der Folge wurden in der Schweiz fast flächendeckend «geleitete Schulen» eingeführt (Maag Merki & Büeler, 2002). Die Profession der Schulleitung hat sich etabliert und die Trennung von strategischen und operativen Führungsaufgaben ist erfolgt. Damit zielte man darauf, Entscheidungen rascher, wirksamer und damit auch effizienter am Ort des Geschehens zu treffen (Dubs, 1996).

Effekte von Schulleitungen

Die Schulleitungsforschung hat denn auch gezeigt, dass das Schulleitungshandeln für die Entwicklung der Schule bedeutsam ist. Zusammenfassend meint Bonsen (2016), dass Schulleitungen zwar keine direkten Wirkungen auf die Leistungen der Schülerinnen und Schüler haben, dass sich «aber kleinere positive indirekte Effekte der Führung auf die Lernzuwächse» zeigen (ebd., S. 308). Das Führungshandeln steht in einer Wechselwirkung mit Aspekten der Umgebung und der Fähigkeit der Schule zur Entwicklung. Es ist abhängig von organisationalen Bedingungen, um wirksam zu werden. Das heisst, dass die Schulleitung nicht einfach Bedingungen und eine entsprechende Schulkultur schafft, die dann wiederum auf die Schuleffektivität wirken, sondern die Schulleitung wird in ihrem Handeln selbst beeinflusst durch die Gegebenheiten vor Ort (Hallinger & Heck, 2010; Bonsen, 2016).

Nimmt man die Veränderung der Leistungen der Schülerinnen und Schüler als Massstab für positive Wirkungen, ist die Förderung von und Teilnahme an Lehrerinnen- und Lehrerweiterbildung und Unterrichtsentwicklung als eine von fünf Dimensionen von Führungshandeln diejenige mit der grössten Effektstärke. Sie weist auf die Bedeutung der Schulleitenden als «leading learners» für bessere Schülerinnen- und Schülerleistungen hin (Robinson, Lloyd & Rowe, 2008). «Leading learners» oder unterrichtswirksame Schulleitungen betonen im Kollegium die Unterrichtsqualität und fördern die unterrichtsbezogene Kooperation der Lehrpersonen sowie die berufsbegleitende Professionalisierung (Bonsen, 2009) beziehungsweise die Weiterbildung. Auch die weiteren Dimensionen des Schulleitungshandelns – Ziele und Erwartungen etablieren, Ressourcen strategisch einsetzen, Planen, Koordinieren und Evaluieren von Unterricht sowie Sicherstellen einer unterstützenden Umgebung – sind nicht nur bedeutsam für die Ergebnisse der Schülerinnen und Schüler, sondern auch für das Lernen der Lehrpersonen. Sie bestimmen die Arbeitsbedingungen wesentlich mit, die für die berufliche Entwicklung der Lehrpersonen relevant sind (Louws, Meirink, van Veen & Van Driel, 2016; Bredeson & Johansson, 2000).

Im vorliegenden Fall einer Lehrplaneinführung gilt jedoch auch: Staatliche Reformen haben für Schulleitungen ein Management-Dilemma zwischen Implementation äusserer Anforderungen und der Entwicklung schuleigener Verbesserungen mit den daraus abzuleitenden Massnahmen zur Folge (Bolam, 2002). Insbesondere die englischsprachige Literatur und Forschung verweist darauf, wie wichtig Kommunikation und «Sinngebung» seitens der Schulleitung für die Umsetzung der Reform sind. Der Schulleitung obliegt es,

 die angestrebten Ergebnisse und spezifischen Handlungen zu deren Erreichung zu artikulieren,

 auf diejenigen Einfluss zu nehmen, die diese Arbeit tun (Cosner, 2011).

Die Informationen und die Wortwahl beeinflussen das Verständnis der Reformfolgen und -ergebnisse und unterstützen die Umsetzung dann, wenn sie

 die zugrunde liegenden Prinzipien der Reform adressieren, aber konkreten Alltagsbezug haben und es nicht bei oberflächlichen Aspekten der Reformarbeit belassen;

 an bestehendes Wissen der Lehrpersonen über die Reform und ihre Kompetenzen anknüpfen und beides einbeziehen (ebd., S. 572).

Diese Anforderungen machen deutlich, dass Schulleitungen idealerweise nicht nur die Reform selbst, sondern auch Umsetzungsmöglichkeiten auf der Ebene des alltäglichen Handelns der Lehrpersonen sowie die Voraussetzungen der Lehrpersonen der Schule kennen, um umsetzungsunterstützend zu kommunizieren. Für die Einführung des Lehrplans 21 im Kanton Bern würde das bedeuten, dass die Schulleitungen nicht nur den Lehrplan zumindest in seinem grundsätzlichen Lern- und Unterrichtsverständnis kennen, sondern auch eine Vorstellung davon haben, wie ein entsprechender Unterricht fachbereichsspezifisch realisiert wird und wie mögliche Entwicklungsschritte dahin, ausgehend von der aktuellen Unterrichtspraxis in der Schule, aussehen könnten.

Возрастное ограничение:
0+
Объем:
502 стр. 55 иллюстраций
ISBN:
9783035515190
Издатель:
Правообладатель:
Bookwire
Формат скачивания:
epub, fb2, fb3, ios.epub, mobi, pdf, txt, zip

С этой книгой читают