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Siegfried Reusch

Der Zauber des Denkens

Gespräche über Philosophie


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Der Lambert Schneider Verlag ist ein Imprint der WBG (Wissenschaftliche Buchgesellschaft), Darmstadt.

© 2012 by Lambert Schneider Verlag, Darmstadt

Die Herausgabe des Werkes wurde durch die Vereinsmitglieder der WBG ermöglicht.

Lektorat: Tina Koch

Layout, Satz und Prepress: schreiberVIS, Seeheim

Einbandgestaltung: Finken & Bumiller, Stuttgart

Besuchen Sie uns im Internet: www.lambertschneider.de

ISBN 978-3-650-25164-0

Elektronisch sind folgende Ausgaben erhältlich:

eBook (PDF): 978-3-650-72991-0

eBook (epub): 978-3-650-72992-7

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Inhaltsverzeichnis

Vorwort Siegfried Reusch __ Dem Denken wohnt ein Zauber inne

Kapitel 1__ Wozu Philosophie?

Peter Sloterdijk __ Philosophie als Zivilisationspädagogik

Jürgen Mittelstraß __ Wer will bezweifeln, dass die Hasen vor der Tür auch ohne uns herumlaufen?

Alexander Dill __ Philosophie oder die Liebe zu einer nicht vorhandenen Frau

Kapitel 2 __ Ich, der Andere und die Kultur

Klaus Maria Brandauer __ Ich, das sind wir alle!

Aleida und Jan Assmann __ Ohne Gedächtnis gibt es keine Kultur

Barbara Duden __ Die Ungeborenen

Vincent Klink __ Eine Kritik der kulinarischen Vernunft

Maxim Biller __„Ich, sagt ihr immer nur, ich – ich – ich!“

Reinhold Messner __ Der Grenzgang beginnt im Kopf

Kapitel 3__ Der politische Mensch

Helmut Schmidt __ Es ist nicht die Aufgabe der Bundesregierung, dem Volk eine Philosophie zu geben

Joachim Gauck __ Die Idee der Gerechtigkeit muss immer wieder auf den Prüfstand

Jan Philipp Reemtsma __ Man hat immer Optionen

Kapitel 4 __ Zwischen Gut und Böse

Rüdiger Safranski __ Wir müssen uns dem Bösen stellen

Eugen Drewermann __ Der Mensch braucht Religion

Kapitel 5 __ Eine Frage der Zeit

Heribert Illig __ Der Zeitraffer

Peter Heintel __ Der Zeitverzögerer

Kapitel 6 __ Der Zauber des Denkens

Andino (Andreas Michel) __ Philosophie des Zauberns

Zu den Interviews

Lebensläufe, Bibliografien, Interviewer

SIEGFRIED REUSCH

Dem Denken wohnt ein Zauber inne

Philosophie ist die Kunst, alles zu bezweifeln, ohne am Leben selbst zu verzweifeln. Denn der Sturz ins Bewusstsein hat den Menschen eher verunsichert, als dass er ihm durch das Auffinden letzter Gewissheiten Halt und Sinn im und durch das Denken vermittelt hätte. Mit den Entdeckungen Galileo Galileis der Sicherheit verlustig gegangen, im Mittelpunkt der Welt zu stehen, muss der Mensch seit Sigmund Freuds Entdeckung der Macht des Unbewussten auch noch mit dem Faktum leben, nicht Herr im eigenen Haus zu sein. Trotz der Errungenschaften der modernen Naturwissenschaften steht er sich selbst nach wie vor als offene Frage gegenüber. Nicht von ungefähr heißt es am Ende von Ludwig Wittgensteins Tractatus Logico Philosophicus: „Wir fühlen, dass selbst wenn alle möglichen wissenschaftlichen Fragen beantwortet sind, unsere Lebensprobleme noch gar nicht berührt sind.“ Die sogenannten vier großen Fragen Immanuel Kants – „Was kann ich wissen?“, „Was kann ich hoffen?“, „Was soll ich tun?“ und „Was ist der Mensch?“ – harren nach wie vor einer Antwort.

So überrascht es nicht, dass der Romantiker Friedrich Freiherr von Hardenberg, bekannter unter seinem Pseudonym Novalis, Philosophie als „Heimweh nach dem Ganzen“ charakterisiert. Der Zauber des Denkens liegt allerdings weniger in der Hoffnung auf Erlösung von der Sehnsucht nach eindeutigen Wahrheiten begründet – sei es durch das Auffinden der einen Welterklärung, sei es durch die letztgültige Einsicht, eine solche nie finden zu können –, als vielmehr darin, dass viele Weltsichten nebeneinander bestehen und sich mitunter auch ergänzen können. Anders ausgedrückt: Der Zauber des Denkens ist dessen welterschließendes kommunikatives Potenzial.

Ungefragt und unversehens in die Welt geworfen, ist der Mensch immer schon auf den Anderen verwiesen, kann er sich seiner selbst und seiner Weltbezüge nur vermittels der tätigen Auseinandersetzung mit dem Anderen vergewissern. Er ist zoon politicon, ein in Gemeinschaft lebendes Tier, wie Aristoteles es ausdrückt, nicht weil er in Gemeinschaften lebt, wie dies auch viele Tiere tun, sondern weil er sich beständig mit anderen über sich, sein Denken und seine Interpretation von Welt auseinandersetzt. Mithin ist menschliches Sein immer ein „Mit-Sein“. Der Mensch ist nicht da ganz Mensch, wo er spielt, wie Friedrich Schiller in seinen Briefen Über die ästhetische Erziehung des Menschen betont, sondern vor allem da, wo er kommuniziert. Den Menschen ist es versagt, sich nicht danach zu fragen, was all das bedeutet, was sie mit ihren Sinnen wahrnehmen, was sie sehen, schmecken, riechen, hören, fühlen, kurz, all das, was ihnen begegnet und widerfährt. Um all dies zur Sprache und somit in einen lebbaren Zusammenhang zu bringen, sind wir gezwungen, uns denkend, sprechend und seit der Erfindung der Schrift auch schreibend und lesend mit dem Gegenüber auseinanderzusetzen. Das heißt, menschliches Leben vollzieht sich immer im Raum kommunikativer Bedeutsamkeit. Vor allem im offenen Gespräch entsteht ein Raum des Zwischen, in dem Ich und Du in der Weise der Vernunft zueinander ins Verhältnis treten können, um sich eine mit anderen teilbare Wirklichkeit aufzubauen.

Das philosophische Gespräch, sei es mit einem Gegenüber, sei es durch welches Medium auch immer vermittelt, ist nicht „poiesis“, das heißt nicht auf das Herstellen zielendes, regelgeleitetes Handeln, sondern „praxis“ im ursprünglichen Wortsinn: Es ist die gemeinsame tätige Aneignung von Welt, der aufschließende Umgang, die Interpretation des je eigenen Weltverhältnisses, das immer auch durch den Leib und den Anderen bestimmt ist. Nicht zuletzt Hannah Arendt hat in diesem Zusammenhang auf die Gleichberechtigung und gegenseitige Verwiesenheit von theoretischer (vita contemplativa) und tätiger Lebensform (vita activa) hingewiesen. Denn bewähren kann sich das Denken nur im Tun – und das miteinander Sprechen ist die vornehmste, gewinnbringendste und letztlich auch menschlichste Form des Tuns. Entsprechend ist die philosophische Auseinandersetzung keine Reaktion auf den Verlust lebensweltlicher Selbstverständlichkeiten – kein Krisensymptom –, sondern urspünglichste und ureigenste Form des Menschseins: Als Menschen sind wir immer schon im Gespräch.

Die Einsicht, im Philosophieren keine letztgültigen Wahrheiten generieren zu können, degradiert die Philosophie jedoch keineswegs zur Unterhaltung oder zur bloßen Irritationswissenschaft. Im Gegenteil! Sind Wahrheit und Ideologie doch untrennbare siamesische Zwillinge. Zur Ideologie wird Denken immer dort, wo vermeintliche denkerische und/oder naturwissenschaftliche Selbstverständlichkeiten nicht mehr in Frage gestellt werden dürfen, wo ein offenes Gespräch nicht mehr möglich ist. So kann man zum Beispiel entgegen der berechtigten und wohlbegründeten Überzeugung von Jürgen Mittelstraß nicht nur mit Recht bezweifeln, dass „die Hasen vor der Tür auch ohne uns herumlaufen“, sondern muss es sogar beständig bezweifeln! Denn da, wo totale Übereinstimmung der Meinungen besteht, herrscht nur mehr Stillstand. Die moderne Spannung zwischen Sollen und Sein lässt sich nur durch das Gespräch ertragen – auflösen lässt sie sich nicht.

Mit Bedacht wurden für den vorliegenden Band nicht nur Interviews mit Berufsphilosophen geführt, sondern auch mit Menschen, deren Denken sich nicht nur aus der wissenschaftlichen Auseinandersetzung mit der Philosophie speist. Wenn Philosophie ihre Zeit in Gedanken erfasst, wie Georg Wilhelm Friedrich Hegel lehrt, dann sind die hier abgedruckten Gespräche philosophische Zeitzeugnisse im besten Sinne des Wortes: Zeugnisse der denkenden Auseinandersetzung mit sich, dem Anderen und der Welt.

KAPITEL 1

Wozu Philosophie?

Peter Sloterdijk

Philosophie als Zivilisationspädagogik

Jürgen Mittelstraß

Wer will bezweifeln, dass die Hasen vor der Tür auch ohne uns herumlaufen?

Alexander Dill

Philosophie oder die Liebe

zu einer nicht vorhandenen Frau

PETER SLOTERDIJK

Philosophie als Zivilisationspädagogik

Herr Sloterdijk, Sie zählen zu den wenigen Philosophen, die auch einer breiteren Öffentlichkeit bekannt sind. Worauf führen Sie Ihren Erfolg zurück?

Um die Wahrheit zu sagen, ich glaube an den Erfolg oder seinen Anschein nur widerwillig oder, wenn Sie wollen, gar nicht. Die kulturelle Konstellation ist nicht mehr so, dass eine literarische oder eine philosophische Stimme, die unverkennbar hochkulturell gefärbt ist, in der heutigen Medien- und Kulturlandschaft wirklich erfolgreich sein kann. Im heutigen Milieu hat das Auseinanderdriften der populärkulturellen und hochkulturellen Felder ein solches Maß an Entfremdung zwischen den Bereichen hervorgerufen, dass es Grenzgänger kaum noch geben kann. Ja, dass überhaupt noch eine Art Verkehr stattfindet, ist schon das Erstaunliche, und das liefert wohl die Begründung für das, was Sie meinen Erfolg nennen. Aber sehen wir die Dinge aus der Nähe an: Wenn man von einem philosophischen Buch knapp 40 000 Exemplare verkauft, wie es zum Beispiel bei meinem vorletzten Buch Zorn und Zeit der Fall war, ist es zwar nach den Kriterien des Metiers ein ziemlich gutes Ergebnis. Aber in den Kategorien der Massenkultur gesprochen ist so eine Zahl nur die Umschreibung für Nicht-Inexistenz. Das ist der Punkt.

Mein Freund Boris Groys hat mir mal eine Geschichte von einem seiner russischen Bekannten erzählt, der nach einem ersten Besuch in New York entsetzt und begeistert zurückkam. Was er dort erlebt hatte war der Kulturschock, der einem Gebildeten alten Schlages in einer echten Marktgesellschaft bevorsteht. In Moskau, so der Russe, wäre ein Intellektueller, der es sich in einer Konversation hätte anmerken lassen, dass er zum Beispiel den Namen von Albert Camus noch nicht gehört habe, für immer blamiert gewesen. Ganz anders in New York – wenn dort jemand Camus nicht kennt, dann heißt es einfach: Camus hat es nicht geschafft.

Diese Geschichte macht klar, worum es heute geht. Aus unserer Sphäre kann es heute absolut niemand mehr schaffen. Zumindest nicht in dem Sinne, wie es vor 50 Jahren noch einige Autoren vorgemacht hatten. Damals allerdings war die Auskristallisierung der Massenkultur noch nicht so weit vorangeschritten. Figuren wie der eben genannte Camus, aber mehr noch Jean-Paul Sartre, waren richtige Global Players. Kurzum, ich zögere, meine gelegentlichen grenzgängerischen Evasionen auf die andere Seite mit Erfolgen zu verwechseln.

Was bedeutet Ihnen als Schriftsteller das Etikett Philosophie? Wofür steht der Begriff Philosophie eigentlich?

Philosophie ist von außen gesehen eine relativ klar definierte Angelegenheit.

Es ist einfach das, was Philosophen tun. Und Philosophen sind die Leute, die in den philosophischen Fakultäten situiert sind. Das ist die Minimaldefinition von Philosophie, die sich aus der pragmatischen Sicht ergibt. Sie ist begreiflicherweise völlig selbstbezüglich und tautologisch. Daneben gibt es gottlob noch immer den berühmten „Weltbegriff“ der Philosophie, hinter dem übrigens – und das hat Immanuel Kant nicht erwähnt – ein noch anspruchsvollerer Überbegriff steht, der ethische Begriff der Philosophie. Nach dem ist Philosophie als Lebensform zu verstehen, gleichsam als eine Ordensregel. Der Philosoph ist – etwa bei den Kynikern – derjenige, der seinen zweiten Mantel verkauft und beschließt, in Zukunft ohne Kopfstütze zu schlafen. Ein Philosoph ist aus antiker Sicht jemand, der sein Leben nach den Regeln des Kosmos einrichtet. Er ist ein Mönch der Vernunft, und seine Weisheit zeigt sich darin, dass er sich selbst als eine lokale Funktion des Universums versteht. Dies ist gewiss nicht mehr sehr aktuell, an die Stelle dieses integralen Konzepts philosophischen Lebens ist ein moderner Weltbegriff getreten, bei dem es um so etwas wie eine universale Beratungskompetenz geht. Daher genießt die neuere Philosophie ein Interventionsprivileg hinsichtlich aller existenziellen und politischen Fragen. Während ansonsten Dilettantismus in Fragen der Erkenntnis zu Recht verboten ist, wird er bei den Philosophen geradezu gefordert, nämlich als Bereitschaft, in alles hineinzureden – was eigentlich auch heißt: in alle Dinge etwas hineinzulesen. Philosophie ist so gesehen eine hybride Lesepraxis. Wenn man Klassiker liest und solche Lektüren kreuzt, bleibt man Klassizist: Hierbei ist das Lektüreverhalten auf das Wechselspiel zwischen Primär- und Sekundärliteratur begrenzt. Oder aber man wird Modernist und liest interdisziplinär, dabei entstehen Hybridlektüren und gewagtere Kreuzungen. Das ist so ungefähr die Definition meiner Arbeit.

Wie würden Sie Ihr Werk in der philosophischen Landschaft verorten und wie stehen Sie zur akademischen Philosophie?

Ich will mich fürs Erste nicht so sehr in einer Landschaft, sondern zuerst in einer Zeitlinie verorten; landschaftliche Bezüge kommen erst später dazu. Wenn ich die Frage beantworten soll, wo ich herkomme, dann würde ich zuerst auf den deutschen Spätidealismus hinweisen, auf diese ganze Geschichte, die Karl Löwith in seinem Klassiker Von Hegel zu Nietzsche erzählt hat. Das war meine erste Prägung, mein Familiensystem, ich habe diese ganze Literatur quasi mit der Muttermilch aufgesogen. Das liegt zum Teil daran, dass an unserem Münchner Gymnasium ein Mathematiker unterrichtet hat, der zugleich Philosoph war und der mit uns Schülern in einer Arbeitsgruppe die Kritik der reinen Vernunft gelesen hat – damals war ich fünfzehn, sechzehn. Der stärkste äußere Impuls kam damals aber von der theologischen Seite her, von einem protestantischen Religionslehrer, der nicht über den lieben Jesus redete, sondern über Nietzsche, Kierkegaard und Jaspers. Die These, dass Gott tot sei, war ja im Verhältnis zu der, dass er lebe, wirklich viel interessanter, und ein Geistlicher, der etwas auf sich hielt, diskutierte mit den Jungen damals lieber über das Testament des toten Gottes als über das Alte und das Neue. Ohnehin gab es nach dem Krieg für positive Glaubensbekenntnisse wenig Anhaltspunkte.

Was die landschaftliche Zuordnung angeht, wäre bei mir der Zug nach Frankreich zu erwähnen. Wobei übrigens der eben erwähnte Löwith der einzige Vertreter der deutschen Philosophie war, der begriffen hatte, dass Paul Valéry ein Philosoph eigenen Rechts war. Bei ihm standen der Philosoph und der Schriftsteller in völliger Gleichberechtigung nebeneinander, der eine dementierte den anderen nicht. Diese Zweisprachigkeit aus Literatur und Philosophie war für mich von früh an eine Selbstverständlichkeit. Dennoch, seit ich publiziere, stehe ich ständig vor dieser für mich völlig sinnlosen Frage, wie ich mich gegenüber der akademischen Philosophie verhalte. Das scheint mir vor allem deswegen absurd, weil ja der Typus, dem ich mich zurechne, gerade in Deutschland sehr gut etabliert war. Wir hatten im 19. Jahrhundert Arthur Schopenhauer, wir hatten Friedrich Nietzsche und Karl Marx, und seit die Übersetzungen aus dem Dänischen vorlagen, auch Sören Kierkegaard. Das waren alles keine Professoren, sondern Autoren, die den Weltbegriff der Philosophie anreicherten. Wir haben dann im 20. Jahrhundert auf französischer Seite mit Valéry, Camus, Sartre, Foucault und so weiter eine Reihe von Philosophen erlebt, die allesamt zugleich eminente Schriftsteller gewesen sind. Das ist alles Autorenphilosophie, die dem Weltbegriff von Philosophie neue Aspekte hinzufügte. Vor diesem Hintergrund verstehe ich die Frage nach meinem Verhältnis zur akademischen Philosophie überhaupt nicht, weil die Frage ja voraussetzt, dass der literaturnahe Typus delegitimiert sei und wir das Monopol des Professoralen akzeptieren sollten. Wieso eigentlich?

Auf der anderen Seite würde ich auf meinem Feld nie eine reine Literatur verteidigen, die nicht über das Handwerkszeug des Fachs verfügt. Die Rezeptionsverweigerung, die in der deutschen akademischen Szene meiner Arbeit gegenüber hier und dort zu beobachten war, betrifft ja üblicherweise nicht das Handwerk, sondern den literarischen Mehrwert, der bei mir hinzukommt, und auf den sich einzulassen für den Homo academicus ein existenzielles Risiko beinhaltet. Ich selbst bin von guter Schulphilosophie begeistert, aber sie muss, denke ich, ihr Gegenlager in einer vitalen Zeitphilosophie haben, das heißt in einer Autorenphilosophie, die die intellektuelle Evolution mit vorantreibt. Ansonsten bereitet gerade der Akademismus den Untergang der Philosophie vor. Akademismus, das soll man nicht vergessen, kann eine Form von Dekadenz sein.

Sind Philosophen die Ärzte der Kultur, wie Nietzsche schreibt?

Das ist zu hoch gegriffen. Kulturen brauchen keine Ärzte, weil Kulturen als Ganzes nicht krank sein können, zumindest nicht im Sinn der Inneren Medizin. Aber sie weisen Haltungsfehler auf, die nach Korrektur verlangen. Die großen Orthopäden der jüngeren Philosophie – ich denke zum Beispiel an Husserl oder Heidegger oder Hermann Schmitz – arbeiten sich an den Fehlhaltungen der europäischen Rationalitätskultur ab. Und solch ein Fehlhaltungstheoretiker war in gewisser Weise auch Nietzsche, sofern er die durch das Christentum eingeführte moralische Verkrümmung des westlichen Menschen therapieren wollte.

Heidegger selbst wies im Übrigen alle Symptome einer typischen Philosophenkrankheit auf, nämlich zu glauben, die Bewegung des Weltgeistes vollziehe sich durch seine schreibende Hand beziehungsweise durch seinen akademischen Vortrag. Immerhin: Er war auch einer von denen, die vorgeführt haben, dass Philosophie, wenn sie bei der Sache ist, immer von einer anderen Kanzel als dem akademischen Lehrstuhl aus spricht.

Wie würden Sie das Verhältnis der Philosophie zur Wissenschaft bestimmen?

Diese Frage führt uns auf ein weites Feld. Philosophie ist selbst keine Wissenschaft. Sie ist so etwas wie eine Moderatorin oder Partnerin der Wissenschaft, in historischer Sicht auch eine Matrix der Wissenschaften – doch nicht diese selbst. Sie ist, wenn Sie so wollen, sogar in ihrer wissenschaftstheoretischen Ausprägung, bestenfalls so etwas wie ein Wissenschaftsrat. Aber sie kann und soll keine Wissenschaft sein, weil sie eine ganz andere Funktion ausübt. Ich erinnere noch einmal an die Tradition der Philosophie als Modus vivendi, in der es immer einen klaren Primat der Lebensberatung gab. In der Antike wurde wissenschaftliche Betätigung immer nur so weit betrieben, wie sie nötig war, um die Therapie der Seele voranzubringen.

Bleibt da noch Raum für überzeitliche Wahrheiten?

Ja, selbstverständlich, wenn man Wahrheit als Eigenschaft von Sätzen versteht. Sätze sind überzeitlich wahr, weil und insofern es so etwas wie unverwüstliche Sätze gibt, die noch länger da sein werden, als Atommüll in Endlagern strahlen kann. Die wahren Sätze strahlen immer, die euklidischen Gesetze oder die Winkelsumme im Dreieck, die braucht man nicht in einem alten Salzbergwerk aufzubewahren, sie strahlen auf eine Weise, die mit unserem Dasein im alltäglichen Biotop bis zum Beweis des Gegenteils kompatibel zu sein scheint. Dasselbe gilt auch für historische Sätze. Nach allem, was wir wissen, wurde Cäsar an den Iden des März ermordet, und eine richtige Beschreibung dieses Vorgangs – egal wieviel daran von den Redakteuren stammt – bleibt für den Rest der Zeiten wahr. Es ist nicht so, dass wir eines Tages erklären müssten: Im Lichte neuerer Erkenntnisse oder durch eine Veränderung der Perspektive verändert sich das, was damals passiert ist, von Grund auf – und Caesar wurde an den Kalenden des Januar ermordet. Keine Sorge, die Interpretationen verändern sich, aber es gibt eine relativ entrückte Dimension. Ich bin, wie Sie sehen, kein Anhänger des radikalen Konstruktivismus, der davon ausgeht, dass es keine objektive Wirklichkeit gibt, dass alles nur durch meine grammatischen Entscheidungen und unsere kollektiven Verabredungen konstruiert wird. Ich neige eher zu einer konventionell realistischen Ontologie. Andererseits meine ich, wir wissen vielleicht noch gar nicht, wie viele Ontologien es geben muss. Es könnte zehn verschiedene Ontologien für jeweils verschiedene Dimensionen geben – eine für Zahlen, eine für geometrische Figuren, eine für Sachverhalte, eine für einzelne Ereignisse, eine für Ereignisströme, eine für Maschinen, eine für Personen, eine für Kunstwerke, eine für Götter, eine für Tiere und so weiter.

Edmund Husserl war bestrebt, Philosophie als strenge Wissenschaft zu etablieren. War dies eine Fehlentwicklung in der Philosophiegeschichte?

Nein. Husserl schneidet aus dem Feld der Philosophie nur einen bestimmten Ausschnitt heraus. Dabei kommt es, zugleich mit einer Bereicherung an Präzision, zu einer fantastischen Verarmung des Gegenstandsbereichs der Philosophie. Es entsteht so etwas wie ein In-vitro-Denken, bei dem der Anspruch auf Verwissenschaftlichung gewiss ein Stück weit vorangetrieben werden konnte. Insofern war das kein Irrweg, aber diese Art des Philosophierens taugt nicht dazu, alle philosophischen Stile zu monopolisieren. Wir kommen von Husserl aus nur mit größter Mühe zu einer Sozialphilosophie, und die Welt der geschichtlichen Dinge hat Husserl, wie er selber einmal bemerkte, einfach vergessen.

In Ihren Werken spielt der Begriff der Gestalt eine große Rolle. Sie interessieren sich für Gestaltentwicklungen, Formen und Transformationen.

Das ist richtig. Ich hätte die Sphären nicht geschrieben, wenn ich geglaubt hätte, dass die Alternative, vor welche die traditionelle Philosophie uns hinsichtlich geistiger Objekte stellt, eine überzeugende wäre. Es gibt neben den Ideen, den Zahlen und den Begriffen eben noch etwas anderes – und das sind die Formen im Sinn von Gestalten. Der Formbegriff hat zwar in der Philosophie eine große Rolle gespielt, aber die Formen als solche kamen dennoch zumeist gar nicht vor. Man hat sich auf den Formbegriff berufen, um begriffliche Verallgemeinerungen zu propagieren. Die Form als Form hingegen hat die Philosophen kaum interessiert. Ich könnte Ihnen kaum einen Philosophen der Neuzeit nennen, der zu den platonischen Körpern (die „regulären“ Vielecke wie zum Beispiel Würfel, Tetraeder, Dodekaeder und so weiter) etwas Belangvolles zu sagen wusste. Außer Leibniz und ein paar Denkern, die an ihn angeknüpft haben, wie Dietrich Mahnke, war da praktisch niemand, der in den letzten 200 Jahren zu Kugeln etwas Sinnvolles beigesteuert hätte. Die Scholastik kennt die Lehre von der Zahl und die Lehre vom Begriff. Aber diese Alternative ist alles andere als vollständig. Dass sich zwischen der Zahl und dem Begriff der Zwischenbereich der Formen auftut, das ist die starke These, der ich nachgehe. Unter den Rezensenten meines Sphärenprojekts traten Leute auf, die dumm genug waren, das Wort Kugel nur eine Metapher zu nennen. Doch wenn ich den Ausdruck in den Sphären metaphorisch gebrauchte, dann habe ich das gekennzeichnet. Aber fürs Erste sind Kugeln keine Metaphern, sondern Formen.

Woher rührt diese Formvergessenheit in der Philosophie?

Die noch ärger ist als die berühmte Seinsvergessenheit – die übrigens von Heidegger stark überschätzt wurde. Ich meine, dieser Defekt hat mit dem Begriffsglauben der Philosophen zu tun, auch damit, dass die moderne Erkenntnistheorie fatale Konsequenzen nach sich gezogen hat, weil sie die synthetischen Urteile a priori in den Verstand gelegt hat; wohingegen Formen die Information enthalten, dass die Synthesis nicht erst im Verstand passiert. Das heißt, die wirkliche Form ist eine empfangene Form, die nicht von mir kommt. Ich denke zur Kugel ja nicht die Kugelgestalt im Verstand hinzu, sondern finde sie als eine formale Eigenschaft des Objekts vor. Das kann als nicht ideales oder als ideales Objekt auftreten, aber es hat in jedem Fall die gegebene Form, wenn es sie eben hat. Durch den Transzendentalismus haben wir den ganzen Bereich des Morphologischen, den Bereich der Formen und der Formentstehung, hinweg eskamotiert. Es gibt zwar immer wieder Versuche, die Form, die Gestalt auch vom Ding her zu denken, aber als bloßer Kantianer könnte ich dazu keine drei vernünftigen Sätze sagen. Genau dieses Problem greift die Sphärenthematik des zweiten Bands der Sphärentrilogie auf, in dem der Begriff der Kugel überwiegend nicht metaphorisch verwendet wird.

In diesem Zusammenhang fällt der Begriff der demokratischen Esoterik. Was hat es damit auf sich?

Der Begriff „demokratisch“ ist hier natürlich nicht politisch zu verstehen, sondern wissenschaftstheoretisch. Demokratisch ist eine Theorie dann, wenn sie so etwas wie Waffengleichheit der diskursiven Bedingungen unterstellt. Esoterik hingegen ist die Rede von Verborgenem, also von Dingen, die entweder kontraintuitiv sind oder schwierige Zugangsvoraussetzungen haben. Wenn man etwa eine genetische Theorie der Paarbeziehung entwickeln will, wie ich es in Sphären I versuche, kommt man an einen Punkt, wo es wirklich ein wenig abgründig wird. So etwa, wenn man sich fragt: Hat der Fötus eine Beziehung zu seinem mütterlichen Milieu? Vermutlich ja. Nur, wie sieht es dann mit dem kognitiven Zugang zu solchen verborgenen Verhältnissen aus? Hieran ist nichts öffentlich und evident. Ich kann mich ja nicht mit dem Kollegen Habermas am Eingang zum Mutterleib verabreden. Aus dieser Verlegenheit ergab sich die am stärksten literarisierte Stelle im ersten Band der Sphärentrilogie: das ominöse Mutterleibskapitel, in dem ich Sprachformen verwende, die ein radikal intuitives Verständnis evozieren. Da will ich etwas sagen, was man in der ersten Person sinnvollerweise nicht sagen kann, vielleicht auch gar nicht sagen soll, weil es ja eine unwahrscheinliche Indiskretion impliziert. Ich habe an der kritischen Stelle, wo es am indiskretesten wird, Fotografien von einer indischen Yoni-Höhle eingefügt, die eine große Vulva zeigen, und überlasse es dem Leser, sich Rituale vorzustellen, bei denen Initianten dort hindurch geschickt werden. In Fellinis Casanova-Film gibt es eine ebenso anzügliche Stelle, wo die Große Muna auftaucht, eine betretbare weibliche Öffnung, als Jahrmarktsattraktion. Mir ging es in Sphären I darum, solche Figuren für die philosophische Untersuchung zu erschließen.

Selbst wenn man, wie ich es tue, eine zweipolige Subjekttheorie vorschlägt, stellt sich die Frage, ab wann ein Subjekt für sich und seinen Anderen vorhanden ist. Für Fichte ist das Problem fürs Erste einfach zu lösen, weil bei ihm das Subjekt von dem Moment an da ist, wo es sich setzt. Darum sagt er ja sehr schön, Eltern sollten als den eigentlichen Geburtstag ihres Kindes den Tag feiern, an dem es zum ersten Mal „ich“ sagt – das ist das sprachliche Vorspiel zur Selbstsetzung. Kurzum, ich denke, der Ausdruck Esoterik wird hier nicht unzulässig verwendet. Mit der obskuren Mystik der Bahnhofsbuchhandlungen hat das alles nicht das Geringste zu tun.

In Ihrem Roman Der Zauberbaum wird einem angehenden Arzt geraten, sich mit der Gebärmutter als einem zu wenig erforschten Organ auseinanderzusetzen, und dann, 20 Jahre später, gibt es ein entsprechendes Kapitel in Ihrer Sphärentrilogie.

Das hat bisher, scheint mir, niemand außer Ihnen bemerkt. Jedenfalls ist der Zusammenhang gut gesehen: Da hat sich eine Motivwanderung vollzogen. Einen Zwischenschritt findet man vielleicht in einem entsprechenden Kapitel in der Kritik der zynischen Vernunft, wo vom Zynismus der Mediziner die Rede ist. Der alte Herr, der im Roman diese makabren Sachen sagt und der an das Glas klopft, in dem eine Gebärmutter in einer durchsichtigen Lösung schwebt – das ist so ein Zyniker alten Schlags. Im Übrigen versuche ich in der Kritik, den ärztlichen Zynismus als Inkognito eines Humanismus zu schildern. Tatsächlich wandern mehrere Motive dieser Art durch meine Bücher hindurch. Das ist wohl ein Reflex der Tatsache, dass ich zu dieser unglückseligen Generation gehöre, die nach 1968 an den neuen Menschen geglaubt hat, der mit tiefenpsychologischen Mitteln befreit werden sollte. So wie man heute, allerdings nur satirisch, behauptet: „In jedem Iraker steckt ein Amerikaner, der heraus will“, so haben wir damals, ganz ernsthaft, gesagt: „In jedem Bürger steckt ein Kind, das heraus will“. Das Kind als Garant eines Neuanfangs.

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9783650729927
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