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Sibylle Reith

Multisystem-Erkrankungen erkennen und verstehen

Über die unterkomplexe Wahrnehmung und Versorgung komplexer Erkrankungen

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„Tatsachen schafft man nicht dadurch

aus der Welt, dass man sie ignoriert.“

Aldous Huxley

Einleitung

Diese Einleitung ist gleichzeitig die Zusammenfassung der wesentlichen Inhalte dieses Buches.

Als ich vor vielen Jahren begann, mich mit meiner eigenen multisystemischen Erkrankung auseinanderzusetzen, ahnte ich nicht, dass mich dieses Thema so packen würde, dass ich, nachdem ich meinen Beruf als Lehrerin aufgegeben hatte, mehrere Jahre mit wissenschaftlicher Recherche verbringen würde. Ich ahnte auch nicht, welche Komplexität mich erwartete und auch nicht, in welches Spannungsfeld ich mich begeben würde.

Ein dreipoliges Spannungsfeld

Auslöser meiner Recherchen war die Erkenntnis, dass die medizinische Irrfahrt, die ich erlitt, nicht nur mir widerfuhr, sondern dass ich Teil einer viel tausendköpfigen „Community der multisystemisch Erkrankten“ war – die Mitglieder dieser unfreiwilligen Gemeinschaft verschwanden jedoch – und verschwinden noch heute – aus der Gesellschaft.


Die unzureichende Versorgung, die ich erlebte, war nicht nur mein persönliches, sondern war – und ist – ein strukturelles Problem.

Ich wollte verstehen, begab mich auf die Suche und fand mich in einem dreipoligen Spannungsfeld aus Motivation, Faszination und Abscheu wieder.

Motivation

Während ich selbst mich langsam, über Jahre, regenerieren konnte (heute, mit 60 Jahren geht es mir wesentlich besser als im Alter von 40 Jahren) erlebte ich Menschen, die aufgrund ihrer multisystemischen Erkrankungen schwer krank, behindert, bettlägerig und/oder pflegebedürftig waren. Die Gemeinsamkeit zwischen uns allen war, dass die organischen Regulations-Systeme chaotisiert zu sein schienen, der ganze Organismus lief nicht rund – ohne dass ein Organ als Übeltäter ausfindig gemacht werden konnte. Die übliche Standard-Diagnostik konnte keine Auskunft geben. Die diagnostischen Werte schienen nicht die relevanten zu sein. Unsere Art von Erkrankung fand sich nicht in den Krankheits-Registern. An welche Fachdisziplin sollten wir uns wenden? Keine passte.

Faszination

Einige wenige engagierte Behandler kümmern sich – trotz widriger Rahmenbedingungen (!) – dankenswerter Weise um Patienten mit den scheinbar „medizinisch unerklärlichen“ Symptomen. In ihren Publikationen zeigen sie, dass mit Hilfe spezifischer Laboruntersuchungen Befunde ans Licht kommen, die mit den üblichen Standard-Untersuchungen und der Routine-Labordiagnostik nicht gefunden werden.


„Medizinisch nicht erklärbar“ wurde damit zu „Nicht auffindbar mit der üblichen Diagnostik“.Vielfach entpuppt sich, was allzu oft und nur scheinbar folgerichtig, als „medizinisch unerklärliche“, bzw. psychische Erkrankung etikettiert wird, anhand objektivierbarer Befunde als (schwerwiegende) behandlungsbedürftige (und zumindest segmental behandelbare!) immunologische und metabolische – also primär organische – Entgleisung.

Doch was wird da untersucht? Zuerst stieß ich auf die Mitochondrien-Medizin und in der Folge auf hochspannende, multidisziplinäre Wissenschaftsfelder. Wie bei einem Puzzle ergab sich daraus das Grundmuster eines komplexen, multisystemischen Krankheitsverständnisses.

Abscheu

Die Medizingeschichte der multisystemischen Komplex-Erkrankungen entpuppte sich als ein Jahrzehnte währender, historisch einmaliger medizinwissenschaftlicher Streit, der eine ganze Gruppe von Erkrankungen betrifft und der in der öffentlichen Debatte dennoch nur marginal wahrgenommen wurde und wird. Es ist eine Geschichte der Kontroversen, Dissense, Petitionen, Offenen Briefe, Auseinandersetzungen um medizinische Leitlinien (mit Konsequenzen für Diagnostik und Therapie) und Anfragen an den Bundestag.


Diskurse sind wichtige kommunikative Instrumente der Auseinandersetzung. Aber wenn wissenschaftliche Erkenntnisse ignoriert werden, wenn Patienten aufgrund der Komplexität ihrer Erkrankung ins Abseits verschoben werden, wenn selbst die medizinische Grundversorgung nicht gewährleistet ist, wenn von Seiten der Behörden keine Unterstützung zu erwarten ist, wenn diese Kontroversen also unbeschreibliches Leid und soziale Not insbesondere für schwer Betroffene mit ohnehin geringer Lebensqualität nach sich ziehen – dann entsteht Abscheu.Die Abscheu bringt uns nicht weiter. Das Thema erfordert die Aufklärung aller Beteiligten: Der Patienten, der Behandler und der Entscheider im Gesundheits- und Sozialwesen.

„Multisystemische Erkrankungen“

Behandler berichten über eine stetig wachsende Anzahl von Patienten mit immer komplexeren Beschwerdemustern in sehr heterogenen Patientengruppen, die sich nur schwer klassifizieren lassen. Auch die Verläufe und die Schweregrade unterscheiden sich, oft sind die Beschwerden massiv und lebensverändernd.


Kann es sein, dass wir heute massenhaft auftretende gesundheitliche Beschwerdebilder erleben, für die es bislang keinen geläufigen Begriff gibt?

Die Art und Stärke reicht von unklaren Symptomen wie Grippegefühl oder Benommenheit bis hin zu schweren und schwersten Einschränkungen der Lebensqualität mit Arbeitsplatzverlust, Behinderungen und Pflegebedarf. Bei diesen Erkrankungsausprägungen läuft das Räderwerk der ineinandergreifenden Regulations-Systeme nicht rund, die zahlreichen Beschwerden lassen sich jedoch kaum lokalisieren, bleiben ohne Erklärung und werden deshalb verharmlost. Manche Patienten erleben, dass sie offen oder versteckt das Etikett „Hypochonder“ erhalten oder dass hinter vorgehaltener Hand gar von „Krankheitsgewinn“ die Rede ist. Die Beschwerden, z. B. Schmerzen, sind jedoch durchaus real und in den meisten Fällen alles andere als kleine Malaisen.


Solche komplexen Erkrankungen werden von mehreren Autoren als „Erworbene multisystemische Erkrankungen“ bezeichnet. Sie gehören zu den umstrittensten und anspruchsvollsten Krankheitsbildern.

Das sogenannte Post-COVID-Syndrom/PCS, (auch „Long-COVID“), das sich parallel zu meiner Arbeit am Manuskript als mögliche Langzeitfolge nach einer SARS-CoV-2-Infektion entwickelte, ist das Paradebeispiel einer multisystemischen Erkrankung mit allen typischen Merkmalen – wie aus dem Lehrbuch: Wenn es denn dieses Lehrbuch gäbe... PCS-Patienten erleben nun exemplarisch alle Hemmnisse, Hürden und den Versorgungsnotstand multisystemisch Erkrankter.


Ziel dieses Buches ist, Erworbene Multisystem-Erkrankungen besser verstehbar zu machen und so als Wegbereiter und Wegweiser hin zu einer besseren Versorgung zu dienen.Das Thema Multisystem-Erkrankungen hat Bezug zu sehr vielen medizinischen Fachbereichen. Zu jedem dieser Themen gibt es eine Fülle an Informationen – verstreut im Internet, in Fachzeitschriften, in Büchern, Fernsehsendungen und in Hörmedien. Das vorliegende Buch versucht, diese unüberschaubare Informationsflut sinnvoll zu strukturieren.

Charakteristik multisystemischer Erkrankungen

Als Kurz-Charakteristik für multisystemische Erkrankungen können zwei gemeinsame Merkmale genannt werden:

 Die Patienten klagen über unspezifische und zahlreiche körperliche und seelische Symptome. Die üblichen Untersuchungen ergeben keinen Befund.

 Die Beschwerden gelten als „medizinisch unerklärlich“.

Metabolomik und Systembiologie

Heute stellt sich die Frage, ob die derzeit üblichen Standard-Untersuchungen ausreichen, um die biologischen Prozesse in ihrer lebendigen Dynamik zu verstehen. Gelten Erkrankungen auch noch als unerklärlich, wenn z. B. neue Technologien eingesetzt werden, die innerhalb kürzester Zeit mehr als 60 verschiedene biochemische Stoffwechselwege messen können? Analog zur Untersuchung des Genoms (Erbgut, die DNA), der Genomik, kann die Untersuchung des Metaboloms, die Metabolomik, charakteristische Stoffwechsel-Eigenschaften einer Zelle bzw. eines Gewebes oder Organismus identifizieren und quantifizieren. Der „-omik“-Ansatz, (der noch weitere -omiks umfasst) liegt der Systembiologie zugrunde. Das Ziel ist, das dynamische Netzwerk ausgehend von der Zellebene biochemisch zu verstehen.

Das US-amerikanische Naviaux Lab, das zu dem Mitochondrial and Metabolic Disease Center an der University of California San Diego School of Medicine/UCSD gehört und von Prof. Robert K. Naviaux geleitet wird, gehört zu den Vorreitern der Metabolik-Forschung:

„Unserer Ansicht nach liegen Chemie und Metabolismus allen Aspekten der menschlichen Biologie zugrunde. Unsere Studien zeigen, dass die Metabolomik als neue Linse genutzt werden kann, um unerwartete biologische Zusammenhänge aufzudecken, die vorher unsichtbar waren.“ [Ü.d.A.] E/1 Naviaux

Experimente und Studien, die auf dem Verständnis der Metabolomik (und weiterer „-omiks“) basieren, zeigen einerseits, wie Veränderungen im Stoffwechsel zu Veränderungen im Verhalten und in der Funktionsfähigkeit führen und andererseits, wie innovative Behandlungsansätze regulierend auf die gefundenen Stoffwechsel-Entgleisungen einwirken können.


Wir werden sehen, dass chronische „medizinisch unerklärliche“ Beschwerden und Verhaltensweisen weit besser – wenn auch noch nicht vollständig – verstanden werden können, wenn regulatorische Prozesse auf molekularer Ebene untersucht werden.

Im vorliegenden Buch werden drei übergreifende Hypothesen zur Entstehung chronischer/multisystemischer Erkrankungen vorgestellt:

 Martin L. Pall: Der Nitrosative Stress-Zyklus

 Robert K. Naviaux: Die Reaktion auf Zellgefahren (Englisch: Cell danger response CDR)

 Die Mastzell-Forschung, die in Deutschland und international von mehreren Wissenschaftlern erforscht wird.

Diese Hypothesen erklären die Stoffwechsel-Entgleisungen, die zu chronischen Erkrankungen führen, aus unterschiedlichen, sich ergänzenden Perspektiven.


Gemeinsam ist den drei Hypothesen, dass übermäßiger Stress (zu viele/zu starke biologische, chemische, psychosoziale Stressreize) am Beginn der chronischen Erkrankungen stehen.

Daher wird die breite Palette von unterschiedlichen Reiz-, bzw. Stressfaktoren, denen wir heute alltäglich ausgesetzt sind, in TEIL 2 ausführlich behandelt. Zahlreiche Faktoren, z. B. Luftschadstoffe oder Schwermetalle, schädigen unseren Organismus, ohne dass wir deren Einfluss direkt sinnlich wahrnehmen könnten. Das führt zu einem allzu sorglosen Umgang.

Prof. Martin L. Pall: Der Nitrosative Stress-Zyklus

Der renommierte US-amerikanische Wissenschaftler Prof. Martin L. Pall, emeritierter Professor für Biochemie und Grundlagenwissenschaften der Medizin an der Washington State University, spricht von einem neuen – einem zehnten Paradigma für die Krankheitsentität multisystemischer (Komplex-)Erkrankungen. Er beschreibt in seinem 2007 erschienenen Buch Explaining ‘Unexplained Illnesses’: Disease Paradigm for Chronic Fatigue Syndrome, Multiple Chemical Sensitivity, Fibromyalgia, Post-Traumatic Stress Disorder, and Gulf War Syndrome and Others mehrere Ausprägungen multisystemischer Erkrankungen. Es erschien bisher nur in englischer Sprache. Auf Deutsch lautet der Titel: Die Erklärung „ungeklärter Krankheiten“. Ein Krankheitsparadigma für Chronisches Müdigkeitssyndrom, Multiple Chemikalien-Sensibilität, Fibromyalgie, Posttraumatische Belastungsstörung, das Golfkriegssyndrom und weitere. E/2 Pall

Prof. Pall beschreibt u.a. folgende weit verbreitete, aber selten korrekt diagnostizierte multisystemische Ausprägungen:

Myalgische Enzephalomyelitis/Chronisches Erschöpfungs-Syndrom/ME/CFS

mit den Merkmalen: Vitalitätsverlust und ausgeprägter Regenerationsbedarf, selbst nach scheinbar wenig anstrengenden Tätigkeiten.

Multiple Chemikalien Sensitivität/MCS

Individuell heterogene Hypersensitivität gegenüber flüchtigen und flüssigen Chemikalien, Duftstoffen, Abgasen, Lösemitteln oder Zigarettenrauch.

Fibromyalgie-Syndrom/FMS

Leitsymptome sind: Schmerzen, Schlafstörungen und Erschöpfungsneigung.

Post-Traumatische Belastungs-Störung/PTBS, bzw. „Komplexe PTBS“

Unter (K)PTBS wird eine verzögerte Reaktion auf eine oder mehrere außergewöhnliche Bedrohungen verstanden. Leitsymptome sind: Nachhallerinnerungen, Übererregungssymptome und Vermeidungsverhalten.

PTBS gilt in der etablierten, an den Hochschulen vermittelten Medizin als psychische Erkrankung. Aus Sicht der Systemischen Epimedizin, die weiter unten vorgestellt wird, ist auch PTBS eine „Ganzkörper“-Erkrankung. PTBS unterscheidet sich in der Entstehung (fachsprachlich Ätiologie), nicht jedoch in der gemeinsamen Endstrecke in Bezug auf biochemische Merkmale von ME/CFS, MCS und FMS.

Der „Nitrosative Stress-Zyklus“

Prof. Pall erläutert detailliert, dass diese multisystemischen Erkrankungen, die bislang in unterschiedlichem Ausmaß durch übliche diagnostische Raster fallen, ursächlich durch den komplexen „Nitrosativen Stress-Zyklus“ (auch „Biochemischer Teufelskreis“) erklärbar sind – und behandelt werden können!

Erworbene multisystemische Komplex-Erkrankungen/EmKE

Folgende drei Krankheits-Ausprägungen:

 Myalgische Enzephalomyelitis/Chronisches Erschöpfungs-Syndrom/ME/CFS

 Multiple Chemikalien Sensitivität/MCS und das

 Fibromyalgie-Syndrom/FMS

werden im vorliegenden Buch unter der Bezeichnung „Erworbene multisystemische Komplex-Erkrankungen/EmKE“ zusammengefasst. Diese Auswahl ist exemplarisch zu verstehen, wir werden sehen, dass es mehrere verwandte Erworbene multisystemische Komplex-Erkrankungen gibt.

Die Bezeichnung „Erworbene Multisystem-Erkrankungen“ (ohne „Komplex“) wird als allgemeiner, beschreibender Begriff für im Laufe des Lebens erworbene „Ganzkörper“-Erkrankungen verwendet. Viele Zivilisations-Erkrankungen lassen sich als Erworbene Multisystem-Erkrankungen beschreiben.

Die drei EmKE (und verwandte Erkrankungen) sind an Komplexität kaum zu überbieten, die Beschwerden gelten in unterschiedlichem Ausmaß als „medizinisch nicht erklärbar“ und jede dieser Erkrankungen kämpft um ihre Anerkennung.


Abb. E/1 Erworbene multisystemische Komplex-Erkrankungen/EmKE

Cell-Danger-Response (CDR)/Die Antwort auf Zellgefahren

Prof. Robert K. Naviaux ist Gründer und Co-Direktor des zuvor schon erwähnten Mitochondrial and Metabolic Disease Center/Deutsch: Zentrum für Mitochondriale und Metabolische Erkrankungen an der US-amerikanischen University of California San Diego School of Medicine/UCSD.


Prof. Naviaux und sein Team konnten zeigen, dass die zelluläre Antwort auf umweltbedingte Stressoren trotz unterschiedlichster Auslöser homogen ist.

Diese uniforme Antwort ist die „Cell danger response“, bei der die Mitochondrien – das sind energieproduzierende Organellen in unseren Körperzellen – in festgelegter Reihenfolge drei unterschiedliche Phasen durchlaufen. Die Wucht heutiger Stressoren blockiert diese Abläufe in verschiedenen Stadien, das führt zu der „Unfähigkeit“ auf Zell-, Gewebe- oder Organebene auszuheilen. Diese unvollständig ablaufenden Heilungsprozesse führen, so Prof. Naviaux, zur Entstehung unserer heutigen chronischen Erkrankungen.

„Die Zellgefahrenabwehrreaktion (CDR) ist die evolutionär konservierte Stoffwechselantwort, die Zellen und Wirte vor Schaden schützt. Sie wird durch das Zusammentreffen mit chemischen, physikalischen oder biologischen Bedrohungen ausgelöst, die die zelluläre Kapazität zur Homöostase übersteigen.“ [Ü.d.A.] E/3 Naviaux


Der Zustand der Mitochondrien entscheidet darüber, ob und wie Heilungsprozesse geschehen. Gestresste Mitochondrien, die dauerhaft im Verteidigungs-Modus verbleiben, führen zu chronischen Erkrankungen.Diese Erkenntnisse zur Cell Danger Response sind bahnbrechend und haben das Potenzial, die Sichtweise auf sämtliche chronische Erkrankungen zu revolutionieren.

Die EmKE-typischen „Fehl“steuerungen können als adaptive, bzw. kompensatorische, sinnvolle Notfallstrategie der Mitochondrien auf zu viele und/oder zu starke Einflussfaktoren verstanden werden. Derzeit erforscht Prof. Naviaux mit Hilfe systembiologischer Verfahren Therapie-Optionen, um Fehlsteuerungen und Blockierungen der CDR wieder in physiologische Prozesse zu überführen. Erste Erfolge wurden publiziert.

Mastzellforschung

Die dritte der im vorliegenden Buch vorgestellten Hypothesen für die Entstehung chronischer Erkrankungen liefert die Mastzellforschung. Es gibt frappante Überlappungen zwischen multisystemischen Komplex-Erkrankungen und der sogenannten „Mastzell-Aktivierungs-Erkrankung“. Mastzellen sind weiße Blutkörperchen (Leukozyten). Die Erkenntnis, dass Mastzellen durch ihr nahezu unüberschaubares Wirkspektrum als zentrale Schaltstellen des Immunsystems fungieren, ist noch jung, die Mastzellforschung ist erst in den letzten Jahren zu einem wichtigen interdisziplinären und internationalen Forschungsthema geworden.

Die Corona-Pandemie

Die Fertigstellung dieses Buches steht im Zeichen der durch das Coronavirus SARS-CoV-2 verursachten COVID-19-Pandemie. Im Februar 2020 erhielt die neue Corona-Erkrankung ihren englischen Namen „Coronavirus Disease 2019“/COVID-19. Seit Beginn der Pandemie sind weltweit über eine halbe Million Studien zu COVID-19 veröffentlicht worden.


80 % der Infizierten zeigten moderate oder gar keine Symptome. Doch schon im Laufe des Jahres 2020 entpuppte sich die akute Form der Lungenkrankheit als Multiorgan-Erkrankung. Es kam u.a. zu Entzündungen in den Blutgefäßen, zu neurologischen Erkrankungen wie Enzephalopathien, zu Nierenfunktionsstörungen und zu Magen-Darm-Erkrankungen.

Das Robert-Koch-Institut zählt seit Beginn der Pandemie über 3,7 Millionen nachgewiesene Infektionen mit Sars-CoV-2 in Deutschland. (Stand Juni 2021). Die tatsächliche Gesamtzahl der Infektionen dürfte höher liegen. Weltweit registrierte die WHO bislang mehr als 175 Millionen bestätigte Covid-Fälle.

Das Post-COVID-19-Syndrom

Patienten, die COVID-19-bedingt auf der Intensivstation behandelt wurden, erholen sich nur langsam, leiden unter Langzeitfolgen, einige versterben. Erstaunlicherweise leiden jedoch auch Menschen unter Spätfolgen, die gar keine oder nur moderate akute Symptome hatten, sportlich und jung oder mittleren Alters (zwischen 35 und 49) sind und keine Vorerkrankungen hatten. Während höheres Alter und Vorerkrankungen nachvollziehbare Risiken für den schwereren Verlauf der akuten Infektion darstellen, sind die Vulnerabilitäts-Merkmale für diese unerwarteten, langanhaltenden Manifestationen unklar.

Experten schätzen, dass der Anteil von Patienten mit Langzeitbeschwerden ca. 13 % aller COVID-19-Patienten ausmacht, das entspricht derzeit [Juni 2021] in Deutschland ca. 480.000 und weltweit mehr als 16 Millionen Menschen. Der Frauenanteil überwiegt, auch Kinder sind betroffen.

Im Januar 2021 vermerkte die Weltgesundheitsorganisation/WHO den „Post-COVID-19-Zustand“ (auch, vor allem im englischsprachigen Raum: „Long-Covid-Syndrom“) als neuartige Erkrankung mit dem (Zusatz-)Diagnosecode U09.9 und empfahl, dass alle Patientinnen und Patienten Zugang zu einer Nachsorge haben sollten.


Mit dem Post-COVID-19-Syndrom entsteht vor unseren Augen gerade ein Paradebeispiel einer neuartigen, erworbenen, multisystemischen Komplex-Erkrankung.

Diese Langzeit-Subgruppe ist heterogen. Die üblichen Standard-Untersuchungen zeigen keine Befunde. Post-COVID-19-Patienten berichten über langanhaltende, multisystemische Beschwerden. In Studien werden bis zu 200 Symptome benannt. Darauf ist unsere nach Fachdisziplinen ausgelegte Gesundheitsversorgung nicht ausgelegt. Post-COVID-19-Patienten erleben nun die gleichen Hürden und Hindernisse wie ME/CFS-Patienten: Verharmlosung der Symptome, fehlende Anerkennung, Stigmatisierung (trotz erwiesen COVID-19-Infektion), keine Anlauf- und Beratungsstellen, fehlende Therapieangebote, soziale Isolation und sozialrechtliche Minderversorgung. Behandler sind hilflos, es gibt kein Behandlungskonzept. Die Notfallversorgung ist nicht gewährleistet.


Für ME/CFS-Patienten könnte die Corona-Pandemie zum Game-Changer werden: Geschätzt 2 % aller positiv Getesteten entwickelt ME/CFS. Das entspricht derzeit mindestens 74.000 Betroffenen in Deutschland.In allen führenden Medien wird nun nicht nur über die Corona-Pandemie, sondern auch über die weitverbreitete, aber ignorierte Erkrankung ME/CFS berichtet. Und das Versorgungsdesaster, das nun auch Post-COVID-19-Patienten erleiden, kommt ans Licht.

Oved Amitay, Geschäftsführer der gemeinnützigen US-amerikanischen Interessenvertretung Solve M.E. beschreibt die Situation:

„Schon jetzt sind etwa 2,5 Millionen Amerikaner an ME/CFS erkrankt und COVID-19 ist auf dem besten Weg, diese Zahl zu verdoppeln. Die Finanzierung von Bildung, Forschung und Behandlung rund um Long COVID und damit verbundene postvirale Krankheiten wie ME/CFS ist keine Option, sondern nicht verhandelbar. Die Gesundheit unserer Nation hängt davon ab.“ [Ü.d.A.] E/4 Solve M.E.

Der Handlungsbedarf ist nun nicht mehr zu leugnen. Zu den geschätzt 74.000 Post-Covid-19-ME/CFS Patienten kommen Patienten, die ähnliche (schwerwiegende) Beschwerden haben, aber die ME/CFS-Kriterien nicht vollständig erfüllen. Und je länger die Pandemie andauert, desto mehr Betroffene sind zu erwarten. Die Corona-Pandemie erhöht deutlich die Gesamtzahl der multisystemisch erkrankten Patienten. Das tatsächliche medizinische und wirtschaftliche Ausmaß, z.B. welche Kosten auf die Sozialversicherungs-Systeme zukommen, ist unklar.

Der US-Kongressabgeordnete (und Chefankläger im Amtsenthebungsverfahren gegen Ex-US-Präsident Donald Trump im Februar 2021) Jamie Raskin hat sich erfolgreich für eine millionenschwere Forschungs-Förderung zu postviralen Erkrankungen eingesetzt und erklärte in einer Pressemitteilung in Bezug auf Versäumnisse in der ME/CFS-Forschung:

„Wir stehen vor einer monumental gefährlichen Krise der öffentlichen Gesundheit und müssen alle notwendigen Schritte unternehmen, nicht nur um die Ausbreitung von COVID-19 einzudämmen, sondern auch, um dauerhafte Auswirkungen zu verhindern und zu kontrollieren“ [...] „Wir können nicht zulassen, dass die Zahl der ME/CFS-Fälle aufgrund mangelnder Forschung und mangelnden Verständnisses steigt. Während wir das Coronavirus bekämpfen, wird diese bedeutsame Gesetzgebung uns helfen, auf die verborgene ME/CFS-Gesundheitskrise zu reagieren.“ [Ü.d.A.] E/5 Raskin

In den USA wurden im Dezember 2020 Forschungsgelder in Höhe von 1,15 Milliarden Dollar für die Covid-Langzeitforschung bewilligt, die bis 2024 zur Verfügung stehen.

Das Bundesministerium für Forschung und Bildung lancierte im Mai 2021 die Förderrichtlinie Richtlinie zur Förderung von Forschungsvorhaben zu Spätsymptomen von COVID-19 (Long-Covid). Damit stehen fünf Millionen Euro stehen für interdisziplinäre Forschungsvorhaben zu Spätsymptomen von COVID-19 zur Verfügung. Patienten-Organisationen und Wissenschaftler kritisieren, dass diese Förderung bei weitem nicht ausreicht.

Die Doppelte Krise

Die offensichtliche Corona-Pandemie und die Folge-Pandemie der schwer zu klassifizierenden postviralen Langzeitwirkungen stellen eine doppelte Krise dar. Die Folge-Pandemie der Langzeit-Erkrankungen offenbart, was schon lange existent war, aber ignoriert wurde.


Cluster-Ausbrüche von ME/CFS sind weder neuartig noch historisch selten. Sie wurden häufig beschrieben und wenig untersucht.

Unklar ist unter anderem, ob der Auslöser der ME/CFS-Cluster immer viral war oder auch anderer Natur. Offensichtlich ist jedoch, dass der jeweilige Auslöser bei jedem der historischen Cluster-Ausbrüche auf eine weitverbreitete immunologische, genetische und/oder metabolische Disposition traf, die vulnerabel machte. Was bedeutet das für zukünftige Pandemien?


Es ist an der Zeit, komplexe multisystemische Erkrankungen im Gesundheits-System zu integrieren, statt sie, wie bisher, als Krankheiten zweiter Klasse ins Abseits zu verschieben.Die Pandemie bietet die einmalige Gelegenheit, innovativ und umfassend eine systemmedizinische Neuorientierung zu wagen. Das Risiko, dass Deutschland in Bezug auf multisystemische (Komplex-)Erkrankungen aus kurzfristigen politischen, wirtschaftlichen und/oder standesrechtlichen Erwägungen in alten Strukturen und Denkweisen verharrt, ist jedoch gegeben.

Statistisch inexistent

Erworbene Multisystemische (Komplex-)Erkrankungen gehören nicht zu den sogenannten Seltenen Erkrankungen, sondern betreffen schon jetzt jeweils allein in Deutschland mehrere Hunderttausend Patienten. Insbesondere ME/CFS und MCS werden selten korrekt diagnostiziert und finden keinen Eingang in offizielle behördliche Statistiken. Ein ME/CFS-Register sucht man derzeit in Deutschland noch vergebens, obwohl die Erkrankung seit 1961 von der Weltgesundheits-Organisation/WHO mit Diagnose-Kode gelistet ist. Erst Ende 2020 wurden, unter dem Eindruck der Pandemie, Gelder bereitgestellt, um ein ME/CFS-Register sowie eine Biobank an der Charité Berlin und der TU München aufzubauen. Es gibt zurzeit weder ein Register zu Long-Covid noch zu Covid-bedingtem ME/CFS, das ergab die Antwort der Bundesregierung im April 2021 auf eine Kleine Anfrage der Grünen.


Dieses Vorgehen folgt dem seit Jahrzehnten bekannten Muster im Umgang mit den EmKE: Wer erkrankt und wie viele bleibt ebenso unbeantwortet wie weitergehende epidemiologische Fragestellungen.

Die Diagnosekodes insbesondere für ME/CFS und für MCS werden in Deutschland weder von Haus- noch von Fachärzten auch nur annähernd angemessen vergeben, Kranken- und Rentenkassen können keine Auskunft geben. In behördlichen Erhebungen, z. B. des Statistischen Bundesamtes, des RKI oder des Bundesgesundheitsamtes sucht man diese Erkrankungen vergebens. Sozioökonomische und geschlechtsspezifische Faktoren, Prävalenz und Versorgungslage sind unbekannt, ebenso die Suizidraten. Auch Aussagen der Bundesregierung tragen nicht zur Aufklärung bei. Genauso unklar sind die direkten und indirekten Krankheitskosten. FMS und PTBS sind zumindest als Diagnosebegriffe bekannt, belastbare Daten fehlen dennoch auch hier in vielerlei Hinsicht.


Damit sind multisystemische (Komplex-)Erkrankungen – in unterschiedlichem Ausmaß – scheinbar inexistent.Für multisystemische (Komplex-)Erkrankungen besteht durch die Daten-Lücke eine Wahrnehmungs-Lücke und folglich eine Versorgungslücke.

Es gibt keine Zertifizierung der Bundesärztekammer für EmKE-Experten, weil es in der etablierten Medizin, wie sie in den Hochschulen vermittelt wird, weder diese Krankheits-Kategorie noch übergreifende Konzepte gibt. Die Lehrbücher schweigen, Medizinstudenten werden, wenn überhaupt nur rudimentär aufgeklärt. Wer betroffen ist, muss sich auch im Jahr 2021 verlässliche Informationen mühsam zusammensuchen.


Angesichts der derzeit täglichen Berichterstattung zur Mortalität mit oder durch COVID-19 ergibt sich für multisystemische Erkrankungen die bittere Schlussfolgerung: Keine Mortalität – keine Berichterstattung.

Biomedizinische Forschung

Um über Erworbene multisystemische Erkrankungen aufzuklären, müssen komplexe Zusammenhänge nachprüfbar (z. B. durch Verweise auf Studien) geschildert werden. Das ist nicht immer leserfreundlich – aber notwendig. Nur Fakten können überzeugen.


Nur eine medizinische und soziale Versorgung, die auf aktuellen systemwissenschaftlichen Erkenntnissen beruht, kann den heutigen multisystemischen Erkrankungen gerecht werden.

Das vorliegende Buch basiert auf wissenschaftlichen, biochemischen Grundlagen, die in aktuellen Studien in renommierten internationalen Fachzeitschriften veröffentlicht wurden.

Anders als bei Beiträgen von Wissenschaftlern, die eigene Forschungsergebnisse präsentieren und einordnen, ist dieses Buch ein bürgerwissenschaftliches Projekt, das vorhandenes, erforschtes Wissen sammelt und sowohl interdisziplinär wie auch transdisziplinär übergreifend miteinander in Beziehung setzt. Wissenschaftliche Quellen spielen also eine bedeutende Rolle, sie werden daher ausführlicher belegt und/oder zitiert als sonst üblich.

Die meisten zitierten Studien unterlagen einem sogenannten Peer-Review-Verfahren, d.h. sie wurden vor der Veröffentlichung von Experten des gleichen Fachgebietes gegengeprüft. PubMed® ist eine englischsprachige medizinische Meta-Datenbank, die biomedizinische Artikel der National Library of Medicine, NLM (auf Deutsch: Nationale Medizinische Bibliothek der Vereinigten Staaten) veröffentlicht. Anhand der Quellenangaben im Anhang können die meisten Studien kostenfrei eingesehen und ggf. heruntergeladen werden.

Die anfänglich eigene Betroffenheit, der Kontakt zu vielen schwer Erkrankten und zu mehreren Selbsthilfegruppen sowie die auf diesem Wege erlebte konkrete Not fließen als subjektive Erfahrungen der Realität in die Darstellung ein. Diese erlebte Realität spiegelt sich in den vorgelegten wissenschaftlichen internationalen Beiträgen – nicht jedoch in den deutschen behördlichen Statistiken und schon gar nicht in der medizinischen und sozialen Versorgung. Bei Behörden und Versorgungsdienstleistern sprechen wir über Leerstellen auf Basis vollkommen unzureichender, bzw. veralteter Informations- und Wissensgrundlagen. Berichte aus den Selbsthilfegruppen und Fallbeispiele zeigen jedoch, dass es diagnoseübergreifend mehrere effektive therapeutische Grundpfeiler gibt. Viele Patienten berichten, dass die (selbst organisierte und bezahlte) personalisierte Versorgung zu moderater bis massiver Verbesserung der Lebensqualität führte.

1 531,18 ₽
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878 стр. 48 иллюстраций
ISBN:
9783754949412
Издатель:
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