Читать книгу: «Regenschatten»

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© 2020 Kommode Verlag, Zürich

2. Auflage

Der Kommode Verlag wird vom Bundesamt für Kultur mit einer Förderprämie für die Jahre 2019–2020 unterstützt.

Der Verlag dankt der Fachstelle Kultur des Kanton Zürich und der Dienstabteilung Kultur der Stadt Zürich für die Druckkostenbeiträge.


Die Autorin dankt der C. und A. Kupper-Stiftung und dem Bundesamt für Kultur, ohne deren finanzielle Unterstützung die Arbeit an diesem Roman nicht möglich gewesen wäre.

Lektorat: Matthias Jügler

Gestaltung und Satz: Anneka Beatty

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ISBN 978-3-905574-90-6

eISBN 978-3-905574-90-6

Kommode Verlag GmbH, Zürich

www.kommode-verlag.ch

Seraina Kobler

Regenschatten

Roman


Für meine Kinder

»Alles ist Wechselwirkung.«

Alexander von Humboldt,

Forschungsreisender

Morgen

Mittag

Abend

Nacht

Dämmerung

Ein Jahr später

Morgen

Die Stare kommen sonst immer im Herbst. In riesigen, synchron flatternden Wolken, die einen von den Haarspitzen bis in den kleinen Zeh elektrisieren, wenn man das Glück hat, in ihrer Nähe zu stehen. Eine Wolke, zusammengesetzt aus einer unüberblickbaren Summe willkürlich getroffener Entscheidungen. Jeder Richtungswechsel dem Zufall überlassen. Für jeden Einzelnen im Schwarm von Bedeutung und nicht anzweifelbar. Man muss nur den anderen folgen, nicht den Bruchteil einer Sekunde lang überlegen.

Ein tiefblauer Novemberhimmel spannt sich über die Stadt. Wolkenlos, keine Orientierung bietend. Immer gleich. Wie die Tage, die sich hinziehen. Morgens wird es schon spät hell. Aber mittags baden sie noch immer in den zu warmen Seen und Flüssen. Von der Ostsee bis zur Adria haben die Blumen wieder zu blühen begonnen. Ich hatte gehofft, das alles wäre nur ein Traum, dessen Spuren verblassen, je länger man wach ist, so wie das Glühen der Dämmerung mit dem Aufgehen der Sonne verschwindet. Doch dann sehe ich den Wald. Baumskelette beugen sich im Wind. Noch immer dampft und raucht er, wie in den Tropen.

Das ansteigende Pfeifen des Teekessels bricht das Schweigen, das sich über das verlassene Wohnhaus gelegt hat. Ich drehe rasch den Gaskocher ab und gieße kochendes Wasser in die Thermoskanne. Sie haben die Straße vom Stromnetz getrennt. Wegen der verkohlten Leitungen und der Brände, die unterirdisch weiter durch die Torfschicht schleichen. Sie sagen, man könne erst wieder zurück, wenn die Schneisen breit genug und die Wohnungen wieder sicher sind. Doch sie wissen nicht, dass Sicherheit nur eine Konstruktion in ihren Köpfen ist, die von einem Augenblick auf den nächsten in sich zusammenfallen kann wie Wolkenkratzer, in die ein Linienflugzeug gelenkt wurde.

Ich sitze am Fenster. Warte darauf, dass die Stare kommen. Warte, und halte mich an der Tasse fest, in der zerknitterte Kamillen schwimmen. Manchmal denke ich, es hätte mir von Beginn an klar sein müssen. Wenn ich meine eigene Geschichte besser gekannt hätte, näher bei mir selbst gewesen wäre. Alle relevanten Ereignisse in den richtigen Zusammenhang gestellt hätte. Und dann denke ich wieder, dass ich viel mehr so sein sollte wie die Stare.

David und ich hatten keinen Alltag zusammen. Sein Verschwinden reißt kein Loch in meine Gewohnheiten. Es ist nicht so wie bei einem alten Ehepaar, wo die Frau noch immer für den Mann ein Gedeck auflegt.

Gabel, Teller, Messer und eine Serviette. Als wäre er nur etwas verspätet. Weil sie es so gewohnt ist. Und weil mit dem anderen auch ein Teil von ihr selbst weggegangen ist und sie sich davor fürchtet, dass ihr Leben ohne seine Erinnerung gar nie wirklich stattgefunden hätte. Nein. So ist es nicht.

An einem Sonntag im April multiplizierte sich meine Welt mit einer anderen, von der ich mit einem Mal glaubte, mein ganzes bisheriges Leben lang getrennt gewesen zu sein. Wir saßen da, in einem schummrigen Wohnzimmer auf einer speckigen Couch und rauchten unseren letzten Tabak, der beim Anzünden auf den Tisch rieselte. Wir tranken Weißwein vom 24-Stunden-Laden neben dem Hauptbahnhof, der süßliche Geschmack blieb an unseren Gaumen kleben. Doch wahrscheinlich merkte ich das in diesem Augenblick nicht, sondern erst später, als ich mit klopfendem Schädel erwachte und hoffte, dass er noch da sein würde. Wir hörten Musik, das gleiche Lied – immer und immer wieder, als wollten wir verhindern, dass die Zeit weiterlief. Jetzt wo wir uns endlich gefunden hatten.

Wir sprangen über die Sätze, beendeten sie füreinander, dass es bald egal schien, von wem sie kamen. Nachdem wir eine zweite Flasche geleert hatten, waren wir davon überzeugt, unsere Gedanken auch ohne Worte tauschen zu können. Als wir irgendwann mit ineinander gefalteten Armen und Beinen auf dem schmalen Sofa einschliefen, hätte kein Blatt Papier zwischen uns gepasst. Mehr ist nicht passiert, in dieser ersten Nacht. Ich vergrub mein Gesicht in seinen Haaren, ignorierte dabei den schwankenden Boden und sog den Duft kalter Nachtluft ein, der unter dem Rauch verborgen lag. Bevor ich wegdämmerte, hörte ich das Geräusch von Regen, der auf die frisch ausgetriebenen Blätter im Hof fiel.

Nach dem Frühstück, das aus schwarzem Kaffee und ein paar gebratenen Eiern bestand, dem einzigen, was die Küche in Davids WG hergab, stieg er zu seinen Freunden in einen Transporter. Einer von ihnen hatte einen verwilderten Garten am Stadtrand übernommen und sie wollten ihm an diesem Wochenende bei den anstehenden Frühlingsarbeiten unter die Arme greifen. Anna, hörte ich David rufen. Ich drehte mich um. Nicht zu schnell, sondern bedächtig, wie man das tut, wenn man weiß, dass man von jemandem beobachtet wird, der einem wichtig ist. Er kurbelte die Scheibe herunter und winkte zum Abschied. Mit glühenden Wangen schickte ich ihm eine Kusshand hinterher und sah zu, wie der Wagen aus dem Blickfeld verschwand. Dann suchte ich mein Fahrrad, das ich in der Nacht an eine Laterne geschlossen hatte und fuhr über nass glänzende Straßen nach Hause. Die Regenwolken hatten sich wieder verzogen. Was blieb, war Davids Geruch – an meiner Hand, meinem Pullover, überall.

In der Ferne erhoben sich die Berggipfel, blütenweiß wie die Schwäne, die überfüttert von dem harten Brot, den Nussstangen, der Bratwurst und allem anderen, was es an den Buden am Ufer zu kaufen gab, in kleinen Kolonien im Hafenbecken umhertrieben.

Ein Alpenlandmotiv wie auf der Postkarte, so makellos, dass es an jedem anderen Morgen übertrieben kitschig gewirkt hätte. Ich wollte das beschwingte Gefühl noch etwas länger auskosten, nahm einen Umweg und fuhr am Bellevue nicht geradeaus den Hang hinauf, sondern bog links in den Limmatquai ein. Das Licht der Sonne war bereits bis über die Dächer der Altstadthäuser gestiegen, welche die gegenüberliegende Seite des Flusses säumten. Es wurde rasch so warm, dass ich kurz anhielt, um Jacke und Pullover in den Rucksack zu stopfen. Vor mir saßen die Leute an kleinen Bistrotischen aneinandergereiht. Ihre Jacken hingen über den Rückenlehnen der Stühle und sie trugen, vielleicht das erste Mal in diesem Jahr, offene Schuhe an den noch bleichen Füssen. Ich dachte mir, dass sie doch eigentlich singen oder wenigstens vergnügt summen müssten. Aber stattdessen saßen sie unbeeindruckt vor ihren kunstvoll in die Crema des Kaffees geschäumten Milchblumen, als wäre nichts Besonderes geschehen.

Am Abend zuvor hatte ich Spätschicht im Rivera gehabt, einer Bar an der Sihl, die man nur fand, wenn man sie kannte. Ein gusseisernes Tor verschloss tagsüber den unscheinbaren Eingang in den Hinterhof und die Treppe, die durch verwinkelte unterirdische Gänge in das Gewölbe führte. Bald nach der letzten Runde drehte ich die im Gemäuer versteckten Neonröhren voll auf. Mit einem Schlag war es taghell. Die blinden Stellen auf der Spiegelwand wurden sichtbar. Jetzt fiel auf, dass es keine Fenster gab, sondern nur samtene Vorhänge, die in dem grellen Licht ihre dämpfende Wirkung verloren. Die Vorstellung war vorbei. Ich wischte die dickbauchigen Flaschen ab, in denen wir die Essenzen für die unterschiedlichen Mixturen aufbewahrten. Sie enthielten nur Wasser, Alkohol und eine Grundzutat. Zitronengras, Bergamotte, Rosenholz, Ingwer, Zimt. Nachdem wir die letzten Gäste verabschiedet hatten, kippte ich das Eis aus dem silbernen Kübel in den Schüttstein und Oskar begann, den Umsatz aus der Kasse zu zählen. Als sich die Geldscheine in ordentlichen Häufchen vor ihm stapelten, klingelte sein Telefon.

Er fragte mich, ob es in Ordnung sei, wenn noch ein Freund reinschaue. Ich war ziemlich müde, aber Stella bestand darauf, dass wir den Laden nur zu zweit dicht machten. Oskar war mir zuliebe auch schon länger geblieben. Ich zuckte mit den Schultern. Dann stellte ich die Flaschen zurück auf die Tabletts aus schwarzem Holz. Stella hatte, als sie das Rivera übernahm, alles in einem kräftigen Graublau übermalt. Sie inszenierte eine nahezu perfekte Illusion. Die kniehohen, mit Messing verbrämten Tische harmonierten mit den antiken Sesseln, die mit Plüsch, Tweed und glänzendem Leder bezogen waren. Es war zwar gewollt, dass die Bar mit ihren vielen Schubladen und den elfenbeinfarbenen Etiketten, den dunklen Flaschen, den durchsichtigen Gläsern mit Rinden und Harzen, Pflanzenpulvern und getrockneten Blüten einer Apotheke aus dem vergangenen Jahrhundert glich. Dennoch wirkte es nicht bemüht. Das lag vielleicht daran, dass keines der vielen Utensilien je ohne Funktion blieb. Wir sollten nicht einfach Getränke kultivieren, sondern etwas, was kaum mehr zu finden war: Sorgfalt, mit einer Prise Magie. Obwohl das Rivera in keinem Stadtführer je erwähnt wurde und seit Jahren unter dem Radar der Veranstaltungskalender flog, bildete sich an den Wochenenden eine Warteschlange bis beinahe zum Busbahnhof.

Vorsichtig griff ich nach einer der dänischen Keramikvasen am Eingang. Efeuranken und üppige Ranunkeln wippten, als ich sie hinter die Bar neben den Mörser und Stößel aus rauem Granit stellte. Für einen Augenblick meinte ich, Davids Gesicht im Profil schon einmal gesehen zu haben. Das konnte aber auch nur an der Wollmütze liegen, unter der seine Haare hervorschauten. Erst später an diesem Abend würde mir auffallen, dass seine Augen leuchtend grün waren und Punkte hatten, die in der gleichen Farbe schimmerten wie der schwere Whisky, den wir als Basis benutzten. Nachdem wir die Kelche für den Champagner, die Kristallgläser und Karaffen alle abgewaschen hatten und die Barhocker umgekehrt auf dem sauberen Tresen standen, begann Oskar von seiner Theorie zu erzählen. Ich kannte sie bereits und Davids Reaktion ließ darauf schließen, dass es ihm ebenso erging. Immerhin waren sie im gleichen Bergdorf aufgewachsen – und seitdem Freunde. Oskar hatte das Betriebskonzept so sehr verinnerlicht, dass er der festen Überzeugung war, nicht einfach ein Barkeeper zu sein, sondern ein Mixologe, eine Art Alchemist für Stimmungen. Vielleicht wollte er den unterbezahlten Job im Nachtleben mit Bedeutung aufladen, damit er nicht darüber nachdenken musste, was er sonst noch mit seinem Leben anfangen könnte. Vielleicht glaubte er aber auch wirklich daran.

Stellt euch vor, sagte Oskar, man könnte Gefühle destillieren. Es knackte, als er von einem großen Block Eis abschlug. Stellt euch vor, wie sie sich beim Einkochen vermischen und alles Unnötige verdampft. Während er das sagte, ließ er seine Hände durch die Luft fahren, als würde er einen Hefeteig kneten. Es bliebe nur die reine Emotion übrig.

Je nachdem, sagte David, wäre das der heilige Gral oder die Büchse der Pandora. Dann kostete er von dem roséfarbenen Getränk, das Oskar ihm hingestellt hatte. Oder beides in einem, sagte er und schob mir das Glas zu. Ich nippte daran und hielt es prüfend in die Höhe.

Gin, sagte ich dann. Erdbeere, Kardamon, Piment und ein paar Flitter Gold. Eine perfekt geschnittene Limette schwamm auf dem Eis, so dass sich das Zitrusaroma mit der Kälte mischte und eine Art Filter bildete, durch den der Rest des Cocktails hindurch floss. Dadurch veränderte sich der prickelnde Geschmack im Laufe nur eines einzigen Schluckes, noch bevor er von den Knospen im Gaumen richtig lokalisiert werden konnte. Schmeckt nach Euphorie, sagte David.

Das liegt an den Erdbeeren und dem Gin, sagte ich und trank rasch einen weiteren Schluck, um die Verwirrung zu kaschieren, die er in mir auslöste. Ich musste mir Mühe geben, David nicht die ganze Zeit über anzuschauen, sondern nur dann, wenn er etwas sagte oder sich eine neue Zigarette ansteckte. Ich war froh, dass Oskar die Gelegenheit ergriff, um eine seiner Bargeschichten zum Besten zu geben. Aus einer Zeit, in der eine Kalorie Brot mehr kostete, als eine Kalorie Gin. Und besoffene Mütter ihre Töchter erwürgten, für ein paar Gläser. Er drehte sich um und suchte nach einer neuen Basis. Diesmal entschied er sich für Wodka, dem er als Oberton arktische Hibiskusblüte verpasste. Sie waren der letzte Schrei, seit Gärtner auf Spitzbergen die heißen Quellen anzapften, um damit Beete und Gewächshäuser zu temperieren. Jetzt wuchsen sogar nur wenig südlich vom Polarkreis Bananen, Zitronengras und Koriander. Oskars norwegische Großmutter schickte ihm regelmäßig Pakete, deren Inhalt nun zu den kostbarsten Ingredienzien auf unserer Karte zählt. Was denkt ihr? Er nahm drei Reagenzgläser aus dem Eisfach, die an der Luft sofort beschlugen. Gibt es ein Recht auf Rausch?

Es gab bestimmt viele Männer, die sahen besser aus als David. Doch vielleicht war es genau dieses Unperfekte. Die zu großen Zähne verliehen seinem Mund etwas Kindliches, was einen Kontrast zu dem dichten Bart bildete, der ihn umrahmte. Seine sehnigen Unterarme gingen in tellergroße Hände über. Und dann war da noch etwas, was über Äußerlichkeiten hinausging. Ich kann es kaum beschreiben. Noch immer nicht. Ich weiß nur, dass ich mich sofort zuhause fühlte. In dem, was ich in ihm zu sehen glaubte. In seiner Stimme. Seiner Erinnerung. Sie drangen durch mich hindurch, als wäre ich von einem Moment auf den anderen komplett durchlässig geworden.

Vielleicht, sagte David, brauchen wir den Rausch, um die leeren Gesichter in der Straßenbahn ertragen zu können. Das Gefühl der Verbundenheit aus den langen Nächten in die Mitte der Gesellschaft zu tragen – vielleicht ist das tatsächlich die einzige Möglichkeit, etwas zu verändern. Oder nicht?

Wir haben einfach keine echten Probleme mehr, sagte Oskar. Cheers. Darauf trinken wir! Er reichte uns die Röhrchen. Wir leerten sie in einem Zug. Der Wodka war ölig auf der Zunge. Brechreiz stieg in mir auf. Rasch schob ich die gezuckerte Hibiskusblüte in den Mund und kaute auf ihr herum, worauf Oskar warnte, wohl nicht ganz ernst gemeint, ich solle mich hüten. Die Blüte stehe in manchen Kulturen für Fruchtbarkeit – und Fernweh. Erst viele Slings später verabschiedeten wir uns von Oskar, der noch weiterziehen wollte. Als David mich endlich fragte, ob ich noch zu ihm mitkommen wolle, erfasste mich eine Welle aus absolutem Glück, die man klarer nicht hätte destillieren können.

Beim Central begannen die Serpentinen, die zum Zürichberg hinaufführten. Ich wohnte damals noch nicht lange in der Stadt und in den ersten Wochen schaffte ich den Heimweg kaum, ohne absteigen zu müssen. Mittlerweile hatte ich mich an die Steigung gewöhnt, auch wenn sie an diesem Tag anstrengender als sonst erschien. In meiner Wohnung angekommen, streifte ich als erstes die feuchten Kleider vom Leib. Dann spülte ich eine Aspirin mit Leitungswasser herunter und drehte den Radioapparat auf. Es lief irgendein Popsong im Radio, den ich schon hundertmal gehört hatte, aber in diesem Moment plötzlich gut fand. Ich beschloss, den versäumten Schlaf nicht nachzuholen, sondern die letzten Wände fertig zu streichen.

Viele Male versenkte ich die Malerrolle im Eimer, drückte die überschüssige Farbe durch das Netz und schaute zu, wie die Fäden wieder im Weiß aufgingen. Dann rollte ich eine Bahn Farbe von der Decke bis zur Leiste runter, die ich mit Klebeband abgedeckt hatte. Dabei übermalte ich die Jahre, die in den Wänden hockten. Bahn um Bahn verschwanden die gespachtelten Löcher, an deren Rändern der Gips abbröckelte, die hellen Flecken, Leerstellen. Von denen jede einzelne ihre Geschichte zu erzählen hätte. Ich stellte mir vor, wie hier früher gestritten und geliebt worden war und fragte mich, ob diese Dinge in Räumen gespeichert werden können.

Ich hatte die Wohnung in der Nähe des Zoos einer glücklichen Fügung zu verdanken. Hätte sich der Sohn meiner Vormieterin nicht an jenem Abend im Rivera bei mir an der Bar betrunken, ich säße wohl noch immer in einem überteuerten Provisorium fest, zusammen mit Leuten, die jederzeit bereit waren, den Inhalt meiner im Speicher eingelagerten Umzugskisten für die nächste Line zu verkaufen.

Als ich mit dem Streichen fertig war, roch es nach Neuanfang. Ich schloss die Fensterläden, weil sich die Räume unter dem Dach schnell aufheizten und schlüpfte aus dem alten Bikini, den ich für die Arbeiten getragen hatte. Unter dem heißen Wasserstrahl – ich schaffte es auch bei der größten Hitze nicht, kalt zu duschen – schloss ich die Augen und versuchte, die letzten Reste von Davids Geruch aufzusaugen. Dann griff ich nach dem Stück Seife, das an einer Schnur hing. Als ich einige Spritzer Farbe wegrubbelte, bemerkte ich eine weißlich-gelbe Flüssigkeit, die aus meiner Brustwarze trat. Nicht viel, nur zwei oder drei Tropfen. Fieberhaft versuchte ich mich zu erinnern, wie viele Wochen seit der letzten Blutung vergangen waren.

Ich stieg aus der Badewanne und öffnete die Dachluke, damit der Dampf abziehen konnte. Ohne mich abzutrocknen, stand ich vor dem hohen Spiegel, der an den Rändern vom heißen Dampf beschlagen war. Das Fläschchen mit dem Moor-Lavendel-Pflegeöl wäre fast auf die Fliesen gefallen, als ich es öffnete. Ich atmete tief durch. Konzentrierte mich auf die Stellen, wo mein Gewicht Umrisse auf den Boden presste, fußförmige Inseln der Sicherheit. Dann massierte ich das Öl ein. Schimmerten die sich verästelnden Äderchen um die Brüste dunkler als sonst oder bildete ich mir das nur ein? Bei meiner hellen, fast durchscheinenden Haut war das schwer zu sagen. Bis auf die Rötungen, die von der Dusche kamen und dem gläsernen Blick, der vom Schlafmangel herrührte, konnte ich nichts Ungewöhnliches feststellen. Gesicht und Arme waren mit unzähligen Sommersprossen besprenkelt. Die widerspenstigen Haare fielen noch in nassen Wellen über die Schultern. Der dichte Schopf war das Erste, was meine Mutter Karlina damals von mir gesehen hatte, als ich nach der Geburt dösend auf ihrem Bauch lag, der zwar leer, aber noch immer geschwollen war. Seit einiger Zeit entdeckte ich Teile von ihrem Körper an meinem. Und dann fragte ich mich, ob mit dem Mutterbauch und den Mutterhüften auch alles andere an mich überginge. Warum mich noch immer ein schlechtes Gewissen überkam, wenn ich an sie dachte, konnte ich mir nach allem, was passiert war, rein rational nicht erklären. Ich fuhr dem Knöchel entlang hinunter über die kräftige Hornhaut bis zu den Zehen.

Meine Füße waren ganz anders als ihre. Klein und zierlich. Manchmal stellte ich mir vor, wie sie den Boden mit dem Himmel verbinden. Dafür brauchte es weder Schwingen noch Flügel. Sondern einfach nur ein Paar Füße.

Im Wartezimmer der Frauenärztin reihten sich stabile Stühle mit ungewöhnlich großen Sitzflächen aneinander. Ich war froh darüber und wählte einen Platz möglichst weit von den anderen Wartenden entfernt. Als ich nach einer der Illustrierten griff, hätte ich beinahe den Krug mit Wasser umgeworfen, der zwischen Plastikbechern und Gesundheitsbroschüren stand. Obwohl ich Worte las, fühlte ich mich außerstande, sie zu etwas zusammenzufügen, das einen Sinn ergab. Die anderen Patientinnen blickten zwischendurch seufzend auf die Uhr oder klopften nervös mit den Füßen an das Stuhlbein, als würde die Zeit so schneller vergehen. Ich tat, als wäre ich in einen Artikel vertieft, bis mein Blick tatsächlich an einer Fotografie hängen blieb. Sie zeigte klares Wasser, in dem sich die uralten Gesichter von zerfurchten Felsen spiegelten.

Der größte unterirdische See der Welt befindet sich unter einer Wüste, bedeckt von unfruchtbarem Sand und liegt sechsundsechzig Meter tief unter der Erdoberfläche in einer Kammer. Sie ist so groß, dass drei Jumbojets in ihr Platz finden würden. Als Forscher sie entdeckten, sahen sie in eine Welt, unberührt vielleicht seit Jahrmillionen. Sie stiegen in Schutzanzüge und stülpten sich Helme über die Köpfe. Dann tauchten sie, so tief sie konnten. Und als sie nicht mehr tiefer konnten, gab es noch immer dunkles, undurchsichtiges Wasser unter ihnen. Ich wünschte mir in diesem Moment inständig, dass der Apparat ebenfalls nichts finden würde, nicht im See unter der Wüste, sondern in meinem Körper. Dass der zweite blassrosa Strich auf dem Plastikstäbchen ein Irrtum war.

Die Metallstützen pressten meine Beine weit auseinander. Nachdem die Frauenärztin den Muttermund untersucht hatte, schmierte sie Gel auf die steril verpackte Sonde. Der Stab drückte unangenehm auf meine Blase. Ich sah nicht auf den Bildschirm des Ultraschallgerätes. Die Ärztin hatte mir davon abgeraten, wenn ich mir nicht sicher sei, ob ich das Kind auch wirklich bekommen wolle. Sie runzelte die Stirn. Drückte einen Knopf. Für einen winzigen Augenblick nur sah ich auf das trichterförmige Bild vor schwarzem Hintergrund. Ich konnte mir wenig vorstellen unter dem, was auf dem Monitor sichtbar wurde. Aber es bewegte sich, es pochte. Während ich mir mit einem Papiertuch die Reste des Gels wegwischte, dachte ich an das Pochen unter meiner Bauchdecke. Die Ärztin blickte in ihre Mappe und fragte nach dem Vater des Kindes. Als ich keine Antwort gab, reichte sie mir die Karte einer Beratungsstelle. Sie schob sich die Brille in die Haare, sah mir in die Augen und sagte, dass das einzig und allein meine Entscheidung sei. Dann kritzelte sie etwas auf ihren Rezeptblock, riss den Zettel ab und reichte ihn mir über den Tisch. Folsäure, sagte sie. Für alle Fälle.

Kurz darauf steuerte ich den Kiosk zuunterst im verwaschenen Hochhaus am Fluss an. Als ich gerade eine Zigarette ansteckte, fielen mir all die Kinderwagen auf, die durch die großen Glastüren in die Einkaufspassage gestoßen wurden. Fahrende Bettchen, vor denen mit Sternen, Tupfen oder Monden bedruckte Tücher hingen, um die schlafenden Säuglinge vor fremden Blicken zu schützen. Ich stellte mir vor, wie sie die kleinen Händchen im milchwarmen Schlaf von sich streckten und sich hinter den noch verquollenen Augenlidern ins Leben träumten.

Lass uns in die Berge fahren, sagte David einige Wochen später mit noch vom Schlaf verklebten Augen. Es war so heiß, dass sich unsere Körper von den Rändern her aufzulösen schienen. Wer konnte, war in die Höhe geflüchtet, wo Wasser aus dem Fels quoll, weg von der aufgeheizten Erdoberfläche in der Stadt, dorthin, wo es weniger versiegelten Asphalt gab, der die Sonnenstrahlen absorbierte und es in der Nacht keine Laken aus dem Gefrierfach brauchte, um ein bisschen schlafen zu können. Durch die geschlossenen Fensterläden fiel Licht, das von den Lamellen zerschnitten wurde. Mit den Fingerspitzen zeichnete ich die Streifen nach, die es auf Davids Körper warf. Über das hervorstehende Schlüsselbein, das ihm etwas Verletzliches verlieh und den Mondstein, der weiss irisierend an einem Bändchen um seinen Hals baumelte. Das er kaum je abnahm, seit er es von seiner Schwester Lena geschenkt bekommen hatte.

Ich stellte mir Lippen vor, die Buchstaben formen, die sich zu dem Satz verbinden: Ich bin schwanger. Doch da war nur dieses flaue Gefühl, das sich zuerst in der Magengegend ausgebreitet hatte und von dort ausgehend meinen ganzen Körper besiedelte. Viel Zeit blieb nicht. Interruptio. Abruptio. Abort. Nach dem Wochenende musste ich mich entscheiden. Eine Konfliktschwangerschaft hatten sie es in der Beratungsstelle des Krankenhauses genannt. Das Gesuch war bereits aufgesetzt, doch an mir nagten Zweifel. Ich lebte in einem der wohlhabendsten Länder der Erde. Viele bekamen mit achtundzwanzig ein Kind. Nicht unbedingt in meinem Freundeskreis, wo man in dem Alter zwischen Techno-Festivals in temporären Wüsten-Städten, schamanischen Ayahuasca-Ritualen in Schwitzhütten und Frischsaft-Detox-Retreats auf Koh Phangan hin und her jettete und gleichzeitig möglichst noch mit einem grünen Start-up die Welt rettete, aber an anderen Orten schon. Eigentlich gab es nur einen richtigen Grund: Das Kind war nicht von David.

Beim Aufstehen wickelte ich mich rasch in ein Tuch, das ich schon am Vorabend wie zufällig neben dem Bett hatte liegen lassen. Ich befürchtete, David könnten die vollen Brüste auffallen. Oder die Wölbung am Bauch, die weiter wuchs, obwohl ich täglich Mahlzeiten ausfallen ließ. Sollte er denken, ich würde mich nackt vor ihm schämen. Dann fischte ich den Rucksack aus dem obersten Fach meines Kleiderschranks und überlegte, was alles mit sollte. Früher liebte ich es, allein durch den Wald zu ziehen. Jedes Mal hatte ich das Gefühl, eine heilige Halle zu betreten. Es brauchte dafür keinen Sandstein, kein geweihtes Wasser und auch keine Statuetten. Sondern einfach nur hohe Stämme, die sich gerade aneinanderreihen. Weit oben neigten sich die Kronen der Bäume einander zu und die Blätter bildeten ein natürliches Gewölbe, unter dem ich mich aufgehoben fühlte. Aber in den letzten Jahren war ich kaum mehr dazu gekommen. Während der paar Semester, in denen ich Biologie studiert hatte, beschäftigte ich mich zwar durchaus mit verschiedenen Ökosystemen, aber eben anders. Dann war da der Umzug, die Arbeit im Rivera. Und irgendwann haben mich die Klubs jedes Wochenende aufgesogen und erst am Montag mit Glitzer im Haar wieder ausgespuckt.

Wenn ich danach mit Nachwehen wie Schwindelgefühlen, einer depressiven Verstimmung und Übelkeit im Bett lag, blätterte ich in den Katalogen. Ich stellte mir vor, was ich brauchen würde, um mit nur einem Rucksack als Gepäck den Kontinent abzulaufen. Gewissenhaft wog ich die Vor- und Nachteile von Gaskochern gegenüber Benzinern ab. Verglich das Gewicht von Daunenschlafsäcken, die mit Federn von artgerecht gehaltenen Gänsen aus kleinen osteuropäischen Bauernhöfen gestopft waren, mit dem von Kunstfasern und suchte mir nach dem Zwiebelprinzip die richtige Kleidung aus Merinowolle, Faserpelz und recyclebarem Isolationsmaterial zusammen. Manchmal bestellte ich tatsächlich das eine oder andere. Und wenn der Postbote ein paar Tage später die Pakete vor die Haustür stellte, hatte ich im ersten Moment schon wieder vergessen, was darin sein könnte.

So war ich zu dem Schlafsack, der ultraleichten Matte und den anderen Dingen wie der Edelstahl-Thermoskanne, einer winzig kleinen Taschenapotheke oder der hochfunktionalen Regenjacke gekommen, die ich bislang eher gehortet hatte, als sie wirklich zu benutzen und nun mit einer gewissen Genugtuung in den Rucksack packte. David hatte sich in der Zwischenzeit ebenfalls angezogen und die zweite Kanne Kaffee blubberte gerade auf dem Herd, als ich ihm sagte, dass ich nun fertig sei und wir los könnten. Wenig später saßen wir in seinem ratternden Bus, der eher an eine Wellblechhütte auf vier Rädern erinnerte, als an ein Fahrzeug. Tatsächlich war David viel damit unterwegs. Manchmal fuhr er am Abend einfach los, um am nächsten Morgen neben einem rauschenden Wasserfall aufzuwachen, bevor er wieder zurück zur Arbeit fuhr. Im Sommer nach Lenas Tod hatte er ganz im Bus gelebt. Nach einem kurzen Halt in seiner Wohnung hatten wir alles beisammen, was wir glaubten, für die zwei Tage auf dem Berg zu brauchen. Wir fuhren auf der Autobahn, sahen den See, passierten die Fähre und die zwei bewaldeten Inseln, wo glänzende Motorboote vor Anker lagen, deren Besitzer sich auf dem sanft schaukelnden Bug liegend bräunten, oder in der Strandbar saßen und frittierte Pangasiusfilets aus asiatischen Aquaparks mit vorgeschnittenem Eisbergsalat an dickflüssiger Fertigsauce aßen.

Als wir in eine breite Ebene einbogen, änderte sich nicht nur die Landschaft, die nun von flachen Feldern geprägt wurde, sondern auch die Überbauungen. Verwaschene Wohnblöcke mit Wänden aus Beton, die aussahen, als wären sie von einem schimmelfarbenen Ausschlag bedeckt, lugten zwischen den schroffen Felswänden hervor, die an uns vorbeiflogen. Es sei doch gut, sagte David. Wieder mal rauszufahren und so. Ich nickte und dachte daran, dass diese Gewerbegebiete, die Werkhöfe und ländlichen Einkaufszentren mit fußballfeldgroßen Parkplätzen davor bei mir eigentlich schon immer leichte bis mittelschwere Tristesse ausgelöst haben. Vielleicht lag das daran, dass Karlina und ich nach der Scheidung meiner Eltern einige Jahre in einer Wohnung am Rand des Industriequartiers gelebt hatten, wo je nach Wetterlage morgens schon der Geruch der benachbarten Schweinemast herüber wehte. Meine Mutter arbeitete in einem nahen Ausflugsrestaurant als Kellnerin. Speckplatte und grüner Veltliner, geschwollene Füße und Venen, die sich fächerartig unter ihren Nylonstrümpfen auszubreiten begannen. Obwohl sie jeden Monat stattliche Unterhaltsbeiträge von meinem Vater bekam, wie wir beide wussten.

Der Parkplatz an der Talstation war bereits so überfüllt, dass David den Bus etwas außerhalb des Dorfes neben eine Weide stellte. Die Kühe drängten sich in den Schattenwurf des einzigen Baumes, den sie innerhalb der elektrischen Zäune erreichen konnten. Bald würden sie zu hecheln beginnen. Bevor ich mich ärgerte, dass der Bauer wohl erst etwas unternehmen würde, wenn die Milchleistung zurückginge, schnappte ich mir den Rucksack aus dem Kofferraum und ging voran in die Richtung, wo die Kabinen der Gondelbahn an einem dicken Seil den Berg hinauf schwebten.

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