Читать книгу: «Seewölfe - Piraten der Weltmeere 703»
Impressum
© 1976/2021 Pabel-Moewig Verlag KG,
Pabel ebook, Rastatt.
eISBN: 978-3-96688-125-8
Internet: www.vpm.de und E-Mail: info@vpm.de
Sean Beaufort
Sturmfahrt nach Madras
Der Sultan von Golkonda sucht seine unersetzbare Galeere
Die großen, dunklen Augen starrten in eine unbestimmte Ferne.
Der Mann in seiner kostbaren Jacke, die Finger mit funkelnden Ringen geschmückt, fühlte, wie ihn Zorn und Wut erfüllten. Er, der die Macht über zahllose Menschen und ein riesiges Stück Land verkörperte, war von einem der größten Schurken tödlich beleidigt und darüber hinaus auch noch bestohlen worden.
Noch beherrschte er sich.
Er dachte an die Fremden, die ihm geholfen hatten. Lebten sie überhaupt noch?
Niemand wußte es. Wenn es jemand wußte, würde es der nächste Bote ihm, dem Sultan von Golkonda, ohne Zögern berichten.
Eines stand fest: Wenn er je Drawida Shastri in seine Gewalt bekam, würde das Leben dieses Hundesohnes nichts mehr wert sein. Sein Kopf würde rollen …
Die Hauptpersonen des Romans:
Philip Hasard Killigrew – hat beschlossen, die erbeutete Prunkgaleere des Sultans möglichst „in einem Stück“ nach Madras zu bringen.
Ben Brighton – der Erste unterstützt seinen Kapitän bei diesem Plan, obwohl alles dagegen spricht.
Edwin Carberry – hat diese und jene Bedenken, aber am Ankerspill setzt er seine gewaltigen Kräfte ein.
Drawida Shastri – steht am Ende seines Weges, denn gegen das Henkersbeil ist er machtlos.
Hasard junior – hält sein Versprechen und bringt die Geliebte seines Herzens dem Vater zurück.
Inhalt
Kapitel 1
Kapitel 2
Kapitel 3
Kapitel 4
Kapitel 5
Kapitel 6
Kapitel 7
Kapitel 8
1.
Kapitän Philip Hasard Killigrew wartete, bis der Moses Clint und Higgy an ihm vorbei in die Ruderdecks abenterten. Sie trugen frisch aufgefüllte Tranfunzeln und versuchten, genügend Licht in die stinkenden Decks zu bringen.
„Kutscher!“ rief Hasard, als er im flackernden Licht die ersten Jammergestalten erkennen konnte. Seine schlimmsten Erwartungen hatten sich bestätigt. „Ich glaube, wir brauchen deine Hilfe.“
„Sofort, Sir!“ ertönte die Stimme des ersten Kochs und Feldschers von irgendwo auf dem Deck.
Die „Stern von Indien“, die Prunkgaleere des Sultans von Golkonda, saß nach wie vor im Schlick und Schwemmgut fest. Die Schebecke hielt sich in Lee etwa gleichauf, und Hasard hoffte, daß seine Crew keine Schwierigkeiten hatte, alle seine Kommandos auszuführen.
„Habt ihr sie gezählt?“ schrie Ben Brighton vom tiefergelegenen Ruderdeck nach oben. „Bei mir sind’s sechs!“
„Und hier oben neunzehn. Alle in Ketten!“ dröhnte Edwin Carberry. „Die armen Rübenschweine. Los! Schneller, ohne langes Nachdenken, Kerls.“
Also befanden sich noch fünfundzwanzig angekettete Rudersklaven an Bord der Galeere. Hasard nickte voller Ingrimm.
Er rief: „Ich will die Kerle in ein paar Minuten ohne Ketten an Deck haben. Sie sollen sich erholen. Trinken, Essen, heißes Wasser. Und entlaust müssen sie auch werden.“
Der Himmel war schwarz. Man erkannte weder Mond noch Sterne, noch die Küste, die in ein paar Meilen Entfernung dalag. Auch von Nellore war nicht das winzigste Licht zu sehen. Nur die beiden Schiffe hatten reichlich Laternen gesetzt. Die Seewölfe hantierten mit Meißeln, Schlüsseln und Hämmern und schleppten einen Rudersklaven nach dem anderen an Deck.
Jeder sah mehr als bemitleidenswert aus.
Unter Deck klirrten die letzten Ketten. Noch mehr Elendsgestalten schleppten sich über die feuchten Planken. Die Zwillinge wuchteten aus der Kombüse ein Faß zum Achterdeck. Sven Nyberg trug zwei große Pützen voll heißem Wasser und leerte sie in das Faß.
„Geht nicht zu nahe an die Rübenschweine ran“, sagte der Profos drohend. „Sonst ist im Nu jeder von euch verlaust, verwanzt und verfloht.“
„Von uns geht keiner ran“, antwortete der Erste. „Das Vergnügen überlassen wir dir, Mister Profos.“
Auf der Schebecke wurden beide Beiboote aufgeklart. Aber es dauerte noch eine Weile, bis man sie aussetzen würde. Der Reserveanker des Dreimasters kam frei und wurde auf die Back gemannt.
Der Kutscher und die Zwillinge versuchten, die erschöpften Rudersklaven aufzuklären, daß die schlimmste Zeit vorbei sei. Die Männer tranken gierig, und ebenso gierig schlangen sie das Essen herunter. Es war weitaus reichhaltiger und besser, als sie je erwartet hatten.
Daß die Zwillinge jeden von ihnen festhielten und der Kutscher ihnen das verfilzte Haar abschnitt, ließen sie ebenso widerstandslos über sich ergehen wie die Versuche, sie mit warmem Wasser und Seife zu behandeln. Der Erste entdeckte nahe der Sultanskammer einige Truhen voller sauberer Tücher und schleppte genügend davon aufs triefende Achterdeck.
„Weg mit den alten Lappen“, sagte der entschlossen. „Über Bord. Hier gibt’s neue Wäsche.“
Der Seewolf verließ das Ruderdeck, ging zum Schanzkleid und holte ein paarmal tief Luft.
„Dieser Shastri“, sagte er kopfschüttelnd. „Es war schon zu unserer Zeit schlimm genug auf dieser Galeere. Aber er hat die Männer ebenso geschunden wie das Schiff. Der Sultan wird seine helle Freude haben.“
„Wir auch“, murmelte Ben Brighton und dachte an die Arbeit, die noch vor ihnen lag. Das „Seeungeheuer“ des Old Donegal schien sich auf der riffähnlichen Insel geradezu festgesaugt zu haben.
„Du kannst weiter an ihnen herumschrubben“, sagte der Kutscher eine halbe Stunde später zu Hasard junior. „Ich habe bei den armem Kerlen genug mit den Kratzern, Geschwüren und Striemen zu tun.“
In langen Abständen fuhren feuchte Böen über die See und die Schiffe hin. Die Wellen – im Licht der Deckslaternen nur undeutlich zu erkennen – waren nicht hoch und kräftig genug, um die „Stern“ auch nur zu erschüttern. Um die Planken schäumten die Gischt, vermischt mit aufgelöstem Schlick. Mehr war von Deck aus nicht wahrzunehmen.
Die Seewölfe halfen zusammen und gingen nicht gerade behutsam mit den eingeschüchterten Sklaven um, die nur ganz langsam zu begreifen schienen, was da mit ihm passierte.
Ab und zu schrie einer von ihnen auf, nämlich dann, wenn eine Salbe oder Tinktur aus der Arzneikiste des Kutschers in den Wunden brannte.
Mit einem Tritt beförderte der Profos einen Haufen verfilzten Haars außenbords. Die Strähnen schienen zu leben, und am liebsten hätte er es verbrannt. Aber dann hätte der Gestank selbst die halbtoten Inder umgeworfen.
Hasard und Philip schleppten zum drittenmal zwei Körbe mit Essen heran.
Sie blieben zwischen den Sträflingen stehen, und Hasard rief: „Noch jemand Hunger? Es ist genug da! Packt zu, ihr tapferen Ruderer aus Madras!“
Sie verstanden sein Hindi und rissen den Zwillingen das harte Brot, die wenigen frischen Früchte und den Reisbrei mit Fischstücken darin aus den Körben. Den Reis stopften sie sich mit den schmutzigen Fingern zwischen die Lippen.
„Soll ich sie vielleicht auch noch rasieren?“ fragte Dan O’Flynn, der wieder die vollen Pützen aus der Kombüse schleppte.
„Können sie bei Tageslicht selbst“, entschied Hasard. „Wir müssen zusehen, daß wir die Galeere flottkriegen.“
Es dauerte länger als eine Stunde, bis die fünfundzwanzig Rudersklaven wieder menschenähnlich aussahen. Die weißen und mit farbigen Streifen verzierten Tücher, mit denen sie sich mehr recht als schlecht abtrockneten, blieben einigermaßen sauber. Als sich die ausgemergelten Männer die frischen Dhotis um die knochigen Hüften geknotet hatten, erkannte niemand die Rudersklaven mehr. Nur die Bärte störten noch, zumal Seifenreste und Reiskörner in den struppigen Haaren hingen.
Der Erste stemmte die Fäuste in die Seiten, schaute sich im Kreis der schuftenden Seewölfe und der Rudersklaven um und deutete schließlich auf die Decksplanken.
„Unsere ehemaligen Freunde, mit denen wir Riemen an Riemen, Kette an Kette saßen“, sagte er im Befehlston, „sollen sich in die leeren Kojen der Shastri-Crew verholen. Urlaub bis zum Morgengrauen. Sag ihnen das, Hasard junior.“
„Aye, aye, Sir“, entgegnete der Zwilling und versuchte, mit wilden Armbewegungen die dösenden Inder wieder aufzumuntern.
„Noch nicht zusammenbrechen, Freunde“, dolmetschte er. „Wir bringen euch zu den Kojen. Ihr wißt zwar nicht mehr, was das ist, aber wenn ihr’s seht, habt ihr es sofort begriffen. Los, unter Deck, ihr Schlafwandler!“
Er packte zwei der Ruderer, die mit gesenkten Köpfen und hängenden Schultern inmitten des Schaums, des Wassers und der Reste ihrer langen Haarpracht herumstanden, an den Oberarmen und zog sie mit sich. Zwei andere trotteten halbblind hinter ihm her und enterten unter Deck ab.
„Die haben’s immerhin besser als der falsche Sultan und Capitán de Xira“, murmelte der Profos und leerte den Rest des eigentümlich riechenden Waschwassers über das Schanzkleid ins dunkle Wasser.
Der Portugiese und der Inder befanden sich gut bewacht in der Vorpiek der Schebecke. Dort konnten sie sich über ihre fehlgeschlagenen Pläne tagelang und nächtelang unterhalten und vielleicht wieder einen Fluchtversuch planen.
Während an Bord der „Stern von Indien“ der Waschplatz und einige andere Bereiche ohne großen Eifer aufgeklart wurden, pullten die Seewölfe eins der Beiboote von der Schebecke herüber.
Der zweite Anker und zwei aufgeschossene Trossen lagen auf den Duchten. Die vier Mann näherten sich nur langsam.
„Das wird ein schweres Stück Arbeit, Sir“, sagte der Erste. „Ich frage mich, ob wir einen Teil der Ballaststeine leichtern sollen.“
„Ja, Ben“, murmelte der Seewolf. „Steinballast ist in Madras am leichtesten zu beschaffen. Außerdem ist das wohl nicht mehr unser Problem.“
„Eben deshalb.“
Es gab nur eine einzige Möglichkeit, die Galeere vom Schiet wegzukriegen: auf die Flut warten, auf den höchsten Wasserstand, und dann mit Gangspill und Warpanker ziehen und zerren.
„Ob ein Anker uns reicht?“ fragte Ben und beobachtete die Manöver.
Vor kurzer Zeit war der Umfang der langgezogenen Riffinsel ausgelotet worden. Die Schebecke lag in sicherer Entfernung mit dem Bug nach Nordosten vor Anker. Bis jetzt griff der Anker im Grund und hielt das Schiff sicher, ohne daß es seine Position veränderte.
„Das werden wir feststellen, Ben, wenn wir’s versuchen“, erwiderte Hasard bedächtig. „Durchaus denkbar für mich, daß wir noch ein paar Männer von drüben brauchen.“
Die „Stern von Indien“ hatte südlichen Kurs gesteuert, als sie auf die große Untiefe geraten war. Ihr Bug wies, grob gesehen, nach Madras. Eben verschwanden die letzten Inder über die Niedergänge, und die Seewölfe versammelten sich auf der Back der Galeere. Die erste Trosse war an Bord genommen worden, und drei Mann suchten unter Deck nach den Spaken für das Gangspill.
„Taljen her!“ hörte Ben den Schiffszimmermann rufen. „Zum Bug!“
An Deck war genügend Helligkeit. Die Crew konnte arbeiten, und jeder sah genug. Das Licht der Buglaterne und zusätzlicher Funzeln reichte nur einige Yards weit. Aber den Seewölfen im Beiboot genügte es, die Umrisse des Bugs der „Stern“ zu sehen. Sie pullten etwa eine halbe Kabellänge weit über dem unreinen Grund und wuchteten mit beträchtlicher Mühe den Anker über das Dollbord.
Das andere Ende der Trosse war am Heck des Beibootes belegt. Ob der Anker saß, würde man erst später sehen. Es gab jetzt keine Möglichkeit, die Art des Bodens festzustellen. In der Dunkelheit glaubten die Seewölfe am südlichen Ende des langgezogenen Unterwasserriffs eine kleine Insel mit wenigen Gewächsen zu erkennen, die sich nur ein paar Fuß über die Wellen erhob. Sie pullten zurück zur Galeere.
„Trossenstek in die Enden!“ rief der Erste hinunter.
„Verstanden!“
Hasard schirmte die Augen ab und musterte die Umgebung. Nicht ein Licht außer den Laternen der Schebecke. Aber auch keine Blitze und kein Wetterleuchten aus dem nördlichen Sektor, obwohl der Wind wieder in Böen kam und in der Takelage winselte und heulte. Die Schaumkronen der Wellen waren deutlich größer geworden. Wieder wandte sich der Seewolf an seinen Ersten.
„Ich hoffe noch immer, daß die Flut und höherer Wellengang die Galeere genügend weit aufschwimmen lassen“, sagte er. „Oder uns wenigstens beim Warpen helfen.“
„Kann sein, kann auch nicht sein, Sir“, entgegnete Ben nachdenklich. „Ich würde keine Wette riskieren.“
„Auf jeden Fall wird es für uns alle eine lange, harte Arbeit“, sagte der Seewolf.
Nils Larsen rief aus dem Beiboot, das an Steuerbord gegangen war: „Wir haben im Ankerauge eine Leine eingeschäkelt, Sir.“
„Recht so. Und ein Faß als Boje?“ fragte der Seewolf laut und winkte in die Jolle hinunter.
„Ein Fäßchen. Ohne viel Lose.“
Ungefähr die Hälfte der Seewölfe-Crew hatte auf die „Stern“ übergewechselt. Diese Galeere war ihnen nicht mehr fremd. Sie kannten inzwischen jeden Laderaum zwischen Spiegel und Vorsteven. Die „Stern“ war nicht gerade üppig ausgerüstet, aber sie hatte zwei ansehnlich große und schwere Anker.
„Wir werden, wenn es nötig ist, auch die Anker der Galeere brauchen“, sagte Dan O’Flynn und schleppte einen Arm voller frischer, nach Öl und Erdpech stinkender Fackeln auf die Back. „Sollen sie drüben auch noch das andere Beiboot wassern, Sir?“
„Noch nicht“, sagte Hasard halb unentschlossen.
Der Wind hatte noch mehr aufgefrischt. In unregelmäßigen Abständen rauschte von Norden her eine unsichtbare große Welle heran, brach sich auf der Untiefe, schlug hoch, zischte gurgelnd an den Längsseiten der Galeere vorbei und schmetterte krachend und dröhnend gegen Gillung und Achterdeck. Das Schiff erzitterte, knirschte und knarrte in allen Verbänden. Sogar die Masten zitterten.
Carberry stapfte heran und kniff die Augen gegen den Wind zusammen. Von den Flammen riß die nächste Bö winzige Funken und dünnen Rauch weg und wirbelte sie wieder zurück in die Dunkelheit. Ein dünner salziger Regen strich über die Länge des Decks.
„Sir, ich schätze, eher zerlegt sich dieser vergammelte Prunkkahn, als daß er vom Dreck rutscht.“
„Das werden wir erleben oder nicht, Ed“, entgegnete Hasard. „Bisher haben wir mit solchen Versuchen immer Glück gehabt. Ich rechne fest damit, daß wir die Galeere flottkriegen.“
„Im Ganzen? Oder als Holzteile für die Werft vom werten Sultan?“ fragte der Profos grinsend, aber er meinte es nur halb scherzhaft.
„Ich bin ziemlich sicher, Mister Profos“, Hasard ging auf den Scherz ein, „daß wir die ‚Stern‘ in einem Stück nach Madras bringen. Aber mit einiger Arbeit.“
Carberry lachte dröhnend. „Mit den vielen leckeren Entenbraten und dem Antilopen- oder Gazellenbraten im Bauch werden wir die Nußschale wahrscheinlich auf den Schultern freischleppen.“
„Du sagst es, Ed“, erwiderte der Seewolf und grinste breit.
„Also, Sir, sollen wir bei diesem bösartigen Wetter auch noch die beiden Anker der Galeere ausbringen?“ fragte der Erste.
Hasard nickte. Dann erwiderte er: „Ohne Hast. Shastri und de Xira sind sicher untergebracht und eingeschlossen. Wir können uns ruhig noch einen Tag Aufenthalt leisten. Wir können noch immer aufgeben. Aber zuerst versuchen wir es, so gut wir können. Klar?“
Ben, Dan und der Profos riefen gleichzeitig: „Alles klar!“
Wieder prasselte, nur für wenige Minuten, ein Regenguß über das Deck. Die Seewölfe zogen die Schultern hoch und schüttelten sich, aber der Regen war nicht kalt. An den Kranbalken und an der straffen Vertäuung hantierten ein paar Männer und schäkelten die Anker ab.
Die Crew auf der Schebecke brachte das zweite Beiboot zu Wasser. Vier Mann enterten über die Jakobsleiter ab. Von Deck flogen aufgeschossene Bündel Tauwerk zwischen die Duchten. Überall flackerten und zuckten Fackelflammen.
Langsam pullte das zweite Beiboot auf die Steuerbordseite der Galeere zu. Inzwischen war die dicke Trosse mit einigen Schlägen um das Spill gelegt worden. Der Profos, Ferris Tucker, Batuti und Roger Brighton steckten die Spaken ein und drehten langsam das Gangspill. Ebenso langsam wurde die dicke Trosse durchgesetzt. Schließlich spannte sie sich vom Spill durch die Klüse bis zu den schäumenden Wellen, hob und senkte sich und schleuderte schwach aufblitzende Tropfen durch das Dunkel.
Auf der Back wurden beide Anker gesichert. Das Ankergeschirr war überaus kräftig, das Tauwerk noch trocken, die Ankerleinen waren in Buchten auf den Planken aufgeschossen.
Ben betrachtete schweigend die Vorkehrungen und die schuftenden Arwenacks, dann zog er die Schultern hoch und ging, auch jetzt noch ohne Eile, zur Kombüse. Die „Stern“ hatte zumindest genügend große Mengen an Nahrungsmitteln gebunkert. Wahrscheinlich seit dem Tag, an dem der Sultan an Bord erschienen war, denn Shastri hatte weder Zeit noch Gelegenheit dazu gehabt, soweit man erfahren hatte.
Der Kutscher hob den Kopf, als der Erste die Kombüse betrat.
„Wie sieht es aus? Haben wir die nächsten achtundvierzig Stunden genug zu kauen, Kutscher? Reiswein? Fleisch? Fisch? Vielleicht sogar Rum?“
Der Kutscher zuckte mit den Schultern und erwiderte: „Es wird reichen, Ben. Reis ist für ein paar Wochen an Bord, Gewürze auch, eine ganze Ladung. Aber Leckerbissen kann ich euch nicht bieten. Hausmannskost, schätze ich, indisch gewürzt.“
Der Erste nickte zufrieden. Wenn der Kutscher eine solche Aussage gab, war es in Ordnung.
„Sieh zu, daß du bei Tagesanbruch für uns auf der ‚Stern‘ ein kräftiges Essen fertig hast. Denke auch an die halb verhungerten Rudersklaven. Es sind, nehme ich an, die einzigen, die heute nacht einigermaßen ruhig schlafen werden. Wie steht es mit dem Getränkevorrat?“
„Reichlich gebunkert, Ben.“
„In Ordnung. Ich schicke dir Clint. Er soll für uns ein paar kräftige Schlucke abholen. Und dann hat er Freiwache. Er ist schon viel zu lange auf den Beinen, klar?“
„Aye, aye, Ben.“
„Ich verlasse mich auf dich, Kutscher. Schufte dich nicht zu Tode.“
„Keine Sorge“, sagte der Kutscher und schnitt die nächste Frucht in fingerdicke Scheiben.
Die nächste Welle donnerte heran und erschütterte den Rumpf der Galeere von achtern bis zum Bug. Auf der Back schepperten die Flunken und die Rorings. Langsam wurde ein Anker an Steuerbord in die Dunkelheit zwischen die Beiboote abgefiert. Die Taljen quietschten. Zwischen das Geräusch der anrollenden Wellen mischten sich halblaute Kommandos.
Zwischen den vier Seewölfen in der größeren Jolle senkte sich der erste Anker der Galeere hinunter. Das Beiboot hob und senkte sich mit den Wellen. Die Belegtaue spannten sich und erhielten wieder Lose. Handbreit um Handbreit sackte das schwere Gewicht weiter nach unten.
Dan O’Flynn bereitete die Arbeit der nächsten Stunden auf seine Weise vor. Er hatte unter Deck dünne Rundhölzer gefunden und die Enden zusammengelascht. Dann maß er sie sorgfältig und brachte Längenmarkierungen an. Er ging zur Back und begann auf der Backbordseite der Galeere zu loten. Er sagte sich, daß es wahrscheinlich eine Stelle gab, an der die „Stern“ weniger schwierig aus dem Schlick zu ziehen war.
Das Beiboot verschwand wieder bugwärts in der bewegten See. Vorsichtig pullten die Seewölfe den zweiten Anker vom Bug weg. Sie versuchten, im Dunklen die kleine Tonne zu erkennen, von der der erste Anker markiert war.
Clinton Wingfield, der Held der Spukbucht, verteilte Mucks voller Reiswein an die schuftenden Seewölfe. Ben ließ die Crew des ersten Beibootes zur Schebecke zurückpullen und schickte sie auf Freiwache.
„Vielleicht gibt’s heute nacht noch einen soliden Sturm!“ rief er ihnen nach. „Wenn es sein muß, geht ankerauf.“
„Aye, aye!“ tönte es aus der Finsternis zurück.
Der Erste nahm von Clint einen großen, herrlich verzierten Becher aus dem Besitz des Sultans und wartete, bis der Moses ihn gefüllt hatte.
Nach dem ersten Schluck sagte Ben Brighton: „Und du verholst dich, wenn du fertig bist, in die nächste Koje. Klar?“
„Klar, Sir“, erwiderte der Moses. „Bin auch schon reichlich müde.“
Dan O’Flynn erreichte auf seinem Erkundungsgang rund ums Schanzkleid wieder den Bug, diesmal auf der Steuerbordseite.
„Wie steht’s?“ fragte der Erste.
Dans Gesicht ließ erkennen, daß er über die Ergebnisse des Auslotens nicht gerade glücklich war. Er sagte: „Soll ich lügen? Oder willst du die Wahrheit hören, Ben?“
„Die Wahrheit natürlich“, entgegnete der Erste. „Schlimm?“
„Ziemlich“, erwiderte Dan. „Die Landratten haben die ‚Stern‘ geradewegs auf die beste Stelle gesteuert. Offensichtlich sind sie mit hoher Geschwindigkeit auf die Untiefe gerauscht. Rund um den Kahn ist es gleich tief. Der Kiel und die Planken stecken in voller Länge im Schlick. Ohne große Schufterei kommen wir nur weg, wenn uns riesige Kaventsmänner heben.“
„Klingt nicht gut“, murmelte der Erste. „Weiß es Hasard schon?“
Dan schüttelte den Kopf, schwenkte seinen Peilstab durchs Wasser und legte ihn längsseits des Schanzkleides ab.
„Ich sag’s ihm gleich. Hast du für mich auch was zu trinken, Clint?“
„Selbstverständlich.“
Das zweite Ankertau war durch die Ankerklüse gefiert und auf der Back vorübergehend belegt worden. Die kleine Crew zerrte und schleppte am dritten und letzten Anker. In unregelmäßigen Abständen rollten die Wellen aus dem nördlichen Sektor heran und rüttelten an der Galeere.
Am meisten beunruhigten die Geräusche, mit denen das Wasser unter dem Heck des Schiffes hochschwallte und gegen die Planken schlug. Aufschäumende See wurde an Backbord und Steuerbord weit zur Seite geschleudert und leuchtete schwach im Licht der Hecklaterne.
„Die Dünung?“ Dan O’Flynn überlegte laut. Er lehnte neben Ben am Schanzkleid und spürte die Erschütterungen, die in Minutenabständen durch den langen Rumpf gingen.
„Sie hilft auch nicht“, meinte der Erste. „Wir liegen sozusagen hoch und etwas feucht.“
In vier Stunden würde die Flut ihren höchsten Stand erreicht haben. Erst dann versprachen die verschiedenen Manöver, wenn überhaupt, einen Erfolg. An die Ballaststeine würden sich die Seewölfe erst dann wagen, wenn nichts anderes mehr half.
Hasard hatte zusammen mit Ben schon darüber nachgedacht, die Geschütze der „Stern von Indien“ entweder über Bord gehen zu lassen oder an Deck der Schebecke zu hieven, aber das wäre bei dem herrschenden Seegang ein selbstmörderisches Vorgehen gewesen.
„Bei Tageslicht sieht ohnehin alles anders aus“, sagte Dan und nahm einen tiefen Schluck.
Ben nickte. „Heller vor allem. Wir werden es mit drei Ankern schließlich irgendwie schaffen.“
In der letzten Stunde hatten Wind und Wellen an Kraft und Höhe gewonnen, aber es war kein Monsunsturm daraus geworden. Nur die Regenschauer blieben. Dreimal in der Stunde waren sie heruntergeprasselt, hatten das Deck gewaschen und den Schaum von den Wellen weggezaubert.
Die Nacht blieb finster, die Wolken rissen nicht auf. Auch an Land änderte sich nichts. Niemand schien die beiden hell beleuchteten Schiffe bemerkt zu haben.
„Bis morgen werden sich unsere Ruderer auch wieder erholt haben“, erklärte der Seewolf, nachdem ihn Dan von dem Ergebnis der Lotung unterrichtet hatte. „Fünfundzwanzig Mann an dem Spill. Das müßte reichen, mit unserer Crew zusammen.“
Ben und Dan beobachteten das Beiboot, das den dritten Anker weit an Backbord voraus versenkt hatte. Gegen Wind und Wellen pullten die sechs Mann zurück und dann, mehr in Lee der Galeere, hinüber zur Schebecke.
„Bei Sonnenaufgang sind sie wieder bereit“, erklärte Hasard.
Drei Ankertaue waren jetzt am Bug durch die Klüsen geschoren und an den Klampen vertäut. Sicherer konnte ein Schiff nicht mehr liegen, in voller Länge mit dem Kiel im Schlick und vor drei Ankern, allerdings in einer Richtung, die nichts mit einem richtigen Ankermanöver mehr zu tun hatte.
Hasard winkte seine Mannen zu sich heran und sagte: „Wir bleiben an Deck und gehen Wache. Schlaft euch aus, Freunde, es bleiben nur noch ein paar Stunden. Und vielleicht hilft einer von euch dem Kutscher, wenn es hell geworden ist.“
„Aye, aye, Sir.“
Ein knappes Dutzend Arwenacks verholte unter Deck. Ben löschte einige flackernde Laternen, riß den letzten Rest des zerfetzten Sonnensegels von der prachtvollen Haltestange ab und warf es schulterzuckend ins Meer. Er blickte ein paarmal zur Schebecke hinüber und erkannte gerade noch, daß beide Beibootcrews auf geentert waren und die Boote hinter dem Heck in den Wellen schaukelten. Auch an Deck der Schebecke war die Nachtwache aufgezogen. Undeutlich klang das Glasen durch das Jaulen und Heulen des Monsuns.
Langsam kehrte der Erste in den Windschutz auf der Kuhl zurück und setzte sich auf die Lafette eines festgezurrten Geschützes.
„Vier Stunden bis Sonnenaufgang“, sagte Dan.
„Es wird sich nicht mehr viel ändern“, erwiderte Ben und gähnte.
Unaufhörlich ächzte und knarrte der Rumpf. In der Takelage der drei Masten heulte der Wind, und kaum war der nächste Regenguß vorbei, trocknete das Deck wieder auf.
Die „Stern von Indien“ war nicht nur aus hervorragenden Einzelteilen hergestellt und über eine unglaubliche Entfernung hinweg transportiert worden, sondern die besten Handwerker des Sultans hatten sie auch wieder zusammengebaut. Diese Umsicht und die Fähigkeit indischer Arbeiter retteten jetzt die Galeere. Die Planken und Spanten hielten die Erschütterungen aus.
Schließlich, als der Wind vorübergehend nachzulassen schien, sagte der Seewolf: „So viele Dinge lassen sich im voraus berechnen. Einiges davon trifft wirklich ein. Ich denke mir, daß der Sultan schon seit unserer überstürzten Abreise nach seinem Lieblingsschiff suchen läßt.“
Ben Brighton hob den Kopf, suchte erfolglos nach Mond oder Sternen und erwiderte: „Als wir aufbrachen, Sir, waren nur Lastschiffe im Hafen von Madras.“
„Und an allen Tagen, an denen wir auf See waren und etwas sehen konnten“, fuhr Dan fort, „haben wir auch keinerlei größeren Dhaus gesehen. Nichts außer kleinen Fischerbooten. Es wird also eine Zeit dauern, bis aus einem anderen Hafen Suchschiffe auslaufen konnten.“
Das Heck schien sich eine Handbreite unter dem Ansturm der nächsten Welle zu heben, aber die Galeere bewegte sich nicht wirklich aus ihrem schlammigen Bett hervor.
Der Seewolf hob die Schultern und entgegnete, gegen den Sturm ankämpfend: „Wahrscheinlich war es so. Oder ähnlich. Und sollten sie uns entdecken, dann hilft es dem Prunkschiff auch nicht besonders.“
Ben lachte. Im Winseln, Gurgeln und Heulen vernahm es niemand. Er rief: „Der Sultan wird sich aber freuen, wenn er von der ‚Stern‘ hört. Außerdem sucht er sicherlich auch nach uns.“
Sie erkannten den Sinn dieser Äußerung und schauten sich in die Augen. Jedem war längst klar, daß der Sultan von Golkonda sicherlich mehr nach dem Schiff als nach den Seewölfen suchte, trotz des gewaltigen Goldschatzes und der vielen Freundschaftsbeteuerungen.
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