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3. Kapitel
Gustav will weiterkommen und zieht nach
Breslau um

„Das ist ja erstaunlich“, sagt beim Frühstück Gustav zu Hermine. „Was schätzt du, wie viele Menschen gegenwärtig in Deutschland leben?“ Hermine, die selbst Zeitung liest und noch in Gedanken ist, kräuselt die Stirn, schaut ihren Mann an und schüttelt den Kopf: „Keine Ahnung, vielleicht fünfzigtausend?“ Sie streicht sich über die Stirn. Die Frage passte nicht in ihren eigenen Gedankengang. „Knapp daneben“, sagt Gustav und lacht: „Nach der jüngsten Volkszählung vom 1.12.1910 sind es 64.926 Millionen. Aber zu deiner Beruhigung, ich hätte es auch nicht gewusst.“

„Noch eine Frage, schon schwieriger: Wie viele Schachtanlagen sind gegenwärtig im Ruhrgebiet in Betrieb?“ Hermine lächelt Gustav an: „Du wirst es mir sicher gleich sagen. Ich könnte sagen drei oder dreitausend. Keine Ahnung.“

„Hatte ich auch nicht“, entgegnet Gustav. „Aber ich hätte mir auch nicht vorgestellt, dass es 174 sind mit 353.347 Beschäftigten und dass dort jährlich 89 Millionen Tonnen Steinkohle pro Jahr gefördert werden. Da bekommt man einen Begriff, wie wichtig das Ruhrgebiet für unsere Volkswirtschaft ist. Hab ich, ehrlich gesagt, nicht gewusst.“

Bei seiner Post liegt ein Brief seines Freundes Otto, mit dem er gemeinsam die Ausbildung zum Fliesenleger erfolgreich durchlaufen hat. Vor einem Jahr verzog Otto nach Breslau, um in einem anderen Betrieb Neues hinzuzulernen und voranzukommen.

„Ich kann nur sagen, komm her. Breslau hat sich gelohnt“, schreibt er. „Die Stadt begeistert mich: Die Oder, der Dom, das Schloss, das tolle Rathaus. Dann die Möglichkeiten nach Feierabend: Kino, Theater, urige Kneipen. Unser Sohn ist im Turnverein, das Mädchen in einer Flötengruppe. Ihnen gefällt’s. Das Beste: Ich verdiene mehr als zuvor und kann den kleinen Wohlstand bezahlen. Wie wär’s mit Dir und Deiner Familie?“

Gustav und Hermine erwogen seit längerem, eine geräumigere Wohnung zu mieten. Ilse brauchte mit ihren vier Jahren ein eigenes Schlafzimmer anstelle ihres Bettes im Schlafzimmer der Eltern. Gustav hatte mit seinem gegenwärtigen Chef über mehr Lohn verhandelt. Seine beachtliche Berufserfahrung als Geselle und Meister hatten ihren Wert. Das wusste sein Chef, konnte ihn jedoch nicht höher entlohnen. So empfand Gustav die momentanen Verhältnisse für sich und seine Familie als Sackgasse.

Da sie ohnedies umziehen mussten, konnte auch der Ort ein anderer sein, befand Gustav. Ein Umzug in die schlesische Hauptstadt mit ihren 600.000 Einwohnern hatte auch für Hermine ihren Charme.

Im Jahre 1911 siedelte die Familie in die Breslauer Stadtmitte über in eine Wohnung mit drei Schlafzimmern und einer großen Wohnküche. Gustav machte schnell eine neue Anstellung bei der Baustofffirma Walter ausfindig als rechte Hand des Chefs, befugt zu planen, zu kalkulieren, einzukaufen und auszuliefern. Dank schneller Auffassungsgabe, dem guten Blick für das Wesentliche und seiner offenen, einnehmenden Wesensart wurde er bald ein unentbehrlicher Mitarbeiter, angesehen bei Kollegen und Kunden. Er fühlte sich in seinem neuen Wirkungsfeld wohl. Er lernte, wie eine Firma zu führen sei und sah, was ein Handwerker, einmal selbständig, wirtschaftlich erreichen konnte. So keimte sein Traum: Eine eigene Baustoffhandlung. Diesen Traum vergrub er einstweilig in seinem Herzen. Seine Familie sollte sich zunächst in Ruhe hier einleben können und nicht durch neuerliche Pläne verunsichert werden.

Arthur besuchte die Oberrealschule; Paul das zweite Jahr der Volksschule. Beide kamen gut voran und hatten Freude am Lernen.

Ilse mit ihren fünf Jahren schlenderte mit der Mutter zuweilen die nach und nach aufgespürten reizvollen Wege entlang: Am Ufer der Oder, zur Dom-Insel, der Sandinsel, vorbei am Rathaus, und von dort an den Markttagen zu den zahlreichen vielfarbigen Ständen mit karminrot und flaschengrün gestreiften Herrenhuter Äpfeln, südländischen Orangen und Bananen, staksigen, mit Bindfäden zusammengehaltenen Bündeln von Schwarzwurzeln, glänzenden weiß-lila Wasserrübchen, hohen Gläsern mit Salzgurken aus dem Spreewald und grünlich-weißen Senfgurken, leuchtenden Geranien, Petunien in ihren hauchzarten Violett-Tönen und Eimern mit teuren langstieligen Edelrosen. Ilse mit ihren blonden Riesellöckchen, dem langen, gebauschten hellrosa Kleid mit breitem, weinroten Taftgürtel und weißem Schuten-Hütchen passte in diese Farbsinfonie. Sie bat Hermine, ein hellblaues Vergissmeinnicht-Sträußchen, das sie besonders entzückte, kaufen zu dürfen und für den Vater mitzunehmen.

In einem kleinen Straßen-Cafe mit roter Pergola, umrahmt von Kästen voller rosa und weißer Hängegeranien, pausierten sie und ließen sich in kleinen mit Kissen ausgestatteten Korbsesseln nieder. Ilse, die kurzen Beine in der Luft hängend, schaukelte zufrieden mit ihren in schwarzen Lack-Schnallen-Schuhen steckenden Füßen. Hermine genoss den sonnigen und warmen Frühlingstag mit ihrem Mädchen, schlürfte ihre Tasse Bohnenkaffee, Ilse einen Gerstenkaffee. Sie bewunderten die Hausfronten mit ihren fantasievollen Giebeln, mal gestuft, dann in weichen Bögen ansteigend, in sanfter Rundung oder spitz endend, alle mit gediegenem Geschmack erdacht und ausgeführt. Dazu die vielfach unterteilten Fenster mit naturweiß gestrichenen Rahmen sowie die Pastelltöne der Häuserfronten, zart wie mit Aquarellfarben getuscht. Am nahen Rathaus bewunderten sie das dunkelrote, weinrankenartig verflochtene Muster des Hauptgiebels auf hellem Untergrund, verschlungen wie eine nach oben ansteigende Stickerei, in fünf Bögen beginnend und in einer kugeligen Spitze endend.

Ilse liebte besonders ein Handarbeitsgeschäft am Marktplatz mit gestickten Decken, gehäkelten Westen, gestrickten Pullovern im Fenster und all den herrlichen dazu gehörigen Garnen und Materialien. Hermine kaufte Ilse ein naturfarbiges Baumwoll-Deckchen mit aufgedrucktem Muster und zeigte ihr zu Hause mit feinem Garn und dünner Nadel, wie Kreuzstich gestickt wurde.

Ilse schnupperte an Stoff und Fäden und war von dem Duft des Geflechts und Garnes wie berauscht. Sie fand hier ihr Steckenpferd, eine lebenslange Quelle von Freude und auch Trost in schweren Tagen, die noch kommen sollten. Als sie stricken lernte, wurde das zu einer Leidenschaft, die alle anderen Betätigungen auszulöschen drohte. Sie musste sich Grenzen setzen.

Hermine hatte das Gefühl, in der Stadt aufzublühen. Hier konnte sie die eleganten Röcke und Blusen, die modischen Hüte und ausgefallenen Schuhe tragen, die ihr gefielen, ohne dass abfällig geflüsterte Bemerkungen der Nachbarinnen oder deren missbilligende Blicke ihr die Freude daran verdarben.

Einen Wermutstropfen gab es dennoch: Äußerte sie ihrem Kaufmann ihre Wünsche, geschah es nicht selten, dass Kundinnen neben ihr unversehens die Hand vor den Mund hielten, sich abwandten, heimlich kicherten, oder sich verdutzt schmunzelnd mit hoch gezogenen Augenbrauen vielsagende Blicke zuwarfen. Zuweilen musste sie ihren Satz mehrfach wiederholen, weil die Verkäuferin sie nicht verstanden hatte. Acht Jahre einklassige Volksschule im tiefsten dörflichen Sachsen machten ihr hier zu schaffen.

Sie mühte sich zwar, Hochdeutsch zu reden, aber was war hier Hochdeutsch? Die Einheimischen sprachen ihr spezielles Schlesisch, so wie Hermine ihr heimatliches Sächsisch. Hinzu kam, die Breslauer, im Allgemeinen offen und zutraulich, konnten zu ‚Lergen‘ werden, flinkzüngigen Frechdachsen, die loszankten, wenn man ihnen vermeintlich dumm- kam. Dann wurde drauflos gewettert, eher laut als leise, mehr Rotwelsch als Hochdeutsch. Ein Wortschwall dieser Art, ungefiltert und unbereinigt, konnte eine ahnungslose sächsische Einwanderin durchaus erschüttern. Hermine hatte bald herausgefunden, wie sie solchen Biestereien am besten entkam: Mund halten statt mit zu zetern. Ein großer Lernschritt für Hermine, die Disputen – vorrangig in ihrem Großröhrsdorfer Sächsisch – bisher nicht aus dem Weg gegangen war, im Gegenteil, sie liebte leidenschaftliche streitige Debatten.

Hin und wieder brachte Gustav, der durch intensiven Kundenkontakt mit Menschen unterschiedlicher Dialekte in Verbindung kam, eine hochdeutsche Vokabel mit nach Hause. Zum Beispiel erklärte er Hermine, spitzbübisch schmunzelnd: „Es heißt nicht ‚die Sollote‘, mit Betonung auf der ersten Silbe, wie in Großröhrsdorf, auch nicht Solload, wie in Breslau, sondern ‚der Salat‘.“ Auch Sohn Arthur korrigierte mehr und mehr seine Hintersächsisch sprechenden Altvorderen. Dieses Thema war für die Familie jedoch eher eine Lachnummer. „Es gibt Wichtigeres als Hochdeutsch“, fand Gustav.

Aus der Schule bringt Arthur die Neuigkeit mit, der preußische Kriegsminister von Heeringen warne vor Verweichlichung der Jugend und empfehle vormilitärische Ausbildung. Auf Anregung von Generalfeldmarschall von der Goltz werde der halbstaatliche Jugenddeutschlandbund gegründet, der vormilitärischen Sport pflegen und die körperliche und sittliche Erziehung der Jugend im vaterländischen Geist gewährleisten solle. „Klingt doch gut, oder?“, bemerkt Arthur fragend zu seinem Vater hin. Gustav schaut seinen Sohn durchdringend mit seinen blauen Augen an, als wolle er ihn durchbohren: „Hoffentlich geht’s dabei wirklich um das Wohl der Jugend. Klingt in meinen Ohren verdammt nach politischer Säbelrasselei“, entgegnet er, skeptisch wie immer.

Paul und Arthur sind Stammgäste in der Städtischen Bücherei. Arthur entleiht nach und nach alle Bände seines sächsischen Landsmannes Karl May. Paul liebt Werke der Geschichte und Klassik. Gegenwärtig liest er den ‚Kampf um Rom‘ von Felix Dahn. Als die beiden Lieblings-Autoren 1912 sterben, Felix Dahn in Breslau, empfinden die beiden Brüder Trauer, als seien gute Freunde von ihnen gegangen.

Da Paul Musik liebt und sich insbesondere zu klassischer Musik hingezogen fühlt, meldet ihn Hermine für Geigen-Unterricht bei Selma Havel an. Die Adresse las sie in der Tageszeitung. Das Lesen der Noten ist für Paul der eingeschränkten Sehfähigkeit wegen nicht einfach. Da er sich jedoch vom ersten Unterrichtstag an stark zu Selma Havel hingezogen fühlt, gibt er sich große Mühe und kann mit den anderen fünf Kindern der Gruppe mithalten.

1913 erfüllt sich Gustav einen lang gehegten Traum: Er kauft sein erstes Auto, einen Audi von Firma Horch in Zwickau.

Die Familie steht staunend um das seltsame Gefährt. Arthur bemerkt: „Sieht aus, wie Opas Lehnsessel auf Drahträdern.“ Paul wundert sich über die Scheinwerfer, die fast frei in der Luft zu schweben scheinen, bei näherem Betrachten jedoch mit dünnen Metallröhren miteinander verbunden und mit weiteren dünnen Stäben an der Kühlerhaube befestigt sind. Hermine betrachtet das Firmen-Emblem: „Schaut mal, wie ein Reiher im Flug.“ Bei näherem Hinschauen zeigt sich lediglich ein windschnittiges Flügelpaar, rückwärtig von einem vorwärts gerichteten Pfeil durchbohrt, den Eindruck blitzartiger Schnelligkeit vermittelnd.

Andere Kinder, auch Erwachsene sind hinzugekommen und betrachten das Kraftfahrzeug bewundernd und beeindruckt. Arthur, Paul und Ilse sind stolz auf ihren Vater, der mit seinem Fahrzeug derart im Mittelpunkt der allgemeinen Aufmerksamkeit steht.

Seine erste längere Tour unternimmt Gustav, um Arno, seinen Schulfreund aus Großröhrsdorf, zu besuchen, der sich in Allenstein im Ostpreußischen als Schreiner selbständig gemacht hat und ihn vor Monaten einlud. Ein Satz aus Arnos Brief hämmert beschwingt in Gustavs Hinterkopf: „In meiner Nachbarschaft gibt ein Baustoffunternehmer aus Altersgründen auf. Da er keinen Erben hat, sucht er einen Nachfolger.“ Noch ahnt seine Familie nichts von diesem Satz und Gustavs tief im Herzen verborgener Faszination.

Die Familie steht um den Horch und bewundert den Mut des Vaters, mit diesem fremdartigen, knatternden und seltsam stinkenden Gefährt eine so weite Reise allein aufzunehmen. Zwar ist Gustav aufgeregt, aber seine Augen strahlen, sein Kopf ist vor Freude gerötet und er lacht begeistert, als er sein erstes Auto lautstark startet und die Familie ängstlich und stolz, fröhlich und besorgt hinter ihm herwinkt.

4. Kapitel
Elise organisiert ihr Leben mit Emma neu

Elise fand eine Hilfe für die Versorgung des Babys am Tage. Frau Rösler, Witwe ohne eigene Kinder, war dankbar, erneut einen kleinen Menschen aufzuziehen zu dürfen. Die große, vollschlanke Frau mit Wangengrübchen, blauen Augen, schlicht rückwärts gekämmten und in einem Knoten verschlungenen silbergrauen Haaren strahlte Wärme und gelassene Heiterkeit aus. „Willkommen auf unserer Erde, kleine Emma“, sagte sie sanft und neigte sich dem Baby zu, das in einem von Elise mit geblümtem Batist bespannten Körbchen lag. Lächelnd erwiderte der Säugling ihren Blick, mit Armen und Beinen lebhaft ruckelnd. „Was für ein feines, zartes Kind Du bist.“ Emma krauste die Stirn, schürzte die Lippen und schob die kleine Faust in den Mund. Elise nahm ihr Baby aus dem Korb und schmiegte ihr Gesicht an seinen Hals. Dieser Duft nach Milch, Haut und Baby! Ihr fielen keine Worte ein für diesen unvergleichlichen Wohlgeruch. Sie hätte ohne Ende ihren Säugling beschnuppern mögen. Frau Rösler stand daneben, ihre Augen umrankt von freundlichen Knitterfältchen, das Gesicht heiter und in Vorfreude, diesen Sprössling bald ganze Tage bei sich zu haben.

Kam Elise morgens in den Friseur-Salon und grüßte mit einem munteren „Guten Morgen“ ihre Kolleginnen und wartende Kunden, erhellten sich die Gesichter.

Während ihre heutige Kundin noch beschrieb, welche Frisur ihr vorschwebte, wog Elise deren Haar in der Hand, prüfte kundig Gesicht und Kopfform. Sie bewegte das Haar in unterschiedlicher Weise, experimentierte und prüfte, während sie mit der Kundin redete. Nach einer Entscheidung arbeitete sie konzentriert und plauderte dennoch scheinbar entspannt. Elise war beliebt, hatte einen beachtlichen Kreis von Stammkunden und eine zufriedene Chefin.

Als Elise am Abend das Haus betritt, in dem sie wohnt, empfängt sie im Flur ein aufdringlicher Geruch nach Kohl. Die Böttchers in der ersten Etage lassen oft ihre Wohnungstür zum Hausflur hin offen. So riecht im Haus jeder Eintretende, was bei Böttchers am Abend auf dem Tisch stehen wird, heut offenbar Weißkohleintopf. Im Vorbeigehen hört Elise unfreiwillig, wie die beiden Eheleute, Heini und Lena, wieder einmal lautstark zanken. Erneut geht es ums Geldausgeben. Lena hat im Resteladen Stoff für Küchengardinen gekauft, genäht und gehofft, Heini würde sich darüber freuen. Aber er dröhnt, wofür in Drei-Teufels-Namen in der Küche Gardinen hängen müssen. „Ich habe nicht in der Lotterie gewonnen, heiliger Strohsack“, donnert er, und Lena äußert flennend, enttäuscht und wütend Unverständliches.

Elise braucht viel Kraft, ihren Kummer nach außen zu verbergen. Christian, ihre große Liebe, ihre Hoffnung auf eine gute gemeinsame Zukunft war zu einem zersprungenen Traum geworden. Die Erinnerung daran, wie sie durch die Art ihres Wiedersehens in Hannover gedemütigt worden war, ließ sie wieder und wieder vor Scham erröten. ‚Ich verstehe die heikle Situation, in der er war: leben mit mir ohne Existenzgrundlage oder ohne mich in vorgegebenen Gleisen ohne Glück‘, dachte Elise, denn sie ging davon aus, er habe sie geliebt wie sie ihn. ‚Aber es ist vorbei und muss vorbei sein‘, beschwor sie sich und straffte ihren Körper; dennoch konnte sie nicht verhindern, an einsamen Abenden oder strahlenden Sonntagnachmittagen von ihren Erinnerungen an die gemeinsame Zeit eingeholt zu werden. Das tat weh.

Unzertrennlich beide, gehe, lieb und leid“, zitierte ihre Mutter Helene die alte Volksweisheit. In solchen Momenten fand Elise Trost in einem schönen Text oder einer Melodie. Besonders liebte sie das Lied von den zwei Königskindern:

‚Es waren zwei Königskinder, die hatten einander so lieb. Sie konnten zusammen nicht kommen, das Wasser war viel zu tief.‘

Sie begann die Melodie zu summen. Ihre Mutter sah Elise an verstand deren Kummer, verlassen worden zu sein und dieses nie ganz vergehende Weh. Helene stimmte summend ein. Sie sangen mit ihren klaren Sopranstimmen die drei Verse, in denen erzählt wird, wie der Königssohn zu seiner Liebsten schwimmen will, aber ertrinkt. Als sie geendet hatten, waren beider Augen feucht. Gerade weil der Text so traurig war, tröstete er Elise. Andere vor ihr hatten demnach auch Liebesweh erlitten. Der innige Text war noch in ihnen, wenn Helene später wieder an der Nähmaschine saß, den harten Stoff der Militäruniformen unter ihren Händen und das knarrende Rattern des Fußantriebs den Raum erfüllte.

Elise hatte ihre buntbedruckte Arbeitsschürze umgebunden und das Abendessen vorbereitet. In ihrer Wohnküche verbreitete sich der Duft von garenden Hefeklößen, die beide Frauen so liebten. In einem zweiten Topf köchelten geschälte und kleingeschnittene Apfelstücke mit Zucker, einer Gewürznelke und einem Stückchen Zimtstange für Apfelkompott. Bei dem Duft der Äpfel brummte Helene ein zufriedenes „Hm“. Sie schaute zu Elise und lächelte aus immer noch feuchten Augen. Als Elise einen duftig aufgegangenen Hefekloß auf jeden Teller legte, mit Zimt und Zucker bestreut und wenigen Tropfen gebräunter Butter begossen hatte, hielt es Helene nicht mehr an ihrem Arbeitsgerät. Beflügelt erhob sie sich, mit einem herzhaften ‚hab ich einen Hunger‘ setzte sie sich an den hübsch gedeckten Küchentisch. Elise hatte die von ihr vor Jahren mit bunten Streublumensträußen bestickte Tischdecke aufgelegt, die Helene so gefiel. Dankbar und hungrig verspeisten sie ihr gemeinsames Mahl von ihrem blau-weiß gemusterten Bunzlauer Geschirr.

Elise schaute auf ihr Leben und fand viel Gutes: Sie war zur Freude ihrer Mutter Helene bei ihr geblieben. Da Helene, um leben zu können, ihre Arbeit tun musste und keine Zeit für das Baby blieb, war sie froh, dass es Frau Rösler gab. Das kleine Mädchen war guter Dinge, wenn es am späten Nachmittag, nach Elises Arbeitsende, zu Mama Elise und Oma Helene gebracht wurde. Mit ihrem freudestrahlenden Lächeln, ihrem begeistert-erregten Glucksen und Brabbeln, dem erwartungsfroh zitternden Ruckeln ihrer Arme, Beine und des ganzen Körpers kamen Frohsein und Behagen in die mütterliche Wohnung.

Oft saßen die beiden Frauen mit dem Kind auf dem Boden und dachten sich zum Ergötzen der kleinen Madam drollige Fingerspiele aus. Sie liebkosten ihre flaumige Haut an den Armen, fuhren mit einem Finger kosend den seidigen Nasenrücken entlang, kraulten sein gelocktes, blondes Haar mit zwei Fingern und plauderten in melodischem Singsang. Emma schaute mal ernst, mal sprudelte sie vor Wonne. Warm geborgen schwelgte sie in ihrem Mütternest.

„Was für ein gutes Leben wir haben“, bemerkte Elise. „Ja, viel Arbeit und viel Glück“, ergänzte Helene, um deren helle Augen sich die ersten müden Fältchen eingegraben hatten. Beim Anblick ihrer Enkelin blühte sie auf, wenn sie dieses Leben mit ihrer vorherigen herben Einsamkeit verglich.

Elise liest ihrer Mutter Helene aus der Zeitung vor, Textil-Heimarbeiter in einem Dorf in Sachsen träten in den Ausstand. Sie forderten einen zehnstündigen Arbeitstag und eine Lohnerhöhung um vierzehn Prozent.

Kaiser Wilhelm II bespricht eine Edison-Walze und beschreibt, wie er sich den idealen deutschen Bürger vorstellt: „ Hart sein im Schmerz, nicht wünschen, was unerreichbar oder wertlos, zufrieden mit dem Tag, wie er kommt; in allem das Gute suchen und Freude an der Natur und an den Menschen haben, wie sie nun einmal sind … und an Herz und Können immer sein Bestes geben, wenn es auch keinen Dank erfährt.“

„Dieses Idealbild erfüllen wir doch schon, oder?“, stellt Elise fest und lacht.

„Nur das mit den zehn Arbeitsstunden pro Tag soll wohl ein Witz sein! Wer kann schon in zehn Stunden seinen Lebensunterhalt verdienen? Kann mir nicht vorstellen, dass solche Träume jemals in Erfüllung gehen werden.“

Elise lacht laut auf. „Nicht zu fassen! Hör dir das an: ‚Der Arbeitslose Wilhelm Voigt beschlagnahmt in Offiziersuniform die Stadtkasse von Köpenick.‘“ Beide Frauen finden das ziemlich komisch. „Aber das hier ist, glaube ich, weniger zum Lachen“, sagt Elise und liest weiter: „Die Germania-Werft in Kiel baut für die deutsche Marine das erste Unterseeboot . Wofür brauchen wir ein Unterseeboot?“

Emma wuchs heran und wurde bald zu einer kleinen Dame mit Wünschen: Sie wolle Klavierspielen lernen. Frau Rösler hatte mit ihrem Zögling eine Freundin besucht, bei der die fünfjährige Emma erstmals Klaviermusik vernahm. Zunächst verharrte sie wie angewurzelt im Zimmer, nahte leise wie ein Kätzchen auf Zehenspitzen, kletterte behutsam einen Sessel nahe am Klavier empor und lauschte mit geöffneten Lippen, kaum noch atmend, den Klängen. „Das war ganz wunder-wunderbar!“, schwärmte sie am Abend bezaubert und mit heißen Wangen bei Mama und Oma.

Da für ein Klavier weder freier Raum in der Wohnung noch genügend Geld da waren, erwarb Elise eine gebrauchte Zither, und Emma erhielt Zither-Stunden bei einem alten Musiklehrer.

Seine Gruppe begann mit acht Kindern. Zwei Jahre später waren zwei verblieben, kurz danach nur noch Emma. Die Kinder hatten wegen blutiger, aufgeplatzter Hornhautschwielen an den Fingerspitzen aufgegeben, weil sie vorübergehend weder üben noch schlafen konnten. Auch Emma hatte diese Phasen erlitten, klagte jedoch nicht, bis ihre Fingerkuppen hart wie Leder waren, und die reine Freude am Musizieren blieb. Mit unermüdlichem Fleiß und großer Begeisterung spielte sie Melodie und Begleitung von Liedern aus dem Riesengebirge, ihrer schlesischen Heimat und andere Volkslieder. In der Schule konnte sie mit ihrem Zitherspiel manche Feier mitgestalten und war beglückt, durchgehalten zu haben. Manche Feierstunde fand ihren Höhepunkt mit dem schlesischen Heimatlied:

Blaue Berge, grüne Täler, mittendrin ein Häuschen klein,

herrlich ist dies Stückchen Erde und ich bin ja dort daheim.

Als ich einst ins Land gezogen, ham die Berg’ mir nachgesehn

mit der Kindheit, mit der Jugend, wusst’ nicht recht, wie mir geschehn.

Oh mein liebes Riesengebirge, deutsches Gebirge, du meine liebe Heimat du.

Ist mir gut und schlecht gegangen, hab’ gesungen und gelacht,

doch in manchen bangen Stunden hat mein Herz mir still gepocht.

Und mich zog‘s nach Jahr und Stunden wieder heim ins Elternhaus,

hielt’s nicht mehr vor lauter Sehnsucht bei den fremden Leuten aus.

Du mein liebes Riesengebirge, deutsches Gebirge, du meine liebe Heimat du.“

Nach und nach standen Lehrer und Schüler auf und sangen mit. Schnäuzen war zu vernehmen, und einige Taschentücher verschwanden danach verschämt wieder in Jacken- oder Hosentaschen.

Nach solchen Abenden, meist Elternabenden, ging Emma innerlich glühend vor Stolz und Freude heim. Besonders froh war sie, wenn Elise und Helene mitgekommen waren, denn auch sie machte stolz und glücklich, Emma bei ihrem wunderbaren Zitherspiel zu erleben, mit dem sie vielen Menschen Freude bereitete.

Elise hatte von Selma Havel gehört, die Kindern Lauten-Unterricht gab. Als Emma davon erfuhr, war sie hellauf begeistert. Fortan ging sie auch zur Lauten-Gruppe und kam schnell voran, da sie durch ihr Zitherspiel bereits Noten lesen konnte und wegen ihrer abgehärteten Fingerkuppen die schmerzenden Schwielen hinter sich hatte, an denen die anderen noch litten. Wenn Emma abends mit ihren beiden Müttern und Frau Rösler zu Hause war, sangen sie gemeinsam, begleitet von Emmas Zither- oder Lautenspiel wenigstens ein kleines Lied, auch wenn die Zeit knapp war. Elise lernte von Emma die gebräuchlichsten Griffe und konnte bald selbst mit der Laute ihre gemeinsamen Feierabendlieder ausgestalten. Elise blühte auf, die Gesichtszüge ihrer vormals verhärmten Mutter Helene wurden weicher, und auch Frau Rösler verweilte meist bei dem kleinen Feierabendkonzert mit zwei Instrumenten, drei Frauen- und einer Mädchenstimme. Diese tägliche kleine Abendmusik verzauberte wie Goldstaub ihre arbeitsreichen Tage. Frau Rösler nahm diese innigen Lieder und Klänge tief im Herzen auf und trug sie erfüllt mit sich heim.

Wenn sich Elise im Spiegel betrachtete, sah sie eine strahlende junge Frau mit blond-gewelltem Haar, deren lose Strähnen weich ihr voller gewordenes Gesicht umspielten. Ihre Augen hatten die Farbe eines hellen Sommerhimmels. Sie wusste, einige männliche Kunden kamen ihretwegen in den Salon. Dann und wann wurde sie zu einem Kaffee eingeladen. Mit zwei befreundeten Kolleginnen ging sie zuweilen zum Tanzen. Meistens liefen nette Tänzer zuerst auf Elise zu.

„Wir profitieren von dir, auch wenn wir eigentlich eifersüchtig sein müssten“, meinte die eher unscheinbare Ursula, eine der beiden, „wer Elise nicht ergattert, holt eine von uns, ist doch fabelhaft“, ergänzte die große, schlanke dunkelhaarige Marga. „Wie erfreulich, dass die Kavaliere Augen im Kopf haben. Du bist nun mal die Schönste aus unserem Kleeblatt.“

An einem dieser samtweichen Frühlingsabende lernte Elise in einem mit farbigen Lämpchen beleuchteten Tanz-Cafe an der Oder Theo Keil kennen, einen Witwer, der seit fünf Jahren seinen Sohn allein aufzog. Seine Frau war an einer Blinddarmentzündung verstorben, als Sohn Harald acht Jahre alt war. Theo Keil, Facharbeiter in einer Schuhfabrik, war als eingearbeitete und verlässliche Kraft für den verantwortungsvollen Leder-Zuschnitt zuständig.

Elise und Theo hatten als alleinerziehende Eltern vergleichbare Erfahrungen, als ein Elternteil das Pensum von zweien zu bewältigen. Das bedeutete viel Arbeit auch nach Feierabend und wenig Ruhepausen. Beide verband die Sehnsucht, ein gleichgestimmtes Gegenüber zu haben. Nach des Tages Mühen zu zweit Herz und Seele aufzutanken, und die Kinder in einer vollständigen Familie aufwachsen zu lassen.

Sie kannten sich ein halbes Jahr, als Theo an einem Sonnabendnachmittag Elise in ihr Café an der Oder einlud. Sie saßen wie beim ersten Mal einander gegenüber und lächelten sich an, nun schon viel vertrauter. Sie lauschten dem beruhigenden Fluten des Flusses, dem Schlappen auslaufender, geschäumter Wellen an seinen Ufern, atmeten den schilfigen Duft des Wassers und genossen das sanfte Raunen des Windhauchs in den Baumkronen und auf ihrer Haut.

Elise betrachtete Theos dichtes, leicht gewelltes mittelblondes Haar, seinen stets gepflegten Kaiser-Wilhelm-Bart, beidseitig in aufwärts weisender Spitze endend, seine kernige und durch jahrelangen Leistungssport als Geräteturner gestählte Figur. Ihre Augen wanderten auf seine groben, verarbeiteten Hände mit den Schwielen, aufgeplatzten und halb abgeheilten Blasen und den eingerissenen Fingernägeln, die von der schweren und unvermeidlich schmutzigen Arbeit kaum vollständig zu reinigen waren. Elise sah wohl, Theo hatte versucht, die bei der Arbeit unvermeidlichen, dunklen Ränder wegzuschrubben. Er war stets korrekt gekleidet, wenn er Elise traf. Heut trug er ein helles Hemd, eine beigefarbige Fliege, braune Cordhose und Cord-Jackett. ‚Sicher nicht mein Traum-Prinz, aber solide und vorzeigbar‘, überlegte Elise. Sie wollte nicht dauerhaft allein leben wie ihre Mutter, tagaus, tagein nur schuftend, wobei der karge Lohn der Heimarbeit gerade für das Nötigste gelangt hatte. Elise wollte wie Theo eine vollständige Familie.

In diese Gedanken hinein fragte er Elise, ob sie ihn heiraten wolle. Elise hatte sich das wiederholt selbst gefragt. Ihre Antwort hatte sich nach und nach herauskristallisiert. Dennoch klopfte ihr Herz, als sie nach leichtem Zögern mit kleinem Lächeln „ja“ sagte. Sie entschied: „Nicht lange mäkeln, Kopfsprung, mutig loslegen und mit dem Segen von oben was Gutes daraus machen.“

Sie heirateten wenige Monate später und mieteten eine größere Wohnung in der Nähe der vorherigen, in der Großmutter Helene blieb und wieder ausreichend Platz hatte für ihre Uniform-, Einlagen- und Futterstoffe, die Kästchen mit Knöpfen und Garnrollen, ihre Scheren, ihr Bügeleisen und das Bügelbrett. Helene hatte in der Zeit, in der Theo und Elise einander kennenlernten, angefangen, sich innerlich von Elise zu verabschieden und bereit zu sein, nun bald ihre geliebte Tochter ihren eigenen Weg gehen zu lassen. Sie hatte sich vorgenommen, kein Drama mehr aufzuführen wie bei Christian, zumal ihr Theo als künftiger Schwiegersohn recht gut gefiel. „Ein solides Mannsbild“, hatte sie Elise gegenüber geäußert. Auch sie wünschte Elise ein anderes Leben als ihr eigenes, eines, das sie selbst nie erfahren durfte, ein Familienleben mit einem Ehemann und einem Vater für die Kinder.

Theo und Elise waren bis zu ihrer Heirat gewöhnt, Entscheidungen zu treffen, ohne einen Dritten zu fragen.

„Selbstverständlich kann Emma jetzt zu ihren Freundinnen gehen“, entschied Elise. Theo fand, sie könne zuvor noch einkaufen und den Abwasch machen. Schnell kippte anfangs die Stimmung, wenn Theo sich in Dinge einmischte, die Elise als ihre Angelegenheiten ansah. Elise war sensibler als Theo und schneller verletzt. Sie war nicht bereit, sich bevormunden zu lassen von dem robuster gearteten Theo. Elise kämpfte immer wieder für ihre Tochter und für ihren eigenen Platz innerhalb der Familie, auch als es um die Frage ging, Volks- oder Realschule. Sie hatte selbst Unterstützung erfahren durch Onkel Tritschke, dem sie verdankte, dass sie die Schule besuchen, Hausaufgaben machen und eine Ausbildung zur Frisörin durchlaufen konnte. Das alles hatte ihr ein Mindestmaß an Unabhängigkeit gebracht, die sie nicht mehr preiszugeben bereit war. Schließlich verdiente sie nach wie vor den Lebensunterhalt für sich und Emma selbst.

Auch etwas anderes beunruhigte sie. Wandte sich Elise Theo in erhöhtem Maße zu, sah sie, wie sich ihr Mädchen an die Seite geschoben fühlte. Kümmerte sie sich intensiver um Emma, reagierte Theo empfindlich eifersüchtig und fühlte sich vernachlässigt. Zuweilen befürchtete Elise, schlapp zu machen bei der Aufgabe, Theo, Emma und dem 14-jährigen Stiefsohn Harald gerecht werden zu sollen. Harald, Jüngling in der Pubertät, ließ sich weder von ihr noch von seinem Vater etwas sagen.

846,08 ₽
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0+
Дата выхода на Литрес:
22 декабря 2023
Объем:
970 стр. 1 иллюстрация
ISBN:
9783954888016
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Правообладатель:
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