Читать книгу: «Seewölfe - Piraten der Weltmeere 341»
Roy Palmer
Der Seewolf greift ein
Impressum
© 1976/2017 Pabel-Moewig Verlag KG,
Pabel ebook, Rastatt.
eISBN: 978-3-95439-738-9
Internet: www.vpm.de und E-Mail: info@vpm.de
Ihalt
Kapitel 1
Kapitel 2
Kapitel 3
Kapitel 4
Kapitel 5
Kapitel 6
Kapitel 7
Kapitel 8
Kapitel 9
Kapitel 10
Kapitel 11
Kapitel 12
1.
Totenstille hatte sich auf die Insel Pirates’ Cove gesenkt. Der Kampf war so plötzlich unterbrochen worden, wie er begonnen hatte. Eigentlich hätte der Seewolf mit dem Stand der Dinge zufrieden sein können – die „San Carmelo“, Mardengos Galeone, hatte sich mit starker Schlagseite zum Korallenriff zurückgezogen, Gato hatte mit seinem Einmaster ebenfalls die Flucht ergriffen, und Oka Mama und ihre Meute hatten sich nach dem mißglückten Versuch, die „Isabella IX.“ zu entern, in das Dickicht am Fluß zurückgezogen.
Doch es gab keinen Grund zum Frohlocken für die Männer der „Isabella“. Carberry, Roger Brighton und Sam Roskill waren spurlos verschwunden. Im Handgemenge waren sie außenbords geflogen und seitdem nicht mehr gesehen worden. Wo steckten sie?
Hasard zögerte nicht und ließ die große Jolle abfieren. Er wollte selbst an Land gehen und nach den vermißten Männern suchen – auch auf das Risiko hin, erneut von den Piraten überfallen zu werden, wie es bei der ersten Erkundung der Insel der Fall gewesen war.
Die kleine Jolle der „Isabella“ war im Gefecht beschädigt worden, als einer von Mardengos pulvergefüllten Tontöpfen auf dem Hauptdeck explodiert war. Doch auch die achtriemige Jolle war ramponiert, wie sich erst jetzt herausstellte. Ferris Tucker, Al Conroy und Blacky begannen sofort damit, sie wieder instand zu setzen. Sie arbeiteten wie die Besessenen, und auch ihren Mienen war die Sorge über das Schicksal abzulesen, das den Profos, Roger und Sam getroffen hatte.
Keiner der Männer gab sich irgendwelchen Illusionen hin: Es sah böse aus für die drei Vermißten, vielleicht waren sie ertrunken oder im Wasser von den Piraten getötet worden.
Ein Einmaster und ein paar Boote der Piraten dümpelten noch unbemannt im Wasser und wurden von der Strömung des Flusses aufs Meer hinausgetrieben. Mit mindestens einem Boot aber hatten sich Oka Mama und die Kerle zum Ufer in Sicherheit gebracht. Der Rest der Bande hatte sich schwimmend gerettet.
Von Carberry, Roger und Sam gab es keine Spur. Hasard dachte, was auch seinen Männern durch den Kopf ging: Waren die drei noch am Leben, dann mußten sie wenigstens ein Zeichen geben. Oder aber sie kämpften an Land gegen die Freibeuter, die sie zu packen versuchten.
Aber kein Laut, kein Kampfgeräusch, kein Ruf war zu vernehmen. Die Stille war lähmend – und sie schien das Schlimmste zu verheißen.
Noch bevor Ferris, Al und Blacky mit dem Ausbessern der Schäden an der großen Jolle fertig waren, registrierte Dan O’Flynn auf beiden Seiten des Flusses Bewegungen im Gestrüpp.
„Achtung“, sagte er. „Da sind sie wieder.“
Hasard ließ die Kanonen und Drehbassen besetzen, Shane und Batuti hielten Pfeil und Bogen bereit, Ferris Tucker fingerte nach der einen Flaschenbombe, die er noch zur Verfügung hatte. Doch es gab kein sichtbares Ziel – der Feind zeigte sich nicht offen. Nur hin und wieder tauchte zwischen den lappigen Blättern der Mangroven ein Gesicht oder ein Arm auf, verschwand aber sogleich wieder.
Es blieb ruhig, die Piraten schossen nicht auf ihren Gegner. Die Seewölfe sollten nur wissen, daß man jederzeit aus dem Hinterhalt auf sie feuern konnte, was immer sie auch taten.
„Das vereitelt meinen Plan“, sagte Hasard mit verbissener Miene. „Wir hätten schneller sein müssen. Wenn wir die Jolle jetzt abfieren, schießen die Hunde die Bootscrew zusammen.“
„Verdammt und zugenäht“, sagte Ben Brighton. „Wir sitzen in der Falle. Aber wir müssen etwas unternehmen.“
„Warum versuchen wir nicht durchzubrechen?“ wollte Old O’Flynn wissen. „Natürlich fängt der Hurensohn von einem Piratenkapitän dann sofort an zu feuern, aber er ist flügellahm, und wenn wir es geschickt genug anstellen, schießen wir ihm seinen verfluchten Kahn unter dem Hintern weg.“
Hasard schüttelte den Kopf. „Auch das ist zu riskant, Donegal. Mardengo kennt sich im Riff bestens aus und kann problemlos manövrieren. Wir aber haben nicht genügend Bewegungsfreiheit. Außerdem müssen wir gegen den Nordwind kreuzen – eine weitere Behinderung. Die Kerle würden uns von drei Seiten unter Beschuß nehmen, sobald wir den Fluß verlassen. Seht doch!“
Er wies zum Riff. Mardengo hatte das Beiboot der „San Carmelo“ abfieren lassen. Ein paar Kerle pullten zu dem herrenlosen Einmaster, der mittlerweile durch die Strömung fast bis an die Korallenbarriere befördert worden war. Zwei von ihnen enterten über, die anderen kehrten zu der Galeone zurück.
Unterdessen hatte Mardengo Gato signalisiert. Gato manövrierte auf den Einmaster zu, ging längsseits und schickte ebenfalls zwei Männer als Besatzung hinüber. Die Einmaster lösten sich wieder voneinander, Gato steuerte nach Osten, das andere Schiff bewegte sich nach Westen. Beide Passagen, die zwischen der Insel und dem Riff zur See hin bestanden, waren somit abgesperrt.
Der Seewolf hatte recht, es war zu riskant, jetzt den Durchbruch zu wagen. Er konnte auch nicht versuchen, mit der „Isabella“ durch das Riff zu segeln. Mit Sicherheit würde sie auflaufen, und dann war alles aus, denn die scharfen Korallen würden auch einen soliden Eichenholzrumpf mühelos aufschlitzen.
Mardengo indes durfte sich zwischen den Bänken, die teilweise aus dem Wasser aufragten, sicher fühlen. Niemand konnte ihn dort behelligen.
Also war die „Isabella“ wirklich gefangen und konnte nicht entkommen. Hasard wägte die Lage noch einmal genau ab. Trotz der guten Armierung der „Isabella“ und ihrer eigentlichen Überlegenheit gab es keine Chance, die Situation war aussichtslos.
Er biß sich auf die Unterlippe. Es mußte einen Weg geben, die Piraten zu überlisten und Carberry, Roger und Sam zu helfen, falls überhaupt noch der Schimmer einer Hoffnung bestand, daß sie am Leben waren.
„Ferris“, sagte der Seewolf. „Hör auf, an der Jolle herumzuflicken, das hat jetzt keinen Zweck. Ich habe eine andere Idee.“
Verblüfft und ratlos zugleich blickten die Männer der „Isabella“ zu ihrem Kapitän. Was hatte er vor? Keiner von ihnen konnte es erraten. Daß Hasard jedoch einen konkreten Plan hatte, sahen sie ihm an. Seine Miene veränderte sich und wurde hart und verwegen. In seinen eisblauen Augen schienen mit einemmal Funken zu tanzen. Das war das unverkennbare Zeichen: Er gab sich nicht geschlagen. Er hatte vor, Mardengo noch einmal das Fürchten zu lehren.
Carberry öffnete vorsichtig die Augen. Es war kein Vorteil, das Bewußtsein wiederzuerlangen, er verspürte stechende Schmerzen im Hinterkopf und in der linken Schulter. Sofort konnte er sich an alles erinnern: Die Alte, diese wilde Furie, hatte im Wasser wie verrückt mit einem Messer auf ihn eingestochen. Er hatte trotzdem bis zum Ufer des Flusses schwimmen können, aber hier hatte man ihn von hinten niedergeschlagen.
Er wollte sich aufrichten, aber die Läufe von drei Musketen schoben sich in sein Blickfeld. Er schaute auf und sah sich von dreckig und gemein grinsenden Kerlen umringt. Es waren vier, der eine hatte einen Säbel, den er drohend hin und her bewegte.
„Ihr Pestwanzen“, sagte der Profos. Seine Augen verengten sich zu Schlitzen, seine Hände ballten sich zu Fäusten. „Ihr Schlickfresser, ihr triefäugigen Prielwürmer. Ihr bildet euch auch noch was darauf ein, einen Seemann von hinten umzuhauen, was, wie?“
Sie antworteten nicht. Er musterte sie und fragte sich, aus welcher Ecke der Welt sie wohl stammen mochten. Mardengos Bande, soviel wußten die Seewölfe bereits, war ein kunterbunt zusammengewürfelter Haufen von Kerlen aus aller Herren Länder. Engländer schienen aber nicht dabeizusein. Deshalb versuchte er jetzt, sie auf spanisch anzusprechen.
„Ihr Ratten“, sagte er. „Nehmt eure Schießeisen zur Seite, dann zeige ich euch, wie ein Profos kämpft. Na, wird’s bald?“
Einer der Piraten stieß einen Fluch aus, drehte seine Muskete um und rammte den Kolben gegen Carberrys verletzte Schulter. Carberry schloß die Augen für einen Moment, dann öffnete er sie wieder. Er zog keine Grimasse und gab auch keinen Wehlaut von sich, obwohl die Schmerzen höllisch waren.
„Wir unterhalten uns später genauer, du Sohn einer abgetakelten Hafenhure“, sagte er. Und er merkte sich das Gesicht des Kerls. Er konnte es sich leicht einprägen: schwarzer Vollbart, Klappe über dem linken Auge. Wir rechnen ab, verlaß dich drauf, dachte Carberry.
Die vier Kerle stießen die übelsten Verwünschungen aus, ein Zeichen dafür, daß sie Carberrys grauenvolles Spanisch verstanden hatten. Der Mann mit dem Säbel holte zu einem Tritt aus, aber in diesem Augenblick raschelte es im Dickicht.
Zwei der Kerle fuhren herum, aber der dritte und der vierte hielten ihre Waffen unverändert auf den Profos gerichtet. Er hatte keine Chance, er war ihr Gefangener – eine kostbare Geisel vielleicht, die aufzugeben sie um keinen Preis bereit waren. Okachobee, die von allen nur Oka Mama genannt wurde, hatte einen klaren Befehl erteilt: Die Gefangenen durften nicht getötet werden.
Oka Mama, der Korse und die beiden jungen Schwarzen traten aus dem Gestrüpp. Carberrys Bewacher atmeten auf.
Oka Mama versetzte einem der Schwarzen einen Stoß und zischte: „Versuch das nicht wieder, du Hund, oder ich schneide dir deinen Haarschopf ab.“
Unwillkürlich griff sich der Sklave an den Kopf. Er rollte mit den Augen und stammelte: „Nein, Mama, du irrst dich. Wir wollten nicht fliehen.“
„Nein, wir wollten nicht abhauen“, beteuerte auch der andere.
„Ihr könnt mir viel erzählen“, sagte die Alte verächtlich. „Euch glaube ich kein Wort. Wie gut, daß wir euch rechtzeitig genug entdeckt haben, als ihr von der ‚San Carmelo‘ ins Wasser gesprungen seid.“
„Wir hatten Angst“, sagte der erste Sklave.
„Ja“, sagte der Korse und grinste. „Aber ihr hättet euch gern eins der Boote geschnappt, die vom Fluß zum Riff getrieben sind. Ihr wart ja schon fast an Bord. Dann habt ihr Oka Mama und mich gesehen und habt es euch anders überlegt.“
„Das is’ nich’ wahr“, stammelte der zweite Sklave und schüttelte den Kopf.
„Mir ist scheißegal, ob es wahr ist oder nicht!“ stieß Carberry wütend hervor. Sein Blick war auf Oka Mama gerichtet. „Da bist du ja, du ausgetrocknete Sumpfhenne! Hast du dich ausgetobt? Was, zum Teufel, hast du auf dieser Insel zu suchen?“
Sein Spanisch war wirklich furchtbar, der Korse verzog das Gesicht.
Oka Mama beugte sich über den Profos und lächelte ihn scheinbar freundlich an. „Ich bin Okachobee, Mardengos Mutter. Genügt dir das? Wer bist du? Der Kapitän des Engländerschiffes?“
„Nein. Ich bin der Profos. Wo, zur Hölle, sind meine Kameraden Roger Brighton und Sam Roskill?“
Oka Mamas Stimme war zuckersüß, sie spitzte beim Sprechen die Lippen. „Wie waren die Namen? Ich habe sie nicht richtig verstanden.“
„Roger Brighton und Sam Roskill. Roger ist Bens Bruder, und Sam … Aber, ach, das kapierst du ja doch nicht, du alte Nebelkrähe.“
Carberry schien sie mit seinem Blick durchbohren zu wollen. „Stell dich nicht dümmer, als du bist. Du weißt, wo sie sind. Sie sind kurz nach mir über Bord gegangen, ich hab’s noch gesehen.“
„Das müssen die beiden anderen Gefangenen sein“, sagte der Korse.
„Aha, sie leben also noch?“ sagte Carberry.
Oka Mama warf dem Korsen einen giftigen Blick zu, und der verstummte. Oka Mama wollte den großen Mann mit den vielen Narben im Gesicht und dem auffallenden Rammkinn ein wenig zappeln lassen, er sollte im Ungewissen bleiben, was das Schicksal seiner beiden Kameraden betraf. Sie haßte ihn, denn er hatte ihr an Bord der „Isabella“ schwer zugesetzt und dazu beigetragen, daß das Enterunternehmen gescheitert war. Jede Art, ihn zu quälen, war ihr recht.
Mardengo wußte inzwischen Bescheid. Oka Mama hatte sich durch den Dschungel bis zum Nordufer der Insel gearbeitet – unter sorgsamer Meidung der Fallen, die überall versteckt waren. Mit einer Glasscherbe hatte sie ihm signalisiert, daß sie drei Gefangene hätte. Mardengo wollte sich diese Männer aus der Nähe ansehen. Er enterte eben von der „San Carmelo“ ab, begab sich an Bord des Beibootes, legte ab und pullte zur Insel, wobei er darauf achtete, nicht in die Reichweite der gegnerischen Kanonen zu geraten.
Die Männer der „Isabella“ beobachteten ihn, doch das war ihm egal. Er beglückwünschte sich im stillen zu dem Verlauf der Dinge und rechnete sich schon jetzt aus, welche üble Überraschung er dem „verdammten englischen Bastard“ gleich bereiten würde.
Mardengo winkte Gato zu, der von Bord des Einmasters zu ihm herübergestikulierte. Auch Gato hatte die Blinkzeichen verstanden, die Oka Mama vom Ufer aus mit der Bleiglasscherbe gegeben hatte. Trotz der Niederlage an Bord des feindlichen Schiffes schien jetzt klar zu sein, wer der Sieger war, dies leuchtete auch Gato ein.
Der Engländer, so dachte Mardengo, wagt nicht, seine Männer zu opfern. Er wird alles tun, um sie zu retten. Er hält es mit der Ehrenhaftigkeit und Fairneß. Gut so. Das bricht ihm das Genick.
Er steuerte auf die östliche Seite des Nordufers zu, pullte durch die flache Brandung und landete. Der Bug des Bootes schob sich in den Sand. Mardengo stieg aus, zog das Boot ein Stück hinter sich her und tauchte dann im dunklen Grün des Dschungels unter.
Oka Mama, der Korse, die vier anderen Piraten und die beiden Negersklaven standen schweigend bei Carberry und warteten auf Mardengo. Oka Mama wußte, daß er erscheinen würde, er brannte darauf, die Gefangenen zu sehen. Diese Genugtuung ließ sie ihm, er sollte entscheiden, wie es weiterging.
Sie war wütend auf Mardengo gewesen, weil er in Fort St. Augustine versagt hatte und als Verlierer heimgekehrt war. Doch inzwischen hatte sie ihm verziehen. Was für ein zäher Gegner der Engländer war, hatte auch sie erfahren – und sie konnte ihrem Sohn nachempfinden, wie es ihm ergangen war.
Carberry lag auf dem feuchten Inselboden und grübelte darüber nach, wo Roger und Sam sein könnten. War es ihnen gelungen, wieder die „Isabella“ zu entern? Unmöglich. Die Piraten hatten es verhindert, zu viele von ihnen hatten sich im Wasser befunden. Wo steckten Roger und Sam?
Roger und Sam waren auf Befehl Oka Mamas längst zum Zentrum der Insel abtransportiert worden. Vier Piraten hatten diese Aufgabe ausgeführt, und sie hatten auch den Auftrag, nach den sechs Mädchen zu sehen, die von Oka Mama in eine der Hütten gesperrt worden waren. Aber von alledem ahnte der Profos nichts.
2.
Hasard war nicht entgangen, daß Mardengo die „San Carmelo“ verlassen hatte und zur Insel pullte. Doch das änderte nichts an seinem Plan. Er hing bereits am Ruderblatt der „Isabella“ und ließ sich langsam nach unten gleiten. Er hielt sich an einem Tau fest, das von der Heckgalerie herunterbaumelte.
Niemand sah ihn, weder vom Riff aus noch von den beiden Ufern des Flusses, denn das Heck der „Isabella“ lag zu diesem Zeitpunkt dem oberen Lauf des Flusses zugewandt. Die Beobachter im Dschungel indes befanden sich weiter abwärts, in dem der See nahe liegenden Bereich der trichterförmigen Mündung.
Hasard tauchte im Wasser ein, holte tief Luft und sank dann ganz unter die Oberfläche. Das Tau ließ er los. Ben würde es wieder bergen, er hatte alle erforderlichen Anweisungen, wie er sich zu verhalten hatte. Während Hasards Abwesenheit hatte er das Kommando über die „Isabella“.
Hasard mußte um jeden Preis handeln, er hatte seiner eigenen Ansicht nach bereits lange genug gezögert. Im Alleingang begab er sich auf Pirates’ Cove zurück, und er hatte sich fest vorgenommen, einen Weg zu finden, der sie alle aus der Falle, in der sie festsaßen, herausführte.
Er tauchte so weit wie möglich und schwamm gegen die Strömung an. Er zwang sich, nicht an die möglichen Gefahren zu denken – nicht an die Alligatoren, die Piranhas und Zitteraale, die hier lauern konnten. Die Fauna der Karibik war ihm zur Genüge bekannt – und diese Insel gehörte erdkundlich bereits zur Karibik und nicht mehr zum nördlichen Teil der Neuen Welt. Florida hatte insgesamt eher tropischen Charakter, wie die Seewölfe bei ihrem jüngsten Abstecher zu der großen Halbinsel festgestellt hatten, die vorher nie von ihnen bereist worden war.
Hasard hatte Glück und gelangte unbehelligt in die Flußregion, deren Ufer zu beiden Seiten dicht mit Mangroven und anderen Pflanzen bewachsen waren. Er beendete den Tauchvorgang, indem er auf das westliche Ufer zusteuerte und sich hinter der Deckung von Luftwurzeln vorsichtig hochschob. Endlich konnte er wieder Luft schöpfen.
Er konnte die „Isabella“ sehen, von den Piraten aber war nichts mehr zu entdecken. Von jetzt an blieb es seinem Geschick und seiner List überlassen, sie zu hintergehen und zu überrumpeln. Welche Chancen er hatte, es tatsächlich zu schaffen? Diese Frage stellte er sich nicht. Er wußte, daß es keinen Sinn hatte.
Seine Männer hatten protestiert. Sie wollten ihn begleiten und es nicht zulassen, daß er allein auf die Insel zurückkehrte, deren Urwald mit Fallen gleichsam gespickt zu sein schien.
Little Ross hatte auch mitkommen wollen, ebenso Tamao und Asiaga. Hasard hatte jedoch alle Angebote abgelehnt. Selbst zwei Männer würden zu sehr auffallen, nur einer allein hatte eine Chance, sich ungesehen fortzubewegen – von diesem Grundsatz ging er aus.
Am Ende hatte er sich jede weitere Debatte verbeten. Ben hatte seine klaren Anweisungen – und auch Ferris Tucker wußte, was er zu tun hatte. Wenn sie ihren Teil des Plans erfolgreich ausführten, hatte auch er größere Chancen, die Piraten irgendwie zu übertölpeln.
Das mußte den Arwenacks einleuchten, und sie hatten es schließlich auch eingesehen. Sie rechneten sich jetzt aus, wie weit Hasard gelangt sein konnte, und sie drückten ihm die Daumen, daß alles so klappte, wie er sich das vorstellte.
Hasard war mit einem Entermesser und einem Messer bewaffnet. Zum Überleben zuwenig, zum Sterben zuviel, dachte er und mußte unwillkürlich grinsen. Wo sollte er Carberry, Roger und Sam suchen? Lebten sie überhaupt noch? Auch darüber durfte er nicht grübeln, es brachte ihm nichts ein.
Vorsichtig kletterte er an Land und schlüpfte in das Dickicht. Von jetzt an mußte er höllisch auf der Hut sein. Bekanntschaft mit den tückischen Fallen hatten seine Männer und er bereits geschlossen, auf jedem Yard konnte eine Grube, ein vergifteter Pfeil oder eine Schlinge auf ihn warten.
Doch es war noch hell genüg, er konnte genug sehen und arbeitete sich systematisch voran. Wo lag das eigentliche Lager der Piratenbande, das Versteck? Befand es sich an der östlichen Bucht, die er bei seiner Ankunft von der See aus gesehen hatte? Oder vielleicht im Inneren der Insel? Wenn er das erst einmal erkundet hatte, war er schon ein Stück weiter.
Vielleicht hat man Ed, Roger und Sam dorthin geschafft, dachte er.
Galeonen näherten sich Pirates’ Cove – die „Santa Veronica“ segelte an der Spitze ihrer sechs Dreimaster direkt auf die Insel zu. Grollender Kanonendonner hatte Don Augusto Medina Lorca und Don Lope de Sanamonte auf das Gefecht hingewiesen, das dort stattfand. Das Lärmen war jetzt verstummt, und auch der Rauch hatte sich in fetten, schwarzen Schwaden nach Süden verzogen. Doch die Schiffe behielten ihren Kurs bei. Don Augusto und Don Lope wollten genau wissen, was vorging – und ob möglicherweise das vermißte Schiff „San Carmelo“, das zum Verband gehört hatte, dort in einen Kampf verwickelt war.
Hoch am Wind segelten die Galeonen mit Backbordhalsen und über Steuerbordbug liegend, liefen gute Fahrt und waren von ihrem Ziel nicht mehr weit entfernt. Sie bewegten sich in Kiellinienformation, denn immer wieder mußten sie den gefährlichen Unterwasserbarrieren ausweichen, die sich ihnen in den Weg schoben.
Ohne den Lotsen, der auf dem Achterdeck zwischen Don Lope und Don Augusto stand, wäre das nicht möglich gewesen. Unweigerlich wären die Schiffe auf die Riffe gelaufen und hätten auf dieser mörderischen Falle ihre Reise beendet.
Don Lope hatte seine Pistole in der Hand, er war bereit, den Lotsen jederzeit durch einen Schuß niederzustrecken, falls er wagte, sie in eine Falle zu führen, die dem Geleit zum Verhängnis wurde. Er, Don Lope, hatte diesen Kerl gezwungen, die Aufgabe zu übernehmen, aber er war immer noch nicht sicher, ob er ihm trauen durfte.
Der Kerl gehörte zu den Piraten von Mardengos Bande, die nach der Schlacht bei Daytona gefangengenommen worden waren. Don Augusto hatte sie bereits verhört, aber sie hatten alle dichtgehalten und nichts über Mardengo und dessen Schlupfwinkel, nach dem die Spanier seit Jahren fahndeten, verraten.
So war der Verband bis zu den Marquesas-Inseln gesegelt und hatte dort vergeblich nach Mardengo, nach dem englischen Freibeuter, der den Schatz von St. Augustine an Bord hatte, und nach der „San Carmelo“ gesucht. Die ganze Aktion war ein Schlag ins Wasser gewesen. Was sollte Don Augusto jetzt noch tun? Er war ratlos; doch dann waren die Kanonenschüsse gefallen, die nicht nur Don Lope und ihn, sondern die Besatzungen der sieben Galeonen alarmiert hatten.
Don Lope ließ den Piraten nicht aus den Augen. So entging ihm auch nicht die äußere Veränderung des Mannes. Er war kalkweiß im Gesicht geworden und schwitzte. Seine Lippen bebten leicht, sein Blick war starr vorausgerichtet. Kaum noch zu vernehmen waren die Worte, mit denen er die erforderlichen Kurskorrekturen gab.
„Was ist los?“ fragte Don Lope lauernd. „Ist dir schlecht? Hast du erkannt, um welche Insel es sich handelt?“
„Es geht mir gut. Ich kenne diese Insel nicht.“
„Du verheimlichst uns etwas“, zischte Don Lope. „Du weißt, wer da in die Gegend feuert, nicht wahr?“
„Ich weiß es nicht.“
„Mir kannst du nichts vorschwindeln“, sagte Don Lope. „Heraus mit der Sprache – wie heißt die Insel? Und was erwartet uns dort?“
Der Mann schwieg. Don Lope stieß einen Fluch aus und rammte ihm den Kolben seiner Pistole in den Leib. Stöhnend krümmte sich der Pirat. Don Lope stieß noch einmal zu, dann versetzte er ihm zusätzlich einen Tritt und verfolgte, wie er auf die Planken sank.
„Sprich – oder ich töte dich!“ schrie er ihn an. „Was geht hier vor? Du weißt es!“
Der Mann antwortete wieder nicht. Don Lope wollte sich auf ihn stürzen, doch jetzt war es Don Augusto, der ihn zurückhielt.
„Schluß“, sagte Don Augusto. „Das geht selbst mir zu weit, werter Don Lope.“
„So?“ Don Lopes Gesicht war zu einem höhnischen Ausdruck verzerrt. „Haben Sie Mitleid mit diesem Hundesohn? Das kann doch wohl nicht Ihr Ernst sein.“
„Ich bedaure ihn nicht. Aber wir brauchen ihn noch.“
„Merken Sie denn nicht, daß hier etwas faul ist, Don Augusto?“ sagte Don Lope heftig.
„Wir sehen uns die Insel genau an, ehe wir sie anlaufen. Ich weiß mich vor Fallen zu schützen – und ich habe bislang noch keine solche Niederlage wie Sie erlitten, mein Bester.“ Scharf war seine Stimme geworden, und Don Lope zuckte fast zusammen, als er die Anspielung auf die Ereignisse in Fort St. Augustine vernahm.
Er schwieg und ließ zu, daß der Lotse sich erhob. Der Pirat trat wieder an die Querbalustrade des Achterdecks und blickte voraus. Pirates’ Cove war jetzt mit dem bloßen Auge zu erkennen.
Der Pirat konnte das Zittern seiner Hände und Lippen kaum noch verhindern. Er hatte Angst, aber nicht vor Don Augusto und Don Lope. Er fürchtete sich vor der Rache, die Mardengo, Gato und Oka Mama an ihm üben würden, wenn sie erfuhren, daß er die Spanier zu dem geheimen Schlupfwinkel geführt hatte. Sie würden ihm nicht verzeihen und ihn eines grausamen Todes sterben lassen.
Der Pirat schloß die Augen. Es wäre besser gewesen, wenn er sich in der Vorpiek der „Santa Veronica“ von Don Lope hätte umbringen lassen. Aber jetzt ließ sich daran nichts mehr ändern. Er mußte den Dingen ihren Lauf lassen und konnte sie nicht mehr beeinflussen. Keine Stunde würde vergehen, und der Verband hatte Pirates’ Cove erreicht.
Mardengo stand breitbeinig vor Carberry und blickte ihn triumphierend an.
„Du blutest wie ein Schwein, Kerl“, sagte er. „Du wirst langsam und elend verrecken. Ihr alle werdet sterben, das schwöre ich dir. Es war ein schwerer Fehler von euch, uns hierher zu folgen.“
Carberry grinste. Er hatte immer noch große Schmerzen, und die Schulter hörte nicht auf zu bluten, aber seine Wut war größer als jede körperliche Qual. Es war eine seltsame Reaktion, daß er grinste, aber unter den gegebenen Umständen hielt er es für das beste, denn er wollte Mardengo, Oka Mama und die anderen Gegner reizen. Solange sie sich an ihm ausließen, waren sie von der „Isabella“ abgelenkt, und Hasard und die anderen hatten eine Chance, etwas zu unternehmen. Was, wußte er selbst nicht. Aber Hasard wird schon etwas einfallen, sagte er sich.
Mardengo zog sein Messer. „Du hörst gleich auf zu grinsen“, sagte er. „Warte. Du sollst die Sterne sehen.“
„Es ist noch nicht dunkel“, sagte Carberry.
Mardengo fluchte und wollte sich auf ihn stürzen, doch Oka Mama hielt ihn zurück.
„Laß dich von ihm nicht reizen“, zischte sie. „Das will er doch nur erreichen. Begreifst du das nicht?“
Mardengo ließ das Messer langsam sinken. „Doch“, erwiderte er. „Aber wenn er so weitermacht, kann ich für nichts garantieren. Wir haben ja auch noch die beiden anderen Kerle, oder?“
Oka Mama antwortete nicht. Carberry grinste immer noch und sagte: „Aha, Roger und Sam leben also noch.“
„Steh auf!“ befahl Oka Mama.
Carberry mußte sich aufrappeln, ihm blieb nichts anderes übrig. Als er leicht wankend vor ihnen stand, vertauschte Mardengo das Messer mit der Pistole und forderte ihn durch einen Wink auf, vor ihm her durch den Dschungel zu gehen.
Auch dieser Aufforderung mußte der Profos Folge leisten, er hatte keine andere Wahl. Mardengo dirigierte ihn mit der Pistole vor sich her durch das Dickicht, Oka Mama folgte ihnen. In ihrem Geleit befanden sich die vier Piraten. Der Korse hatte sich mit den beiden Negersklaven zum Lager entfernt, um dort auf Oka Mamas Befehl hin nach dem Rechten zu sehen und die Hütten nach allen Seiten hin abzusichern. Die Engländer schienen in der Falle zu sitzen, dennoch traute Oka Mama dem Frieden nicht und wollte sicher sein, alles getan zu haben, was dem Schutz des Lagers dienen konnte.
Carberry kochte vor Wut. Wie ein Anfänger hatte er sich übertölpeln lassen, dazu noch von einem alten Hutzelweib, wie er Oka Mama im stillen nannte. Er konnte sich diese Niederlage selbst nicht verzeihen und hörte nicht auf, sich selbst zu beschuldigen.
Was aber viel schlimmer war: Er hatte immer noch keine Ahnung, wo sich Roger und Sam befanden. Immer wieder grübelte er darüber nach, was mit ihnen geschehen sein konnte. Wenn sie tot waren, würde er sich ein gewisses Mitverschulden zuschreiben, denn er hätte zumindest versuchen können, etwas für ihre Rettung zu tun, als er im Wasser gelandet war.
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