Читать книгу: «Seewölfe - Piraten der Weltmeere 302»

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Impressum

© 1976/2017 Pabel-Moewig Verlag KG,

Pabel ebook, Rastatt.

ISBN: 978-3-95439-699-3

Internet: www.vpm.de und E-Mail: info@vpm.de

Inhalt

Kapitel 1

Kapitel 2

Kapitel 3

Kapitel 4

Kapitel 5

Kapitel 6

Kapitel 7

Kapitel 8

Kapitel 9

Kapitel 10

1.

Jaulend strich der Wind um das scheunengroße Gemäuer hinter dem Deich von Norderney, in dem gelacht und getrunken, geflucht und gespielt wurde. An den Fensterläden rüttelte er, zerrte an den Dachpfannen, eilte weiter, trieb Schneisen in den kniehohen Strandhafer, fauchte zwischen den tiefer im Inselinneren errichteten Gemäuern hindurch und raste nach Süden über das Wattenmeer weg zum Festland hinüber.

Zu dem Heulen des Windes gesellte sich das Rauschen der See. Hohe Brandungswellen liefen gegen Strand und Deich an und brachten die kleinen Boote an den Piers, die wie dürre Finger in die Nacht hinausragten, zum Tanzen.

Schweren Schrittes verließ Onno Osten das Wirtshaus hinter dem Deich und rammte die Bohlentür hinter sich zu. Er spuckte aus, wischte sich mit der Hand über den Mund, versenkte beide Hände tief in den Hosentaschen und stapfte zum Deich hoch, wobei er leicht ins Wanken geriet.

Doch es war nicht der rauhe Wind, der sein Gleichgewicht etwas unsicher werden ließ – es waren das viele Bier und die Schnäpse, die er getrunken hatte.

Gezecht und gelärmt hatte er mit seinen Freunden, was ihn mit unbändiger Freude erfüllte. Nachdem er noch rasch seinen Schlenderschluck zu sich genommen hatte – wie die Friesen dies nannten – trieb es ihn nun mit Macht nach Hause zu Herma, seiner Frau, der er von seinem Glück zu berichten gedachte.

Gut den Ablauf eines Stundenglases lang, also eine halbe Stunde, stand er wie festgenagelt oben auf dem Deich und blickte starr nach Norden, auf die See hinaus. Manchmal lehnte er sich etwas vor, dann wieder zurück, aber nie geriet er völlig aus der Balance.

Der eisigkalte Januarwind pfiff ihm mitten ins Gesicht und versuchte, seine mächtige Gestalt zu packen. Aber nichts konnte einen Mann wie Onno umwerfen, leichter war es, einen Baum zu fällen. Er war über sechs Fuß groß und hatte schrankbreite Schultern. Sein wuchtiger Kopf saß scheinbar halslos auf dem stiernackigen Oberkörper, sein leicht fliehendes Kinn führte zu dem dünnlippigen Mund hinauf, der nichts von dem ausdrückte, was in seinem Hirn vor sich ging.

Es arbeitete hinter Onno Ostens Stirn, und hin und wieder zuckte es in seinem breiten, von einem feinen Netz roter Äderchen durchzogenen Gesicht. Doch der Schnaps und das Bier hatten seinen Geist umnebelt, er brauchte seine Zeit, um zu einem vernunftsmäßigen Schluß dessen zu gelangen, was er sah.

Schließlich stieß er einen Laut aus, der einer Mischung aus Grunzen und Seufzen glich, und seine winzigen blauen Augen verengten sich zu Schlitzen.

„Sturm wird’s geben“, brummte er, dann wandte er sich um und verließ den Deich. Auch diese bedeutungsschwere Erkenntnis wollte er Herma mitteilen, falls sie von dem Schlechterwerden des Wetters noch nichts bemerkt hatte – was er nicht annahm.

Schweigend durchquerte er den wilden Hafer. Der vom Regen des Tages aufgeweichte Untergrund schmatzte unter seinem groben Schuhwerk. Ohne auch nur ein weiteres Wort zu sich selbst zu sagen, wanderte er auf die trostlose Ansammlung von Häusern zu, die die Menschen von Norderney stolz „das Dorf“ zu nennen pflegten.

Fast war Onno schon an dem ersten, größten Gebäude vorbei, da hob er seinen Blick – und blieb wie vom Donner gerührt stehen.

Es waren nicht die wenigen Lichter, die aus einigen Fenstern, deren Läden noch nicht verschlossen waren, ins Freie fielen. Es war der fahle Schein des Mondes, der ihm zu der grausigen Entdeckung verhalf.

Hätten die Wolken in diesem Augenblick den Mond verdeckt, wäre Onno auf das, was sich hier seinen Augen darbot, wahrscheinlich nicht aufmerksam geworden. So aber blieb er stehen und starrte wie gebannt auf das Tor des großen Hauses. Seine Lippen bewegten sich plötzlich heftig und schienen ein Wort formen zu wollen, doch es drang nur Unverständliches aus seinem Mund.

Das, was vom Balken über dem Tor herabbaumelte, mochte beim ersten Hinsehen wie ein Sack voll Lumpen wirken, aber Onno begriff trotz seiner Trunkenheit, daß der Schein trog. Er überwand seinen inneren Widerstand und näherte sich mit linkischem Schritt der reglosen Gestalt. Dann berührte er ihr Bein.

Er wollte sich nicht nur davon überzeugen, daß der, der da hing, ein offensichtlich toter Mensch war. Er wollte auch wissen, um wen es sich handelte. Fast zuckte er zusammen, die Erkenntnis traf ihn wie ein Hieb.

„Klusmeier“, murmelte er.

Er ließ das Bein des Toten los, drehte sich um und ging davon. Er wandte nur noch einmal den Kopf und blickte über die Schulter zurück zu dem Unglücklichen, dann strebte er seinem Heim zu, entschlossen, sich nicht mehr aufhalten zu lassen, durch nichts auf der Welt. Gleich drei Neuigkeiten an diesem Abend, und das auf der unwirtlichen Insel, die nur selten etwas Interessantes bot, wenn man von den Aktivitäten ihrer Bewohner absah.

Onno Osten stieß fast gegen die Tür seiner Behausung, so eilig hatte er es. Er brauchte wieder eine ganze Weile, um die Tür zu öffnen, und er bemerkte nichts von dem, was innen vorging, konnte nichts wissen und nicht ahnen, zumal er im Moment viel zu aufgeregt war.

„Herma“, sagte er mit undeutlicher, dumpfer Stimme, aber Herma schien nicht zu hören, da sie nichts erwiderte.

Es muß wohl an dem verdammten Sturmwind liegen, dachte Onno.

Herma Osten lag unbekleidet auf ihrem Ehebett. Der Mann, der sich lächelnd über sie beugte, war so groß wie Onno, und auch seine Schultern waren so breit wie die ihres Mannes. Aber sonst unterschied ihn so manches von Onno, nicht nur die strohblonden Haare, die er lang trug und nicht stoppelkurz wie jener, sondern vor allen Dingen das, was in seinem Kopf geschah, wenn er zu denken begann, und auch alles andere, was er als echter Kerl von Norderney vorzuweisen hatte.

Er war der bedeutendste und reichste Mann der Insel, der Kopf der Sippe, die hier das Wort führte. Es erfüllte Herma mit Stolz, daß er schon seit einiger Zeit ein Auge auf sie geworfen hatte. Sie hatte alles darangesetzt, ihn zu sich ins Haus zu locken, und er hatte sich nicht zweimal bitten lassen.

Jetzt war er da und bemühte sich um sie, wie es Onno nur höchst selten tat. Eine Woge der Wonne durchlief sie. Am liebsten hätte sie vor Glück laut aufgeschrien, aber sie bezwang sich, denn sie befürchtete, daß man es in den anderen Häusern trotz des Sturmwindes vernehmen könnte.

Plötzlich hielten sie inne, denn sie hatten beide das Rumoren an der Haustür gehört. Herma richtete sich halb auf.

Der Mann wollte sie auf das Bett zurückdrücken, doch sie hob in einer beschwörenden Geste die rechte Hand und raunte ihm zu: „Das kann nur Onno sein. Gleich ist er hier und – mein Gott, Groot-Jehan, er darf uns nicht zusammen erwischen.“

Lüder Groot-Jehan lachte leise. „Hab doch nicht solche Angst. Vielleicht ist er viel zu besoffen, um noch klar etwas zu erkennen. Ich verstekke mich hier im Zimmer, und wenn er eingeschlafen ist, machen wir weiter.“

„Nein, Groot-Jehan! Das – das kann ich ihm nun doch nicht antun!“ stieß sie entsetzt hervor. „Das ist nicht recht!“

„Ach? Meinst du das wirklich im Ernst?“ fragte er spöttisch. „Ja. Alles hat seine Grenzen.“ Sie stand auf und wollte zur Tür eilen, besann sich aber gerade noch rechtzeitig genug ihres Zustandes.

Während sie in aller Eile ihre Kleidungsstücke zusammenraffte, trat Lüder Groot-Jehan hinter sie, griff nach ihren Schultern, beugte sich über sie und küßte ihren Hals.

„Ich bin verrückt nach dir“, sagte er leise.

„Ich doch auch“, flüsterte sie und stöhnte verhalten auf.

„Zum Teufel mit Onno.“

„Sag das nicht. Er gehört doch – zu uns“, wisperte sie, und das schlechte Gewissen begann immer stärker bei ihr zu pochen. „Geh jetzt. Ich flehe dich an – geh!“

„Na gut“, brummte Groot-Jehan. „Ich achte deine Gefühle.“ Auch er begann sich hastig anzuziehen, während an der Vorderseite des Hauses Schuhe hart gegen die Bohlen schlugen und Onno vor sich hin fluchte.

Groot-Jehan küßte die Frau noch einmal, dann raunte er ihr zu: „Aber ich komme wieder, verlaß dich drauf. Noch heute nacht.“

„Nein! Onno bringt dich um!“

„Ach, Unsinn.“ Groot-Jehan lächelte wieder. Er hatte ein markantes, wettergegerbtes Gesicht, in dem blaugraue Augen funkelten. „Du weißt doch schon, was geschehen ist. Die Sippe und das Dorf müssen zusammenhalten – darum geht es mir. Verstehst du jetzt?“

„Ja“, hauchte sie.

Dann entließ sie ihn durch eins der hinteren Fenster, und er tauchte unbemerkt in der Nacht unter. Herma verließ das Schlafzimmer und ging zur Tür.

Genau in diesem Augenblick hatte Onno seinen Kampf gegen die Tücke des Objekts gewonnen und stieß die Tür auf. Polternden Schrittes trat er in den Wohnraum, blieb bei ihrem Anblick stehen und sagte leicht lallend: „Korn, Herma!“

„Korn?“ wiederholte sie verwundert und musterte ihn von oben bis unten. „Hast du nicht schon genug getrunken? Weißt du, wie spät es ist? Ich habe schon geschlafen. Du hast mich aus dem Bett geschreckt.“

Er brummelte etwas, das wie eine Entschuldigung klang, dann ließ er sich auf einen der Stühle an dem klobigen Eichenholztisch sinken. Herma holte nun doch lieber die Flasche mit dem Korn und füllte einen Becher bis zur Hälfte mit dem leicht süßlich riechenden Schnaps.

Onno seufzte, hob den Becher an den Mund und trank ihn in einem Zug aus.

„Nun rede doch endlich“, sagte sie. „Du bist ja ganz durcheinander. Was ist geschehen? Ich sehe dir an, daß was passiert ist. Hat es eine Schlägerei gegeben? In der Kneipe? Müßt ihr euch immer prügeln?“

Onno schüttelte wie ein benommener Stier sein Haupt. „Nee. Aber es geht wieder los.“

„Was geht wieder los?“

„Klusmeier hängt bei Groot-Jehans am Tor und ist mausetot. Ich hab ihn eben gesehen.“ Großzügig goß sich Onno noch einen Schluck Korn ein. „Keine Angst, ich habe ihn da hängen lassen.“

„Der arme Klusmeier“, sagte Herman entsetzt. Eigentlich wußte sie ja bereits alles durch Lüder Groot-Jehan, doch die Art, wie Onno ihr die Angelegenheit vortrug, weckte ihre Bestürzung von neuem, so daß nichts an ihrem Gesichtsausdruck geheuchelt war. „Er war doch Groot-Jehans bester und treuester Knecht. Mein Gott! Das waren sicher wieder die Lütt-Jehans. Können die uns denn nie in Ruhe lassen?“

„Weiß ich nicht“, brummte Onno und nahm wieder den Becher an die Lippen. Er wurde jetzt redseliger und erzählte auch den Rest – daß er einen halben Groschen gewonnen hätte und daß es Sturm geben würde. Danach sprach er aber gleich wieder von dem Toten und erklärte noch einmal: „Es geht wieder los. Mit Mord und Totschlag. Junge, Junge.“

„Das ist doch noch gar nicht erwiesen“, sagte Herma leise. „Vielleicht gibt es doch wieder einmal eine Einigung zwischen Norderney und Baltrum.“

„Und wenn’s Krieg gibt?“ fragte Onno mit finsterer Miene.

Er sah jetzt schon deutlich vor sich, wie sich die Bewohner beider Inseln gegenseitig auslöschten, wie nichts von ihnen und ihren Dörfern übrigblieb. Der Korn heizte seine Phantasie an, und er nahm noch einen Schluck zu sich. Es ist das Ende, dachte er, aber wenn die Lütt-Jehans am Strand landen, hauen wir auf sie ein, bis das ganze Stroh aus ihren verdammten Körpern rausfliegt.

Die Friesen auf Norderney und Baltrum ernährten sich vom Fischfang und von der Jagd. Im Winter hockten sie oft tagelang in ihren gut getarnten Unterständen am Strand und warteten auf Graugänse und Enten, die sie mit ihren Flinten vom Himmel holten. Sie sammelten auch gern Möweneier aus den Nestern der Strandhaferfelder, um sie in ihren Steinöfen zu backen, und verminderten auf diese Weise den Vogelbestand, was sie aber nicht weiter beeindruckte.

Eine weitere Existenzquelle war den Friesen die Piraterie und die Strandräuberei, die sie eifrig betrieben. Auf Norderney lebte die Sippe der Groot-Jehans, die gut achtzig Prozent der Bevölkerung stellte. Männer wie Onno Osten und seine Frau Herma galten als „Auswärtige“, weil sie von einer Nachbarinsel übergesiedelt waren. Doch die große Familie behandelte alle Dörfler ebenbürtig.

Auf Baltrum herrschte die Sippe der Lütt-Jehans und bildete ein Inselvölkchen von Brüdern und Schwestern, Vettern und Basen, Onkeln und Tanten, Groß- und Urgroßeltern, Neffen und Nichten, Enkeln und Urenkeln. Dort gab es nur ganz wenige „Zugewanderte“, die man an den zehn Fingern aufzählen konnte.

Beide Sippen waren verfeindet, und zwar schon seit Jahren, denn ein Lütt-Jehan hatte einen aus der Groot-Jehan-Sippe umgebracht, und später hatte es einen Vergeltungsanschlag gegeben, dem dann eine Reihe mysteriöser Todesfälle auf beiden Seiten folgte.

Hartnäckig hielt man an dieser Art der Blutrache fest. Wenn eine Sippe eins ihrer Mitglieder verlor, wurde der Tote von seinen eigenen Angehörigen ans Haus gehängt, denn dies galt als Mahnung an die Familie, daß noch eine Rechnung offen sei, die beglichen werden müsse. Mit anderen Worten, der Tote blieb solange hängen, bis die Sippe einen Angehörigen der Gegenseite erwischte und ihn umbrachte.

Endlos setzte sich diese Reihe von Anschlägen und Morden fort, und vielleicht hätten sich die Sippen auf diese Weise längst gegenseitig aufgerieben, wenn nicht hin und wieder etwas Erstaunliches eingetreten wäre.

Ging es um die Seeräuberei, dann wurden die Groot-Jehans und die Lütt-Jehans plötzlich ein Herz und eine Seele, und alle Streitigkeiten wurden vorübergehend ausgesetzt.

Herma Osten fuhr unwillkürlich zusammen, als mit einemmal gegen die Tür ihres Hauses geklopft wurde. Onno hingegen schien es nicht wahrzunehmen. Er brütete nach wie vor düster über seinen schrecklichen Gedanken.

Wieder ertönte das Klopfen, und Herma rief: „Wer ist da?“

„Ich bin’s – Groot-Jehan!“ tönte es zurück.

Ihr Herz begann heftig zu pochen, sie wollte nicht öffnen. Onno aber richtete sich jetzt umständlich von seinem Stuhl auf und sagte laut: „Komm rein, Lüder, die Tür ist offen!“

Lüder Groot-Jehan trat ein, und dann standen sich die beiden Männer gegenüber. Herma wäre am liebsten im Boden versunken. Sie war sicher, daß jetzt alles herauskam.

Doch Lüder legte Onno die Hand auf die Schulter und sagte: „Weißt du schon das Neueste? Wir haben vor drei Stunden unseren Klusmeier tot am Strand aufgefunden. Armer Teufel. Er ist ertrunken, und die Flut hat seine Leiche angespült.“

„Da haben die Lütt-Jehans nachgeholfen!“ stieß Onno zornig hervor. „Sie haben ihn verschleppt und ersäuft!“

„Das glaube ich auch, deshalb habe ich Klusmeier ans Tor gehängt“, sagte Lüder Groot-Jehan. „Ich war schon drüben auf Baltrum und habe Karl Lütt-Jehan zu sprechen verlangt, doch der behauptet, er habe mit der Sache nichts zu tun. Es müsse ein Unfall gewesen sein, sagt er, und wir wollten ihm die Geschichte nur in die Stiefel schieben.“

„Er lügt“, sagte Herma aufgebracht.

„Davon bin ich überzeugt“, erklärte Lüder, nachdem er ihr einen bedeutungsvollen Blick zugeworfen hatte, der von Onno nicht bemerkt wurde. „Aber wir haben trotzdem beschlossen, die Angelegenheit vorläufig beizulegen.“

„Wieso?“ fragte Onno und hielt sich an der Tischkante fest, um nicht aus dem Gleichgewicht zu geraten. „Ist ein Schiff gestrandet?“

„Das nicht, aber der Zeitpunkt ist günstig, um die Falle fertigzustellen“, erwiderte Lüder. „Morgen früh, wenn der Sturm ein bißchen nachläßt, gehen wir alle zusammen an die Arbeit. Wir dürfen das nicht mehr aufschieben. Die Winterstürme bringen uns reiche Beute.“

„Aber wird die Falle auch wirklich funktionieren?“ erkundigte sich Onno. „Wir haben sie noch nicht ausprobiert.“

„Keine Angst“ sagte Lüder Groot-Jehan. „Die Sache mit der Falle war meine Idee, und ich versichere dir, es wird alles so klappen, wie ich es mir vorgestellt habe. Los, meine Leute sind schon dabei, alle aus dem Dorf zusammenzutrommeln. Wir halten eine Besprechung ab. Ich will, daß wir uns alle einig sind.“

„Gut.“ Onno stopfte sich die zu einem Drittel geleerte Flasche Korn in die Tasche, dann stapfte er sogleich ins Freie.

Lüder zog Herma zu sich heran und küßte sie.

„Bis bald“, sagte er, und mit diesen Worten verließ auch er das Haus, um dem bedrohlich schwankenden Onno zu folgen.

Herma ließ sich seufzend auf einen Stuhl fallen und dachte: O Norderney, was soll bloß aus dir werden, wenn das alles so weitergeht?

2.

Nach ihrem Stapellauf und der bewegten Jungfernfahrt lag die „Isabella IX.“ wieder am Ausrüstungskai von Plymouth. Neben ihr war der Schwarze Segler Thorfin Njals vertäut, dessen vier Masten majestätisch und würdig in den grauen Himmel ragten.

Philip Hasard Killigrew stand auf dem Achterdeck seines Schiffes und kontrollierte mit aufmerksamem Blick die Arbeiten, deren Ausführung er angeordnet hatte. Hesekiel Ramsgate – der Mann, der die „Isabella“ konstruiert hatte und nach Überzeugung der Seewölfe der beste Schiffsbauer von ganz England überhaupt war –, Schiffszimmermann Ferris Tucker, Big Old Shane, der ehemalige Schmied und Waffenmeister von Arwenack-Castle, und der Takelmeister Roger Brighton nahmen kleine Verbesserungen vor, die Ramsgate Hasard dringend empfohlen hatte.

Beispielsweise wurden jetzt Schwerwettersegel angeschlagen, denn es war ja harter Winter geworden. Das Anbringen des groben, schweren Tuches war eine Heidenarbeit, die ganze Crew packte mit zu, vom Profos Edwin Carberry bis hin zu den Zwillingen Philip und Hasard, und schließlich schickte Thorfin Njal noch ein paar seiner Männer als Verstärkung auf die „Isabella IX.“ hinüber.

Als der größte Teil der Arbeiten bewältigt war, rief Hasard Ramsgate, den Wikinger und Jean Ribault zu einer kurzen Besprechung in seine Kammer. Die vier Männer tranken ein Glas Brandy.

Dann wandte sich der Seewolf an Thorfin Njal und fragte: „Bleibt es wirklich bei dem, was du angekündigt hast? Ich meine, es wäre doch kein schlechter Gedanke, wenn wir auch weiterhin zusammen segeln würden.“

„Gewiß wäre das nicht schlecht“, brummte der Wikinger. Dann lachte er rauh. „Aber wohin führt denn der Kurs, wenn man fragen darf?“

„In die Neue Welt.“

„Auf Beutezug?“

„Natürlich auf Beutezug“, erwiderte Hasard. „Außerdem gibt es dort drüben noch ein paar Fleckchen Erde, die wir nicht richtig ausgekundschaftet haben.“

„Es existieren sogar Plätze, die wir überhaupt noch nicht kennengelernt haben“, fügte Jean Ribault hinzu. „Wenn ich da an das geheimnisvolle Florida denke, an die Küsten, die von Coronado und De Soto bereist wurden – da wartet noch so einiges auf uns, Freunde.“

„Hört sich hochinteressant an“, sagte Hesekiel Ramsgate. „Soll es da nicht auch den berühmten Jungbrunnen geben?“

„Ja“, erwiderte Jean. „Aber keiner weiß, ob die Quelle der ewigen Jugend tatsächlich irgendwo im Sumpf oder in der Wüste darauf wartet, entdeckt zu werden, oder ob die Geschichte nicht doch nur ein Hirngespinst ist.“

„Eine Legende“, sagte Hasard. „Ganz gewiß. Tut mir leid für dich, Hesekiel, aber du wirst auch so über hundert Jahre alt.“

„Doch wenn wir Gold am Golf von Mexiko finden“, sagte Jean Ribault, „dann ist das für uns mehr wert als irgendein obskurer Brunnen. El Dorado ist letzten Endes kein Traum, das haben die Funde der Spanier und Portugiesen im Süden der Neuen Welt bewiesen, nicht wahr?“

„Ja“, meinte der Seewolf. „Und es wird Zeit, daß wir ihnen wieder etwas von ihrem Reichtum abknöpfen, den sie sich auf unrechtmäßige Weise verschaffen. Wir sind die längste Zeit in Plymouth gewesen, jetzt geht es wieder auf große Fahrt.“

Thorfin Njal lachte und hieb sich mit der Hand auf den Oberschenkel. „Ich weiß schon, auf was ihr hinauswollt, ihr Halunken. Breitschlagen wollt ihr mich, oder? Überreden lasse ich mich aber trotzdem nicht. Sicher, wenn ich das alles so höre, wird auch mir der Mund wäßrig, das gebe ich zu. Aber ich habe von der Neuen Welt und von der Schlangen-Insel vorläufig trotzdem die Nase voll.“

„Mach doch, was du willst“, sagte Jean. „Fahr nach Norden hinauf und laß dir den Hintern abfrieren. Mir soll’s recht sein.“

Thorfin sah ihn drohend an. „Willst du meine Heimat beschimpfen?“

„Um Himmels willen, nein.“

„Bei Odin, es ist nicht nur kalt im Nordland!“ stieß der Wikinger hervor. „Dort findest du auch das Glück, Jean Ribault, Wärme und Behaglichkeit, Met und Rentiere, so viele du willst. Es zieht mich mit aller Macht nach oben in die eisige Kälte, ich habe sie lange genug entbehrt.“

„Na gut“, meinte Ribault. „Aber das mit Thule, den fernen und glücklichen Inseln, die du zu finden hoffst, ist ja doch bloß eine fixe Idee. Nein, reg dich nicht gleich wieder auf. Was ich dir in deinen Dickschädel hämmern will, ist nur folgendes: Die Sache mit Thule ist genauso erfunden wie die Mär vom Jungbrunnen.“

„Da hört sich doch alles auf“, sagte der Wikinger entrüstet. „Hast du überhaupt eine Ahnung von den Geheimnissen des Nordens? Kennst du die Welt, in der Thor und Odin die Herrscher sind?“

„Nicht wie du“, erwiderte der Franzose. „Aber ich habe das, was man einen gesunden Menschenverstand nennt. Gegenfrage: Weißt du, wo du die Inseln Thule zu suchen hast?“

„Nein.“

„Du hast also nicht den geringsten Anhaltspunkt?“

„Nein. Aber ich werde sie finden.“

„Ich geb’s auf“, sagte Ribault. „Du bist ja doch nicht davon abzubringen, und gegen deinen Dickschädel kommt keiner an.“

„Thule“, wiederholte Ramsgate nachdenklich. „Liegt das nicht in Grönland?“

„Ja“, entgegnete Hasard. „Und wir sind auch schon dort gewesen, ehe wir die Nordwestpassage suchten. Die Eskimosiedlung Thule hat jedoch nichts mit den mysteriösen Inseln zu tun, von denen Thorfin spricht.“

„Sehr richtig“, bestätigte der Wikinger. „Aber nun laßt mich mal ein offenes Wort sprechen, Freunde. Ich drehe den Spieß um, Hasard, und ich frage dich: Wie wäre es, wenn du mich begleiten würdest? Das wäre doch eine gute Bewährungsprobe für deine ‚Isabella‘ und für deine Mannschaft.“

Der Seewolf lächelte. „Tut mir aufrichtig leid, aber du kannst mich nicht herausfordern, Thorfin. Ich will nach Amerika, und in diesem Punkt bin ich genauso störrisch wie du.“

Thorfin Njal hob die Schultern und ließ sie wieder sinken. „Beim Donner, was soll’s? Dann trennen wir uns eben. Haben wir das nicht öfter getan und uns dann später wiedergetroffen? Was mich betrifft, so vergieße ich keine Walroßtränen, ich bin doch kein altes Weib.“

„Schon gut, darum ging es ja auch gar nicht“, sagte Hasard. „Ich will nur Klarheit. Jean, was ist mit dir?“

„Ich gehe von Bord, das habe ich ja auch schon angedeutet.“

„Ja. Hesekiel?“

„Ribault und ich haben darüber gesprochen“, entgegnete Ramsgate. „Wir werden zusammenbleiben, weil wir noch eine ganze Menge miteinander zu bereden haben. Besonders wegen der Schiffe, die Ribault bei mir in Auftrag geben will.“

Hasard nickte. Er kannte die Pläne, die Ribault und vor allem auch Siri-Tong mit der Schlangen-Insel hatten, und sie fanden seine volle Billigung.

„Gut, dann sind wir uns also einig“, meinte der Seewolf. „Jeder hat seine eigenen Vorstellungen, und was die Pläne für die Schlangen-Insel betrifft, bin ich einverstanden. Es gibt keine Einwände, wir trennen uns in vollem Einvernehmen. Darum ging es mir hauptsächlich.“

Sie erhoben sich und schüttelten sich stumm die Hände. Monate, so wußten sie, konnten vergehen, bis sie sich wiedersahen, möglicherweise auch Jahre. Ihre Augen drückten den Wunsch aus, daß sie alle unversehrt aus den Abenteuern zurückkehren mochten, die jetzt jeder von ihnen auf sich nahm. Doch sie sprachen das nicht offen aus. Sie wußten auch so, daß der Segen des einen die Reisen des anderen begleiten würde. Immer wieder würden sie sich der gemeinsam durchfochtenen Kämpfe entsinnen, und die Erinnerung an die Erlebnisse auf den Meeren gab ihnen neue Kraft für die Zukunft.

Am Nachmittag dieses Tages rollte auf dem Kai eine Kutsche vor, die von vier Pferden gezogen wurde. Die Männer der Crew, die auf dem Hauptdeck der „Isabella IX.“ ihren Dienst versahen und Wache schoben, wollten Ben Brigthon, Hasards Erstem Offizier und Bootsmann, einen entsprechenden Hinweis geben, doch Ben war bereits auf das Gefährt aufmerksam geworden und enterte vom Quarterdeck aus das Achterdeck, um die Kutsche genauer in Augenschein nehmen zu können.

Der Kutscher zerrte an den Zügeln, der Vierspänner stoppte. Drei Männer stiegen aus, von denen zwei wie auf eine vorher getroffene Vereinbarung hin am Schlag verharrten. Der dritte Mann – hochgewachsen, hager und distinguiert – schritt auf die „Isabella“ zu und grüßte, indem er seinen schmalkrempigen, hohen Filzhut abnahm und ein Stück hochhob.

„Lord Gerald!“ rief Ben und lachte. „Warten Sie, ich sage sofort Hasard Bescheid!“

„Tun Sie das, Mister Brighton“, erwiderte Gerald Cliveden, Lordschaft von Elizabeths I. Gnaden und Sonderbeauftragter Ihrer Majestät. „Darf ich inzwischen schon an Bord kommen?“

„Selbstverständlich dürfen Sie das!“ Ben sah zu Carberry, der von der Kuhl zu ihm aufblickte, und der Profos scheuchte sofort Jack Finnegan und Paddy Rogers los, die Cliveden an der Gangway in Empfang nehmen sollten.

Der elegante Herr in dem kurzen schwarzen Cape, den dunklen Hosen und den Schnallenschuhen begab sich also an Bord des neuen Schiffes und schüttelte den Männern, die er inzwischen bestens kannte, die Hände.

Dann sah er sich nach allen Seiten um, nickte anerkennend und sagte: „Wirklich, ein feines Schiff ist das, das muß man Mister Ramsgate lassen.“

Hesekiel Ramsgate hatte es vernommen, denn er war inzwischen mit Hasard, Jean Ribault und Thorfin Njal auf dem Quarterdeck erschienen.

Mister Ramsgates Augen blitzten.

„Das will ich meinen“, erwiderte er nicht ohne Stolz, „das derzeit Beste, was meine Werft zu bieten hat. Gerade recht für Mister Killigrew!“

„Willkommen an Bord, Lord Gerald“, sagte der Seewolf und schritt auf Cliveden zu, der sich anschickte, das Quarterdeck zu entern. „Darf ich Sie in meine Kammer bitten? Es freut mich aufrichtig, Sie wiederzusehen.“

„Und selbstverständlich fragen Sie sich, was mich zu Ihnen führt“, sagte Cliveden lächelnd und drückte ihm die Hand. Er begrüßte auch den Wikinger und alle anderen, die sich zu diesem Zeitpunkt auf dem Achterdeck aufhielten.

„Ich sehe es Ihnen an, daß Sie etwas auf dem Herzen haben“, meinte Hasard. „Wollen wir es in aller Ruhe besprechen?“

„Ja.“ Noch einmal ließ Cliveden seinen Blick über die Decks, die Masten und die Takelung der „Isabella“ wandern. „Hat Ihr Schiff die Jungfernfahrt gut überstanden? Hat es sich bewährt?“

„Allerdings“, sagte Hasard.

„Ich hätte auch niemals gewagt, das Gegenteil anzunehmen. Vortrefflich, wirklich, ganz vortrefflich.“

Sie betraten mit Ben, Shane, Ferris, Old O’Flynn, dem Wikinger, Ribault und Ramsgate zusammen die Kapitänskammer, und Hasard berichtete von der ersten Fahrt der „Isabella IX“. Dann rückte Cliveden ohne große Umschweife mit seinem Anliegen heraus.

Er zog aus der Innentasche seines Capes ein dickes Kuvert hervor. Es war mit dem Siegel der Königin versehen, wie die Männer sogleich erkannten.

„Ich habe die offizielle Aufgabe, Sie zu fragen, ob Sie einen neuen Auftrag übernehmen würden, Mister Killigrew“, sagte der Lord. „Ihre Majestät bittet Sie darum.“

„Das ehrt mich. Aber um welche Art von Auftrag handelt es sich?“

„Darüber kann ich leider keine nähere Auskunft geben.“

„Wie bitte?“ Hasard war nun doch reichlich verwundert. „Wie soll ich denn dann überhaupt beurteilen, ob ich ihn ausführen kann oder nicht?“

Cliveden lächelte wieder. „Sie können es, Mister Killigrew, davon bin ich fest überzeugt. Sie sind gleichsam prädestiniert, dieses Unternehmen durchzuführen. Ihr Frankreich-Auftrag ist ein voller Erfolg geworden, trotz aller Widrigkeiten, mit denen Sie zu kämpfen hatten. Sie glauben ja gar nicht, wie sehr Ihr Ansehen bei Hof gestiegen ist.“

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9783954396993
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