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Читать книгу: «Das Zwillingsparadoxon», страница 2

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Hey, Martin.«

Der Angesprochene hob seinen Kopf über den Monitor, um unter der Fülle an Hintergrundgeräuschen die Stimme auszumachen, die etwas von ihm wollte. Das Großraumbüro, dessen Decke alle paar Meter gusseiserne Pfeiler stützten, hätte aus rein akustischen Beweggründen als Übergangslösung gar nicht erst in Betracht gezogen werden dürfen. Da halfen auch die stoffbezogenen Stellwände zwischen den Schreibtischen nichts.

Dennoch war die Wahl auf den fünften Stock eines leer stehenden Fabrikgebäudes gefallen. Das halbe Jahr würde es gehen, bis die Sanierung des Hauptsitzes der Zeitung erledigt wäre, hatte man sich in der Geschäftsführung gedacht. Wohl wissend, dass das Geräuschproblem nur das Fußvolk betraf. Für die gehobenen Positionen hatte man in der sechsten Etage separate Büros eingerichtet.

Martins Augen suchten den Raum nach demjenigen ab, der gerufen hatte.

»Jakob?«

»Hier. Hier hinten.« Am gegenüberliegenden Ende streckte sein leitender Redakteur die Hand nach oben, um sich im Trubel bemerkbar zu machen. Er hatte bereits den Durchgang zum Treppenhaus genommen und hielt die Tür offen, im Begriff zu einem Termin zu verschwinden.

»Bist du heute noch frei?«, rief Jakob.

Martins Kopfbewegung gab Antwort. Er hatte zwar eine Frau und ein Neugeborenes zu Hause, die seine Nachmittage beanspruchten, doch sein Ehrgeiz setzte sich regelmäßig darüber hinweg, was sein Nicken bezeugte. Wer es bei einer Zeitung zu etwas bringen wollte, musste Single sein oder Opfer bringen.

»Komm zu mir, wenn ich zurück bin. Ich hab was. Gegen vier?«

Auf Martins Uhr war es viertel vor drei. Auf den übrigen Uhren im Büro auch. Zeit genug, um den Bericht über eine Evakuierung im Rahmen der Bombenentschärfung am Bahnhof fertigzustellen. Wenig spektakulär, Weltkriegsbomben gehen so gut wie nie bei Entschärfungen hoch – nicht einmal in Oranienburg, der Einflugschneise vieler britischer Bomber, die in Berlin ihre Ziele vor siebzig Jahren gesucht hatten. Wie aufregend wirkte da eine solche Meldung in dieser Stadt.

Die Evakuierung betraf vier Mietshäuser und eine Straßenbahnhaltestelle. Dennoch musste die Sache ungeachtet der Trivialität vom Tisch, bevor er den nächsten Auftrag annahm. Die beiden Wirtschaftsbeiträge müsste er abends hinbekommen, falls seine Tochter rechtzeitig in den Schlaf finden würde, nicht ganz einfach in einem hellhörigen Altbau mit Holzbalkendecken und furchtbaren Nachbarn. Den Text für Donnerstag dann morgen in aller Frühe, den Kleinkram und die E-Mails danach, die Außentermine im Anschluss. Das sollte klappen – es musste, da das Einkommen eines freien Mitarbeiters von der Zahl der veröffentlichten Zeilen abhing.

Hast du schon einen Blick in die heutige Ausgabe geworfen?«, fragte Jakob.

»Hast du mal einen Blick auf meinen Schreibtisch geworfen?», hielt Martin lächelnd dagegen.

Als Neuling bei der Zeitung hatte ihn das überhebliche Gehabe des Vorgesetzten etwas verunsichert – als ob Jakob der Einzige wäre, der arbeitete, während der Rest nur Däumchen drehte oder sich zu blöd anstellte. Inzwischen wusste er jedoch, wie er ihn zu nehmen hatte – gelassen und mit einer Portion Humor.

»Wenn ich das Papier auf dem Tisch abgearbeitet habe und ich wieder sehe, welche Farbe sein Holz hat, dann nehme ich mir Zeit dafür.«

»Sagt dir Oswald Geiger etwas?«

Martin verneinte und versuchte mit den Zähnen einen angerissenen Fingernagel so zu bearbeiten, dass er damit nicht überall hängen blieb.

»Doktor Oswald Geiger?«

Der Titel half auch nicht weiter. Er hatte eine Kante des Nagels zu fassen bekommen und zog ihn langsam ab.

Mist! Der Riss ging ins Nagelbett. Jetzt werde ich es wieder tagelang bei jedem Buchstaben merken, den ich mit diesem Finger tippe. Super, Martin!, stellte er fest und sah, wie es leicht zu bluten anfing.

»Ich konnte mit Geiger ebenfalls nichts anfangen. Er muss letzte Woche verstorben sein.« Der leitende Redakteur war noch immer bei seinem Thema.

»Jetzt mal ganz pragmatisch«, sagte Martin etwas enttäuscht, da er auf einen spannenden Auftrag gehofft hatte. »Was interessiert uns ein Typ, den keiner kennt und von dem nicht mal jemand mitbekommt, dass er seit Tagen tot ist? Das lohnt doch den Aufwand nicht.«

»Zigarette?«

Irrtum, es war wichtig!

Jakob bot in seinem Büro grundsätzlich nur etwas zu rauchen an, sobald sich Gespräche in eine falsche Richtung entwickelten und er Zeit brauchte, sie neu auszurichten.

Martin nahm eine. F6 Menthol, es gibt Schlechteres. Er hatte nur gelegentlich mit Zigaretten zu tun. In der Regel, wenn er betrunken war.

»Ich bin gespannt. Wie lange arbeite ich schon bei euch? Vier Jahre? In den vier Jahren komme ich vielleicht auf eine halbe Schachtel, die ich in deinem Büro geraucht habe. Und ich kann mich an keine erinnern, die es grundlos mal eben so gab.«

Jakob grinste.

Martin nicht.

Es brachte nichts, sich mit seinem Vorgesetzten zu verbrüdern. Wenn kurze Zeit später wieder in der Redaktion etwas schief lief, wäre Jakob ohnehin alles egal und er motzte den voll, der ihm als Erstes über den Weg lief. Freund hin oder her. Dementsprechend sinnvoll war es, konsequent ein wenig Abstand zu wahren und sich damit die gute Laune dauerhaft zu erhalten.

Martin zog eine Augenbraue nach oben. »Erzähl schon!«

»Geiger hatte zu Lebzeiten einen Deal mit der Geschäftsführung. Er hatte eine ganze Menge springen lassen, fünfstellig, munkelt man, und dafür seitenweise Anzeigefläche gekauft.«

»Klingt gut.«

»Die Anzeigen werden erst nach seinem Tod geschaltet.«

»Okay.« Martin wurde hellhörig.

»Der Inhalt jeder Anzeige kommt am Vortag von einer Stiftung auf dem Postweg. Größe steht fest, Seite steht fest.«

»Wie?«

»Es sind Briefe – eigentlich nicht mehr als Kurzmitteilungen. Von Geiger, handgeschrieben.«

»Hast du einen da?«

Jakob kramte in einem Schreibtischfach und gab Martin einen Zettel, augenscheinlich aus einem Abreißblock.

Es war kein Unfall – dafür haben mich zu viele in den Tod begleitet.

Dr. Oswald Geiger

»Das ist der Erste?« Martin überflog ihn. Setzte kurz ab, las ihn noch einmal und schwieg.

»Sie werden eingescannt und als Bild abgedruckt. Halbseitig, Seite eins, unten.«

»Halbseitig?«

»So ist es – erstmals eine großflächige Werbung auf der Titelseite, die gleichzeitig ein Aufmacher ist. Das hatte die Anzeigenabteilung auch noch nicht.«

»Und wie erklären wir, was wir da unters Volk geben?«

»Keine Ahnung«, antwortete Jakob. »Am liebsten würde ich die Dinger hinten bei den Nachlässen drucken und allenfalls zwei Spalten fünfzig dafür aufwenden. Der Geiger kann ja nicht mehr klagen, wenn er statt des Aufmachers nur eine Doppelspalte mit fünfzig Millimetern abbekommt.«

»Na, dann mach doch«, meinte Martin.

»In dem Fall erstreitet eine Stiftung für ihn die Sache. Alles im Vorfeld geregelt.«

»Dann war dieser Zettel heute Morgen unsere Topschlagzeile?«

Jakobs Stirn zog sich Falten. Er starrte aus dem Fenster.

Keinem der beiden Männer war zu diesem Zeitpunkt klar, dass es in der Stadt bereits ein Dutzend Menschen gab, die fieberhaft an etwas arbeiteten, das größer werden würde, als Doktor Geigers optimistischste Prognose vorausgesagt hätte. Es sollte mit der Zeit zu tun haben, soviel war sicher, und wohl auch mit dem Tod.

Zweiter Teil

Man hat dir nie gesagt, wie die Zeit aussieht. Du hast sie auch niemals erblickt, nur das, was sie mit allem und jedem macht.

5

Allmählich legte sich Hennings Aufregung. Der Tag war denkbar ungeeignet, um sich über eine überhebliche Alte aufzuregen, die eine Einfahrt blockierte.

Ein Thema bekommt nur so viel Raum, wie man ihm gibt. Seine frühere Therapeutin hatte zu diesem Satz geraten, wenn ihn etwas zu überfordern drohte. Man müsse das nur oft genug zu sich sagen, damit es wirkt, und natürlich daran glauben. Ihm war nach einer Schimpftirade zumute, was für Geldschneider Psychologen seien, und wie fernab aller Realität ihre Ratschläge lagen. Doch was brachte es, sich in einer Ladenstraße über einen Personenkreis aufzuregen, der nicht anwesend war.

Das Smartphone gab einen Ton von sich, eine E-Mail. Es dauerte, bis sich das mitgesandte Foto aufbaute. Jemand hielt den Stadtanzeiger in der Hand. Henning vergrößerte den Ausschnitt. Die Handschrift seines Vaters. Leserlicher als sonst, mit weniger Schnörkeln, aber der kurze Satz war von ihm. Kein Zweifel. Wer benutze schon braune Tinte und gierte nach jedem kleinen »t«, um dessen Querstrich über das gesamte Wort zu ziehen.

Dr. Oswald Geiger, mit der Unterschrift wurde auch Außenstehenden der Urheber bekannt.

»Nicht einmal krepieren kann er, ohne den Leuten seinen Doktor unter die Nase zu reiben.«

Das Telefon klingelte. Es war der Absender der E-Mail. Henning ignorierte ihn.

Noch ein knapper Kilometer bis zum Südfriedhof und noch mehr als eine Stunde Zeit.

Die Bänke der Kapelle hatten nicht ausgereicht, um die aufzunehmen, die sich verabschieden wollten. Martin stand seit einer halben Stunde an die Wand gelehnt und wartete darauf, dass etwas passierte, über das es zu schreiben lohnte.

Er sah den Kollegen eines anderen Blattes einige Reihen vor sich und ließ ein stummes Hallo über die Lippen kommen, um dessen Gruß nicht unerwidert zu lassen. In Großstädten verhielt man sich nicht so, aber hier, in einer Stadt, die trotz der neunzigtausend Einwohner das Provinzielle nicht ablegen konnte, wusch eine Hand die andere. Kaum erbitterte Konkurrenz zwischen den beiden lokalen Tageszeitungen.

»Seine Gebete gehen an seine Frau und vor allem an seine Söhne«, sagte der Mann neben dem Sarg, dessen doppelter Windsorknoten wie aus dem Bilderbuch schien.

Was für ein aufgesetzter Mist. Henning empfand keine Wut. Die Inszenierung war schlichtweg lächerlich.

Oswald Geiger hatte seine Grabrede vorformuliert. Nicht einmal jetzt konnte er Dinge anderen überlassen. Als hätte er Angst gehabt, dass jemand an diesem Tag aus dem Nähkästchen plauderte. Nicht ganz unbegründet, da ihm die nächsten Angehörigen ziemlich egal gewesen waren, und sein älterer Sohn nicht grundlos zwei Jahre lang jeden Mittwoch beim Therapeuten gesessen hatte.

»Seine Gebete gehen an seine Frau«, äffte Henning den Redner nach. Gebete!

Mit der Kirche stand der Vater zeitlebens auf Kriegsfuß. Warum wohl hielt kein Pfarrer die Rede, sondern der Inhaber des Bestattungsunternehmens? Letzterer hatte bereits die halbe Familie unter die Erde gebracht.

Wenn man sich in dieser Gegend Brandenburgs für einen Bestatter entschied, dann baute man eine seltsame Beziehung zu ihm auf, die erst endete, wenn er aus dem Amt ging oder in der Familie niemand mehr übrig war. Man grüßte sich in der Stadt, unterhielt sich intensiver, wenn eine Beerdigung anstand, achtete aber grundsätzlich darauf, den Kontakt so gering wie möglich zu halten, damit das Verhältnis zwischen zwei Todesfällen ausreichend abkühlen konnte, und man getrost auch nach dreißig Jahren noch beim Sie bleiben konnte.

Eine halbe Stunde später war es an der Zeit, den Verstorbenen an seinen letzten Ort zu bringen. Die Gäste erhoben sich. Martin tat es ihnen gleich, allerdings ohne mit den Gedanken bei der Sache zu sein. Er grübelte.

Die Arbeit in der Redaktion war für ihn seit der Geburt seiner Tochter stressig geworden. Er hatte es sich einfacher vorgestellt, Frau, Säugling und Beruf unter einen Hut zu bekommen. Früh zur Arbeit gehen und erst nach zwanzig Uhr heimzukommen ging jetzt nicht mehr, ohne den Haussegen zu gefährden. Er brauchte ein anderes Zeitmanagement.

Vielleicht sollte ich mir an den Nachmittagen zwei, drei Stunden für die Familie frei halten und ab halb sieben regelmäßig eine Spätschicht einlegen?!

Der Gedanke tat gut, denn er zeigte, dass Martin noch Alternativen hatte – und Alternativen waren zwingende Voraussetzung für seinen Optimismus.

Langsam ließ er sich an das Ende des Trauerzugs zurückfallen und bog schließlich Richtung Parkplatz ab.

6

Am Morgen kam ein Funkwecker seinem Hauptzweck nach. Er klingelte. Im Laufe der letzten Monate hatte sich genügend Wut über den furchtbaren Klingelton angestaut, dass Hennings Hand den Wecker ausschlug, bevor er Gelegenheit bekam, ein zweites Mal zu plärren.

Er schlurfte ins Bad. Starrte dort erst verschlafen ins Leere, stützte dann die Arme auf den Rand des Waschbeckens und betrachtete sich im Spiegel.

Gott, seh’ ich fertig aus.

Er hatte furchtbar geschlafen. Sonst war das der Fall, wenn er jemand zum Vögeln gefunden hatte und auswärts nächtigte.

Henning ging davon aus, beziehungsunfähig zu sein, weil Frauen ihn in der Regel schon bei der zweiten Verabredung langweilten oder er recht schnell eine andere fand, die im direkten Vergleich mit der Aktuellen besser abschnitt. Eine von ihnen mehrmals zu treffen, strahlte obendrein die Bedrohung aus, sich ihr verpflichtet zu fühlen und mehr Zeit zu investieren, als ihm eine Frau wert war. Also vermied er es und suchte sich regelmäßig etwas Neues.

Er hatte Falten bekommen. Keine tiefen, aber erstaunlich viele. Man sah sie besonders, wenn er die Augen zusammenkniff.

Während Henning sich betrachtete, wurde er den Verdacht nicht los, allmählich einen verlebten Eindruck zu machen.

Er verließ das Bad, machte einen Abstecher in die Küche und steuerte auf das Sofa im Wohnzimmer zu, wo er in Ruhe einen oder zwei Kaffee trinken konnte, um auf Betriebstemperatur zu kommen.

Für gewöhnlich war das der Zeitpunkt, an dem Schröder ihren Schlaf für beendet erklärte, und nach längerer Streck- und Dehnungsprozedur neben ihm auftauchte. Morgens zeigte sie sich noch recht loyal und ließ sich ausgiebig kraulen, ohne die Gefahr, dass sie nach der Hand beißen oder die Krallen darin versenken wollte – wie sie es alle paar Tage tat.

Schröder machte ihr eigenes Ding und schien grundsätzlich nicht viel von ihrem Besitzer zu halten. Ein Zustand, mit dem Henning sich meistens arrangierte. Bis ihm gelegentlich mal der Kragen platzte. In der Regel hatte die Katze dann irgendwo herumgelegen, vermeintlich schlafend, und während er an ihr vorbei ging, fauchte sie und verpasste ihm urplötzlich einen tiefen Schmiss am Bein. Sekunden später konnten ihn die Nachbarn im ersten Stock des Hauses auf der gegenüberliegenden Straßenseite die Katze jagen sehen, welche offensichtlich Opfer eines Vergehens gegen das Tierschutzgesetz werden sollte. Doch den Beteiligten wurde schnell klar, dass diese Versuche aussichtslos waren, da Henning nicht die Fitness und Reaktion besaß, sie zwischen die Finger zu bekommen.

Das alles lag einige Zeit zurück. Henning war seit Tagen allein in der Wohnung. Es war anders seitdem. In der ersten Zeit, nachdem er Schröder weggegeben hatte, ertappte er sich dabei, wie er immer wieder kurz davor war, nach ihr zu rufen. Die neue Situation brauchte noch eine Weile, bis er sich ihrer ständig bewusst war.

Er umklammerte einen Becher Kaffee, stand barfuß auf den Flurdielen und sah in die einzelnen Zimmer. Still war es geworden. Nicht, dass die Katze dauernd Geräusche von sich gegeben hatte, aber durch sie war er nicht gezwungen, einzig auf seine eigene Gesellschaft angewiesen zu sein. Immer mal wieder, wenn sie an ihm vorbeigeschlichen war, hatte er die eine oder andere Bemerkung gemacht oder ihr über den Rücken gestreichelt. Nicht viel, aber dennoch kurze Kontakte, die die Zeit teilten, die er in der Wohnung verbrachte.

Henning schlürfte vom Kaffee.

»Viel zu stark«, murrte er in sich hinein und ärgerte sich eigentlich nur darüber, jetzt so nah bei sich zu sein.

Eine halbe Stunde später stand er kurz davor, sich auf den Weg zum Haus seiner Eltern zu machen. Hennings Hand griff nach einem Schlüsselbund, dem Portemonnaie und vergaß das Handy auf dem Flurschrank. Nach wenigen Schritten waren die Utensilien in seinen Hosentaschen verstaut und die Wohnungstür erzeugte das gewohnte Geräusch, wenn sie ins Schloss fiel. Es ließ sich Angenehmeres vorstellen, als gleich eine völlig verheulte Familie anzutreffen. Ändern konnte er sowieso nichts an deren Zustand – nur sie jetzt allein zu lassen, war auch kein gangbarer Weg. Also zog er den Helm über und trat die KTM an.

Im 18. April 1901 beobachtete Duncan MacDougall einen an Tuberkulose erkrankten Mann. Drei Stunden und vierzig Minuten ließ er ihn nicht aus den Augen. Bis er starb. Er hatte ihn auf eine Pritsche legen lassen, die an einer Waage von der Decke hing. Jede Stunde verlor der Proband achtundzwanzig Gramm, was man auf Verdunstung zurückführte.

In den Sekunden, als er entschlief, fehlten drei Viertel einer Unze. Einundzwanzig Gramm, die MacDougall auf nichts anderes als die Seele des Verstorbenen zurückführen konnte.

Dritter Teil

Wie gern würde ich behaupten, dass ich mit der Zeit freundschaftlich verbunden wäre, doch nur zu gut weiß ich, dass dies hieße, dass ich dem Tod den Weg ebne.

7

Entschuldigung.« Julia lugte vorsichtig hinter dem Türrahmen hervor. Sie war Anfang zwanzig und noch nicht lange bei der Zeitung.

»Was ist?« Jakob, seit Jahren leitender Redakteur des Blattes, blickte nicht einmal vom Bildschirm auf.

»Da möchte Sie ein Mann am Telefon sprechen.«

»Wer?« Jakob sparte sich die Frage, warum sie den Anrufer nicht gleich durchgestellt hatte. Julia vertrat seine dauerkranke Assistentin seit vergangenem Freitag und bislang machte sie mehr Arbeit, als sie ihm abnahm.

»Ich weiß nicht, wer es ist.«

»Sagen Sie mir, was er will.«

»Er möchte nur mit Ihnen sprechen.«

Oh Mann.

Rein von der Wahrscheinlichkeit her, musste sie doch auch mal etwas richtig machen, aber sie bewies ihm den gesamten Tag über das Gegenteil.

»Geben Sie ihn mir.« Er lehnte sich zurück und nahm das Gespräch entgegen.

»Ja?«

Jakob hörte zu.

»Das ist doch nicht …«

Der Anrufer fiel ihm ins Wort, etwas, das allenfalls der Chefredakteur wagte – und selbst der tat dies selten. Davon abgesehen war Letzterer seit einer Bandscheiben-OP im Frühjahr außer Gefecht. Ein Glück für Jakob, der dadurch neben dem Einzelbüro auch noch zu einer Assistentin kam, die ihm nicht zustand.

Der leitende Redakteur wirkte irritiert, aber er nahm die Informationen des Fremden auf.

»Sind Sie sicher?«

Er hörte noch ein knappes »Natürlich.« Dann war er allein in der Leitung.

»Julia!« Jakob saß perplex im Sessel. »Stand die Nummer des Anrufers auf dem Display oder haben Sie eine Idee, wer das gewesen ist?«

»Tut mir leid.«

»Mir tut auch eine ganze Menge leid.« Am liebsten hätte er ihr an den Kopf geworfen, dass es ihm leidtut, ihrer Einstellung bei der Zeitung jemals zugestimmt zu haben – aber es gab gerade wichtigere Dinge, um die es sich zu kümmern galt.

»Machen Sie mir einen Latte und bringen Sie ihn in den Besprechungsraum.«

Dann rauschte er aus dem Büro.

»So langsam kotzt ihr mich alle an!« Jakob tobte durch die Redaktion. Die Mitarbeiter vermuteten, dass er aus einem Meeting gekommen sein musste, in dem es für ihn nicht gut gelaufen war. Welches, konnten sie nicht erahnen. Im Gegensatz zu den anderen Vorgesetzten schaltete Jakob den Kalender seines PC grundsätzlich für niemanden frei, der in der Hierarchie unter ihm stand.

»Besprechung in zwei Minuten!«

Barbara kramte in der Tasche nach ihrem Diktiergerät. »Der Pressesprecher von Vattenfall wartet auf mich. Ich bin eh zu spät dran. Gebt ihr mir eine Zusammenfassung dessen, was ihr beredet, wenn ich wieder da bin?«

»Denkt ihr alle, ihr könnt mich verarschen?« Jakob wurde laut.

Die Mitarbeiterin kramte weiter.

»Barbara!«

Sie drehte sich um.

»Du hast es nicht ganz verstanden. In zwei Minuten sehe ich jeden von euch.«

»Aber ich warte seit Wochen auf diesen Termin. Wenn ich ihn verpasse, brauch ich mich in der nächsten Zeit nicht mehr dort blicken lassen.«

»Ich würde das nicht tun!« Sein Ton wurde ruhiger.

»Komm schon, Jakob. Das wäre doch wirklich Quatsch.«

»Kurze Info an die unter Ihnen, die derzeit freie Mitarbeiter sind und auf eine Festanstellung bei uns warten«, rief er prollig in die Redaktion. »Eine Mitarbeiterin wägt heute ernsthaft ab, ob sie ihre Stelle freimacht. Wer Interesse hat und nachrücken will, kann sich gern in meinem Büro einfinden.«

Als er fertig war, stand er mit seinem Gesicht keine zwanzig Zentimeter vor Barbaras. »Du schwingst jetzt deinen kleinen Hintern in den Besprechungsraum.«

Zu diesem Zeitpunkt waren in der Redaktion sämtliche Augen auf Jakob gerichtet, auch die von den Mitarbeitern, die zu anderen Teams gehörten.

Den Grundgedanken habt ihr noch nicht verinnerlicht, oder? Um es noch mal zu verdeutlichen: Ihr seid nicht nur Redakteure.« Mit zu viel Adrenalin im Blut ging er an der Fensterfront auf und ab. Es erinnerte an eine der Großkatzen im Zoo, deren Gehege zu knapp bemessen war. »Ihr seid Netzwerker. Wenn euer Netzwerk nicht funktioniert, dann sind eure Schreibtalente überflüssig. Ist das endlich mal in den Köpfen angekommen?«

Es gab Mitarbeiter im Team, die deutlich länger im Geschäft waren als Jakob und über mehr Erfahrung verfügten, doch zu diesem Zeitpunkt konzentrierten sich alle auf das, was er zu sagen hatte.

»Also! Als ich von der Geigersache Wind bekam, hatte Martin Order, bei der Beerdigung aufzukreuzen. Da gab es nichts zu berichten. Gut, das passiert.« Das Blut in Jakobs Adern pochte. »Und dann gab es Vernehmungen der Polizei, noch am gleichen Abend.«

»An dem Tag war Redaktionsstammtisch«, wagte sich jemand aus der Deckung. Eines der älteren Semester.

»Aber das hindert ja wohl niemanden daran, Augen und Ohren offen zu halten. Sonst kann ich den Scheiß hier auch alleine machen!«, brüllte der leitende Redakteur.

Am Besprechungstisch verkniffen sich die fünf, die es betraf, eine Antwort. Wer ihn aufgebracht kannte, vermied in solchen Situationen direkten Augenkontakt – gerade jetzt, wo Jakob seit Monaten den Chefredakteur vertrat und an der Höhenluft Gefallen fand.

»Wollt ihr, dass die Informationen bei der Konkurrenz aufschlagen und der Pressespiegel eine Geschichte zum Thema schreibt? Wir sind die, die Geigers Nachrichten exklusiv veröffentlichen. Wann kapiert ihr das endlich?! Wie habt ihr euch das denn vorgestellt? Die Leser sehen am Kiosk in unserem Blatt eine neue Notiz vom Doktor und kaufen sich dann den Pressespiegel, um zu erfahren, was sie bedeutet oder welche Hintergrundgeschichten es dazu gibt?«

Wutschnaubend steckte sich Jakob eine Zigarette an.

»Und gerade eben bekomme ich einen Anruf von einem Wichtigtuer, der behauptet, Geiger hätte irgendwelche Versuche mit seinen Patienten gemacht? Warum kriegt ihr das nicht raus? Jetzt mal ohne Quatsch. Ist niemandem zu Ohren gekommen, dass in der Nacht nicht nur einer zu Tode kam? Es gab vier weitere Opfer und ausreichend Gerüchte, um dem Doktor das eine oder andere zu unterstellen. Allein damit hätte ich Seite eins gefüllt. Aber ihr schafft das ja nicht! Der Doktor hatte obendrein Hilfe. Sein Komplize wurde aufgegriffen und war eine Zeit lang im Polizeipräsidium. Ein gewisser Steiner. Kennt den jemand? … Nein? … War ja klar.«

Jakob sah nach und nach jedem Mitarbeiter in die Augen.

»Ich erwarte, dass die Sache höchste Priorität bekommt. Wenn es bei den Geigers Neues gibt, will ich das erfahren. Wenn die Ermittlungen vorangehen, dann will ich das verdammt noch mal auch wissen. Verabschiedet euch von dem Gedanken, dass ihr hier täglich eure acht, neun Stunden abreißt und danach wieder verschwindet. Ich erinnere nur daran, wie wackelig die Bilanz der Zeitung letztes Jahr aussah. Ich kann versprechen, sobald wir eine Nummer wie diese in den Sand setzen, wird im nächsten Stellenplan der Platz für einen von euch fehlen. So … und die Schlussredaktion, liebe Freunde …«

Jakob fuchtelte wütend mit dem Zeigefinger herum.

»Die Schlussredaktion wird heute und bis zum Ende der Woche sehr zeitig in den Feierabend gehen, weil ihr die Spätschicht übernehmt. Wer zu christlichen Zeiten keine Ergebnisse bringt, bekommt bei mir dazu abends Gelegenheit.«

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9783957658210
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