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Der Heilige Geist befähigt zur Mission
Gott sandte seinen Sohn in der Kraft des Heiligen Geistes in die Welt (Lk 4,18). An Pfingsten wurden die Jünger mit derselben Kraft ausgerüstet, um die Mission Jesu fortzusetzen (Apg 1,8). Aber nicht nur an den Jüngern, sondern auch an der Welt würde der Geist Gottes wirken. Er würde das Zeugnis der Jünger gebrauchen und die Welt überführen (Joh 16,7–11).
Mission ist ohne die Kraft des Heiligen Geist eine „Mission: Impossible“. Das zeigt sich schon an der Sendung von Jesus.95 Jesus begann seinen Dienst, nachdem bei seiner Taufe der Heilige Geist auf ihn herabgekommen war (Lk 3,21f). Anschließend wurde er in die Wüste geführt, wo er versucht wurde (Lk 4,2–13). Nachdem er die Probe bestanden hatte, war er bereit für seinen Dienst: „Jesus kehrte, erfüllt von der Kraft des Geistes, nach Galiläa zurück. Und die Kunde von ihm verbreitete sich in der ganzen Gegend“ (Lk 4,14). Dem Vorbild von Jesus folgend mussten die Jünger in Jerusalem bleiben, denn erst nachdem sie mit der Kraft aus der Höhe angetan worden waren (Lk 24,49), konnten sie zu brauchbaren Zeugen des Christus werden (Apg 1,8).
Dass Mission in der Kraft des Heiligen Geistes geschieht und dass sich in der Mission der Kirche die Mission von Jesus fortsetzt, zeigt sich im Doppelwerk Lukasevangelium-Apostelgeschichte besonders deutlich. Durch die gesamte Apostelgeschichte hindurch leitet der erhöhte Herr durch seinen Geist seine Kirche in ihrer Sendung in die Heidenwelt hinein: Der Heilige Geist führt Philippus auf wunderbare Weise zum äthiopischen Finanzminister, damit er diesem das Evangelium erklären kann (Apg 8,26–40). Gott spricht auf vielfältige Weise zu Petrus und Kornelius, sodass sich der widerspenstige Apostel aufmacht, um Kornelius und seiner Familie die Tür zur Gemeinde zu öffnen (Apg 10,1ff). Der Heilige Geist spricht zur Gemeinde im syrischen Antiochien und fordert sie auf, Barnabas und Paulus ziehen zu lassen, sodass sie sich „vom Heiligen Geist ausgesandt“ auf den Weg machen (Apg 13,1–4). So breitet sich das Evangelium gemäß Apg 1,8 immer weiter aus, nicht selten gegen den Widerstand der urchristlichen Missionare. Denn diese müssen erst nach und nach überzeugt werden, dass Mission im Sinn von Jesus nicht bedeutet, jüdische Proselyten zu gewinnen, sondern Menschen im Glauben an Christus zu binden und an ihn allein.
Die urchristliche Mission ist unübersehbar Missio Dei. In Apg 1–15 initiiert Gott selbst jeden neuen missionarischen Vorstoß in die unerreichte Völkerwelt.96 Die ganze Apostelgeschichte ist von einer trinitarischen Sendungstheologie durchdrungen: Durch vielfältige Kraftwirkungen des Heiligen Geistes offenbart sich der erhöhte Herr, Jesus Christus, suchenden Menschen, damit diese den lebendigen Gott kennenlernen können. Die Kirche wandelt auf den Spuren des Heiligen Geistes, gibt Zeugnis von Christus und hat so Anteil an der Missio Dei.
2.6 Kopernikanische Wende?
Wir können nun die geschichtlichen Ausführungen und die biblische Betrachtung in Bezug zueinander setzen. Der Blick in das Alte und das Neue Testament zeigt, dass es sich bei der Missio Dei nicht um ein beliebig ausgestaltbares Konzept handelt. Es kann nicht mit je eigenen Anschauungen über Zweck und Ziel der christlichen Mission gefüllt werden, ohne wesentliche Inhalte einer biblischen Sendungstheologie zu ignorieren. Das aber ist in der ökumenischen Missionsgeschichte geschehen und hat so weit geführt, dass die Missio Dei sogar als Schlagwort gegen die Mission verwendet wurde. Wenn in der evangelikalen Missiologie das Konzept der Missio Dei in jüngster Zeit vermehrt aufgegriffen wird, dann wird es wichtig sein, der Missio Dei eine im Sendungsverständnis Alten und Neuen Testaments verwurzelte Gestalt zu geben. Nur so kann vermieden werden, dass das Konzept allen ehrenhaften Bemühungen zum Trotz die Mission unterminiert, statt sie zu fördern. Als Karl Hartenstein die Formulierung Missio Dei einführte, hoffte er „die Mission vor Säkularisierung und Verflachung schützen zu können und sie ausschließlich für Gott zu reservieren“.97 Diese Hoffnung erfüllte sich nicht. Die Missionstheologie von Willingen gab mit ihrer Vieldeutigkeit Anlass zu ursprünglich nicht beabsichtigten Entwicklungen. Das zeigt, wie wichtig es ist, sich Rechenschaft darüber zu geben, welche Schlagworte man gebraucht und wie man sie inhaltlich füllt.
Unterschiedliche Lesarten
Willingen wird mitunter als „kopernikanische Wende“ in der Missionstheologie bezeichnet.98 Dieser Ausdruck scheint mir hoch gegriffen, auch wenn von Willingen als einer „der theologisch fruchtbarsten Konferenzen“ gesprochen werden kann.99 Entscheidend war, dass das Konzept der Missio Dei die christliche Mission im Wesen Gottes verankerte. Mit dieser Verankerung wurde die westlich angeführte Mission theologisch ihres Überlegenheitsgefühls beraubt, weil sie ihre Existenz nicht mehr mit ihren Erfolgen begründen konnte, sondern der Grund der Mission außerhalb ihrer selbst, nämlich in Gott, lag.100
Die Missio Dei entfaltete eine beträchtliche Wirkungsgeschichte.101 Nach Willingen wurden in der ökumenischen Mission das verheißungsgeschichtliche und das trinitarische Missionsmodell zu einem „neuen“ Missionsverständnis mit humanistischem Programm verschmolzen. Man war nun nicht mehr, wie im heilsgeschichtlichen Modell, auf das kommende Reich ausgerichtet. Es ging jetzt darum, dem Reich Gottes auf Erden zum Durchbruch zu verhelfen. Die Mittel dazu waren nicht mehr die Verkündigung des Evangeliums, sondern der interreligiöse Dialog und der politische Kampf.102 Neuere ökumenische Missionserklärungen gehen wie selbstverständlich von der Missio Dei aus.103 Allerdings wird diese nicht mehr so radikal interpretiert wie in den 1960er- und 70er-Jahren. So versuchte das Dokument Mission und Evangelisation – eine ökumenische Erklärung aus dem Jahr 1982 ein neues Gleichgewicht zwischen Verkündigung und Verantwortung in der Welt zu erreichen.104
Die evangelikale Leseart der Missio Dei unterscheidet sich bis heute wesentlich von der ökumenischen. Hier entwickelte sich die Missionstheologie erst einmal ganz im Rahmen des heilsgeschichtlichen Modells, wie Walter Freytag und Karl Hartenstein es vertraten. Die Missio Dei – sowohl als Begriff als auch der Sache nach – spielte in der evangelikalen Bewegung bis zur Jahrtausendwende keine wesentliche Rolle. Das zeigt sich an den großen evangelikalen Missionserklärungen:105
In der Lausanner Verpflichtung (1974) ist in Artikel 1 vom Plan Gottes die Rede. Gott „hat sein Volk aus der Welt herausgerufen und sendet es zurück in die Welt, damit sie seine Diener und Zeugen sind.“ Im Zentrum des Artikels steht der sendende Gott, der die Kirche zum Zeugendienst beruft. Eine Begründung der Mission aus dem Wesen Gottes kommt nicht ins Blickfeld. Artikel 15 verortet die Mission in der Eschatologie und stellt sich damit in die Tradition des heilsgeschichtlichen Modells von Walter Freytag und Karl Hartenstein.
Im Manila Manifest (1989) wird der missionarische Auftrag der Kirche umfassend begründet und entfaltet. Absatz 5 mit der Überschrift „Gott, der Evangelist“ beginnt mit den Worten: „Die Schrift erklärt, dass Gott selbst der eigentliche Evangelist ist.“ 106 Es wird festgehalten, dass Evangelisation ohne den Heiligen Geist nicht möglich ist. Mehr ist in dem Absatz und im ganzen übrigen Manifest nicht in Erfahrung zu bringen. Eine systematische Einfügung der Missio Dei in den Missionsauftrag ist nicht vorhanden.
In der Kapstadt-Verpflichtung (2010) wird erstmals in einer repräsentativen evangelikalen Missionserklärung die Sendung der Kirche in der Missio Dei verankert. Die missionarische Aufgabe wird als Dienst an der Welt definiert, und dieser Dienst ist möglich, weil Gott uns zuerst geliebt hat.107
Erst in den neuesten evangelikalen Versuchen, ein missionales Verständnis von Kirche und Mission zu entwickeln, wird auf die Missio Dei zurückgegriffen. So entfaltet der Missionswissenschaftler und Gemeindegründer Johannes Reimer den Gemeindebau trinitarisch und schreibt der Missio Dei eine wichtige Grundfunktion zu. Er nimmt den ökumenischen Gedanken der Missio Dei auf, der besagt, dass Gott sich in seiner Liebe der Welt zuwendet: „Es geht Gott um die Welt, und um seine geliebte Welt zu gewinnen, bedient er sich der Gemeinde. Sie ist daher Gottes Missionsinstrument und von ihrem Wesen her missionarisch.“ 108 Der heilsgeschichtliche Ansatz einerseits und die verheißungsgeschichtlichen und trinitarischen Ansätze anderseits vereinen sich bei Reimer zu einer missionalen Theologie evangelikaler Leseart, die auf theologische Abschottung verzichtet.109
Missionales Potenzial
Die Diskussion um die Missio Dei hat die evangelische Missionstheologie zweifellos einen Schritt weitergebracht. „Wir sind von einer ekklesiologischen zu einer trinitarischen Missiologie fortgeschritten“, bemerkt David Bosch.110 Durch eine trinitarische Missionsbegründung wird die Sendung der Kirche in Gott selbst verankert. Um eine kopernikanische Wende handelt es sich nicht. Es scheint mir angebrachter, von einem Fortschritt oder einem Potenzial zu sprechen. Abschließend möchte ich die Diskussion um die Missio Dei mit je einer Erkenntnis über Gott, die Welt und die Kirche versehen und damit das missionale Potenzial des Konzepts unterstreichen:
Erstens hat christliche Mission ihren Ursprung in Gottes liebender Selbstverpflichtung gegenüber der Welt. Bosch gibt diese Tatsache treffend wieder: „Mission hat ihren Ursprung weder in der offiziellen Kirche noch in speziellen kirchlichen Gruppen. Sie hat ihren Ursprung in Gott. Gott ist ein missionarischer Gott, ein Gott, der Grenzen auf die Welt hin überschreitet.“ Mission heißt: „Gott gibt sich selbst auf, wird Mensch, legt seine göttlichen Vorrechte ab und nimmt unsere Menschheit an. Gott kommt in die Welt, in seinem Sohn und seinem Geist. Das bedeutet, dass der dreieinige Gott das Subjekt der Mission ist.“ Und noch deutlicher: „Mission hat ihren Ursprung im Vaterherzen Gottes. Er ist die Quelle der sendenden Liebe. Das ist die tiefste Quelle der Mission. Es ist nicht möglich, noch tiefer vorzudringen: Es gibt Mission, weil Gott die Menschen liebt.“ 111
Zweitens ist die sich im Widerspruch zu Gott befindende und doch von ihm geliebte Welt das Objekt der Mission. Gott liebt diese Welt so sehr, dass er seinen eigenen Sohn zu ihrer Rettung sandte (Joh 3,16). Es ist die Welt, die im Fokus der Heilsabsichten Gottes ist. Die Kirche existiert nicht um ihrer selbst, sondern um Gottes Verherrlichung und um der Welt Willen. Bosch spricht von einer dreifachen Verpflichtung der Kirche gegenüber der Welt:
„Die Kirche schuldet der Welt Glauben.“ 112 Es ist die Aufgabe der Kirche, Menschen zum Glauben an Christus zu rufen. „Dieser Aufruf zum Glauben kommt nicht aus der Höhe einer überlegenen Position, sondern aus der Tiefe der Solidarität. Wir sind an dieser Stelle nur Bettler, die anderen Bettlern sagen, wo es Brot gibt.“ Die Botschaft der Versöhnung, welche die Kirche predigt, ist einzigartig und die Kirche „hat nur dann ein Recht auf Fortbestand, wenn das, was sie anbietet, einzigartig bleibt“.
„Die Kirche schuldet der Welt Hoffnung“.113 Die Kirche ist ein Zeuge der „kommenden neuen Ordnung“ und darum „muss sie bereits jetzt Zeichen des Reiches Gottes aufrichten“. Für Bosch sind es vor allem Zeichen der Solidarität mit Leidenden und Unterdrückten: „Jemand, der weiß, dass Gott eines Tages alle Tränen abwischen wird, kann nicht resignierend die Tränen derjenigen akzeptieren, die heute leiden und unterdrückt sind (…) Der Vorschlag, die Dinge sollten so bleiben, wie sie sind, ist das genaue Gegenteil des Evangeliums. Er ist nichts anderes als eine Leugnung der Auferstehung Christi und des Anbruchs des neuen Zeitalters.“
„Die Kirche schuldet der Welt Liebe.“ 114 Die Kirche gibt Gottes Liebe weiter. Dabei geht es nicht um irgendeine Liebe, sondern eine Liebe, die sich an der Liebe Christi misst: „Die Liebe Christi konstituiert das Modell und den Maßstab für die Liebe der Kirche für die Welt.“ Bosch denkt wie Reimer Kirche konsequent von ihrer Weltverantwortung her. Die Kirche ist keine Insel der Glückseligen, die das Ende abwartet. Sie ist eine Gemeinschaft von Dienern, die zum Glauben ruft, Hoffnung bringt und Liebe übt.
Drittens ist die Kirche das Werkzeug der Mission und darum kann sie nur als missionarische Kirche die Kirche von Jesus Christus sein. In der Mission der Kirche setzt sich die Sendung des Sohnes durch den Vater fort. Es ist biblisch verfehlt, mit dem Hinweis darauf, es sei doch Gott, der in der Welt wirke, die Kirche als unnötig zu betrachten. Wenn die Missio Dei nicht zur Missio Ecclesiae führt, greift sie zu kurz. Bosch bringt es auf den Punkt: „Die Kirche in der Welt ist nur Kirche, insofern sie eine missionarische Dimension hat.“ 115 Was die Kirche ist, lässt sich am besten von der Missio Dei ausgehend beantworten: „Kirche und Mission können nicht voneinander getrennt werden, da die Mission Gottes der Seinsgrund von Kirche ist. Daher ist die Kirche nicht zuerst und erhält dann einen Auftrag zur Mission, sondern die Kirche existiert aufgrund der Missio Dei. Sie ist als Mission existent. Und so bezeugt die Kirche mit all ihrem Tun, dass sie in der Sendung Gottes steht. Sie kann gar nichts anderes sein als eine missionarische Kirche, ansonsten hört sie auf Kirche zu sein.“ 116
Es ist wesentlich für die missionale Theologie, dass die Mission der Kirche vorgeordnet ist: „Die Mission gehört nicht der Kirche, vielmehr nimmt sie Teil an Gottes heilbringendem Handeln in der Welt. Der Ansatz stellt bisherige Begründungen von Mission als einem der Kirche nachgeordneten Auftrag regelrecht auf den Kopf: Mission im Sinne der Missio Dei wird zum Konstitutivum von Kirche und ist dieser vorgeordnet.“ 117 Gleichzeitig gilt: Die Kirche ist „als Leib Christi das primäre Werkzeug von Gottes Mission in seiner Welt“.118
Biblisches Sendungsverständnis
3.Die radikale Anstiftung und die Entwicklung eines ganzheitlichen Missionsverständnisses der Evangelikalen seit Lausanne 1974
Bis in die Mitte des 20. Jahrhunderts vertrat die weltweite evangelikale Bewegung ein Missionsverständnis, das als traditionell bezeichnet werden kann. Es ging in der Mission um die Verkündigung des Evangeliums und die Sammlung der Bekehrten in Gemeinden. Allgemein gesprochen sah man die Aufgabe der Kirche darin, Menschen aus der vergänglichen Welt herauszuretten und sie auf das ewige Leben vorzubereiten.
In der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts wandelte sich die evangelikale Mission zu einem ganzheitlichen Geschehen. Es begann sich die Auffassung durchzusetzen: Die Kirche muss das Evangelium verkünden und soziale Verantwortung wahrnehmen, sie muss Menschen auf das ewige Leben vorbereiten und durch gesellschaftliches Engagement die Welt verbessern helfen.
Diese Entwicklung ist den sogenannten „radikalen Evangelikalen“ geschuldet. Ihr Beitrag zu diesem Wandel ist überaus groß, wurde bisher aber kaum wahrgenommen. Die radikalen Evangelikalen traten als Gruppe erstmals am Lausanner Kongress 1974 in Erscheinung und stifteten dort die Teilnehmer zu dem an, was sie als radikale Jüngerschaft bezeichneten. Radikale Jesusnachfolge schloss ihrer Meinung nach gesellschaftliches und politisches Engagement ein. Ihre theologische Arbeit führte in der weltweiten evangelikalen Bewegung ein ganzheitliches Missionsverständnis herbei, das wegbereitend für die Entwicklung einer missionalen Theologie evangelikalen Zuschnitts war.
Wenn wir im Folgenden den Meilensteinen der jüngeren evangelikalen Missionsgeschichte nachgehen, werden wir den Begriffen „missional“ und „Missio Dei“ kaum begegnen, weil sie erst sehr spät von den Evangelikalen aufgegriffen wurden. Dennoch drängte das evangelikale Missionsverständnis mit bemerkenswerter Zielgerichtetheit auf das zu, was heute als missionales Sendungsverständnis gilt.
3.1Von Berlin bis Chicago – radikales Erwachen
Zu Beginn der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts machten sich sowohl in der westlichen Welt als auch in der Zwei-Drittel-Welt evangelikale Theologen mit der Forderung bemerkbar, die Evangelikalen müssten sich mit den drängenden Problemen der Gegenwart befassen und ihre soziale Verantwortung neu entdecken. Diese Forderung wurzelte in der Überzeugung, dass Christen Jesus radikal nachfolgen müssen und dass diese Gesinnung zur sozialen Aktion führt. Das knappe Jahrzehnt zwischen dem Kongress in Wheaton 1966 und dem Lausanner Kongress 1974 sah das Erwachen einer radikalen Gesinnung in der evangelikalen Bewegung. Sie wurde hauptsächlich durch drei Faktoren bestimmt:
Zum einen kam es in den 1960er-Jahren zur Bildung einer eigenständigen Theologie der Befreiung in Lateinamerika. Die Theologie der Befreiung entstand als Reaktion auf die als ungerecht empfundene wirtschaftliche und politische Abhängigkeit Lateinamerikas von den westlichen Machtzentren. Die Theologen der Befreiung stellten sich auf den Standpunkt, es gehe im Evangelium vor allem um die Befreiung von gesellschaftlichem Übel. Lateinamerikanische Evangelikale nahmen dieses Anliegen auf und begannen mit der Entwicklung einer evangelikalen Theologie, die Elemente der Befreiungstheologie aufnahm.119
Zum andern steuerte die ökumenische Missionstheologie in den 1960er-Jahren in rasantem Tempo auf ein humanistisches Missionsverständnis zu. Soziale Verantwortung und politische Befreiung wurden zu Kernanliegen ökumenisch verstandener Mission. Die mit dem Ökumenischen Rat der Kirchen verbundenen Evangelikalen sowie die radikalen Evangelikalen und weitere sozial gesinnte Evangelikale ließen sich von der Wichtigkeit der sozialen Verantwortung überzeugen und trugen dieses Anliegen in das evangelikale Lager.
Schließlich waren und blieben die radikalen Evangelikalen Teil der weltweiten evangelikalen Bewegung. Die radikalen Evangelikalen standen den Grundanliegen der Befreiungstheologie und der ökumenischen Missionstheologie positiv gegenüber. Aber den Kurs in eine politische Theologie und eine humanistische Mission konnten sie nicht mittragen. So entwickelten sie eine „Theologie des offenen Hauses“: Sie versuchten, aus ihrer Sicht verantwortbare Elemente der Befreiungstheologie und der ökumenischen Missionstheologie in eine evangelikale Grundkonzeption zu integrieren. Die Leidenschaft und die Überzeugung, mit der sie ihr Anliegen ihren evangelikalen Brüdern und Schwestern vortrugen, führten dazu, dass sich die evangelikale Missionstheologie zur Ganzheitlichkeit wandelte.120
Theologie des offenen Hauses
Meilenstein Berlin
Wenige Monate nach dem Kongress in Wheaton versammelten sich vom 25. Oktober bis 4. November 1966 1.200 Teilnehmer aus über 100 Ländern zum Weltkongress für Evangelisation in Berlin. Eingeladen hatte die Billy Graham Evangelistic Association.121
Das Hauptanliegen von Berlin bestand darin, die aufstrebende evangelikale Bewegung für ihre evangelistische Aufgabe zuzurüsten. Berlin war „ein Meilenstein für das Selbstverständnis der Evangelikalen“.122 Insbesondere gelang es den Evangelikalen, sich von ihrer Getto-Mentalität zu lösen: „Hatten die Evangelikalen vorher – als Folge ihrer offensichtlichen Niederlage in der modernistisch-fundamentalistischen Kontroverse in den ersten Jahrzehnten dieses Jahrhunderts – eine defensive Ghettomentalität angenommen, so wurden sie durch die internationalen Dimensionen dieses von Graham und Henry geschickt geleiteten Kongresses in die Lage versetzt, sich als aufstrebende weltweite Bewegung zu sehen.“ 123
Wegbereitend für die weitere Entwicklung war die Tatsache, dass in Berlin die Teilnehmer aus der Zwei-Drittel-Welt begannen, Kritik am Westen zu üben und „der Westen hörte zu“.124 Die durch die Entkolonialisierung veränderte Weltlage begann, sich auf das Verhältnis zwischen Nord und Süd auszuwirken:
Der überall in der Welt aufkommende Nationalismus verlieh den früheren Kolonien des Westens allmählich ein neues Selbst- und Zielbewusstsein. Evangelikale der Dritten Welt nahmen an dem Kongress in Berlin mit den Delegierten aus anderen Ländern als gleichberechtigte Partner teil. Die Rassendiskriminierung wurde auf der ganzen Welt diskutiert. Berlin 1966 half der aufstrebenden evangelikalen Führung der Dritten Welt, eine eigenständige Stimme in der evangelikalen Welt zu erheben und zu erkennen, wie wichtig ihr Beitrag für die Weltevangelisation ist.125
Dieser Umstand war von großer Bedeutung für den aufkeimenden radikalen Trend in der evangelikalen Bewegung. Berlin deutete an, dass die entscheidenden Impulse von der Zwei-Drittel-Welt ausgehen würden.
Berlin hatte noch nicht den Blick für die großen sozialen Herausforderungen der Gegenwart. Der Kongress beschäftigte sich hauptsächlich mit der Evangelisation. Es galt, die Verkündigung gegenüber einer humanistischen Verflachung der christlichen Botschaft als Hauptaufgabe der Kirche zu sichern. Den sozialen Problemen widmete der Kongress nur geringe Aufmerksamkeit, sodass Arthur Johnston von der „unerledigten Arbeit von Berlin“ sprechen konnte und davon, dass die Beziehung zwischen sozialer Aktion und Evangelisation theologisch noch weiter hätte untersucht werden müssen.126 Die Evangelisation wurde der sozialen Aktion übergeordnet. In den Worten Billy Grahams:
So hat die Evangelisation also eine soziale Verantwortung. Die sozialen, psychologischen, moralischen und geistlichen Nöte und Bedürfnisse der Menschen werden zu einer brennenden Motivation für die Evangelisation. Ich bin jedoch davon überzeugt, dass die Kirche einen viel größeren Einfluss auf die sozialen, moralischen und psychologischen Bedürfnisse der Menschen haben würde, wenn sie zu ihrer Hauptaufgabe zurückkehrte, das Evangelium zu verkündigen und Menschen zu Jesus Christus zu bekehren. Einige der großartigsten sozialen Bewegungen der Geschichte waren das Ergebnis davon, dass Menschen sich zu Jesus Christus bekehrt hatten.127
Billy Grahams Position spiegelt die Haltung der Evangelikalen jener Zeit wider, wonach die soziale Verantwortung eine Brücke zur Evangelisation bildet oder als Folge von ihr betrachtet wird, sie also der Evangelisation dienlich ist. Doch schon bald sollte sich die Stimmung zugunsten der Vertreter eines verstärkten sozialen Bewusstseins verändern und die soziale Verantwortung unabhängig ihres evangelistischen Potenzials eine eigenständige missiologische Bedeutung erlangen.
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