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Klassische Kata des Karatedô – eine Technik des Erweckens
Die Kata, die über Generationen hinweg von den Meistern weitervermittelt wurden, stellen eine Art Bildsprache dar. Sie scheinen einfach verständlich zu sein, wenn nicht sogar einfach zu praktizieren. In Wirklichkeit ist ihre Sprache eher dunkel, was sich dem Praktizierenden aber erst allmählich erschließt, und zwar entsprechend seiner Fertigkeit, den „Code“ der Kata zu entschlüsseln. Die Schöpfer der Kata haben zweierlei beabsichtigt. Zum einen sind die Kata eine Art Grammatik der Karate-Kampftechniken. Dies ist die erste Ebene der Interpretation, des Begreifens und der Anwendung. Auch hier gibt es natürlich Abstufungen, wie wir später sehen werden, wenn verschiedene Bunkai zu ein und derselben Technik dargestellt werden. Zum anderen ist die Kata ein Weg der Initiation, ein Leitfaden, der das Bewußtsein zu einem „anderen“ Zustand führt, was im Satori13 gipfeln kann, dem inneren Erwachen, dem „dritten Auge“. Das ist der Grund, weshalb es sehr gut möglich ist, eine Kata zu „kennen“ (und damit zufrieden zu sein) und doch von ihrem Wesen nicht das geringste zu wissen. Das, was man von der Kata sieht und die Art, wie man sie meistens ausführt, sind nichts als die Spitze des Eisbergs. Wie jedoch läßt sich der Rest erkunden? Dafür sollen im weiteren einige Anregungen vermittelt werden.
Die klassischen Kata14 haben allesamt eine chinesische Tao zum Ursprung.15 Sie alle tragen – mehr oder weniger deutlich – die Prägung des chinesischen Denkens und des antiken chinesischen Weltbildes. Im alten China glaubte man, daß die Struktur des Mikrokosmos eine Einheit mit der Struktur des Makrokosmos bildet, und man glaubte, daß jedes Wesen und jedes Ding das augenblickliche Ergebnis eines Gleichgewichts entgegengesetzter Kräfte ist, des Yang (positives Element) und des Yin (negatives Element). Andere Gegensatzpaare waren das Volle und das Leere, das Licht und der Schatten oder das Offensichtliche und das Verborgene. Die Tao und schließlich auch die aus ihr entwickelten Kata trugen ebenfalls diese Idee der Dualität, die hinter der Erscheinung steht, in sich: Jedem Angriff entspricht eine Verteidigung, jede Aktion ist mit einer Reaktion verknüpft, jeder sichtbaren Technik wohnt eine nicht offensichtliche Technik (ihre Weiterführung) inne, jede Interpretation trägt mindestens eine weitere, verborgene Bedeutung in sich … Das ist nicht weiter verwunderlich, berücksichtigt man, daß jene Männer (manchmal auch Frauen, wie z. B. im Wingchun-Stil des Wushu), die diese Kodifizierung der Bewegungsfolgen ersannen, weit über dem durchschnittlichen kulturellen Niveau ihres Zeitalters standen. Unter ihnen waren Gelehrte und Mönche, für die es undenkbar gewesen wäre, nach außen gerichtete Effektivität zu erlangen, ohne zugleich inneres Gleichgewicht zu finden. Die Menschen imitierten die Haltungen zorniger Götter oder kämpfender Tiere, um deren Kraft zu gewinnen. Das traditionelle chinesische Denken, genährt durch religiöse, philosophische und kosmogonische Elemente, führte dazu, daß sie zugleich danach strebten, einen Weg der inneren Suche nach sich selbst zu beschreiten, was später zum Hauptzweck ihres Strebens wurde.
Doch der Lauf der Geschichte sollte dies ändern. Völker fanden sich vor die Notwendigkeit gestellt, gegenüber Eindringlingen um ihr Überleben zu kämpfen. Das kulturelle Umfeld wandelte sich, was dazu führte, daß die Interpretation ein und derselben Bewegung, die äußerlich dieselbe geblieben war, sich änderte. Menschliche Irrtümer schlichen sich ein. Auf diese Weise geschah es, daß im Lauf der Zeit die primäre Bestimmung der Tao bzw. Kata die Oberhand gewann, ihre Eignung für den Kampf. Im 20. Jahrhundert begann sich diese Tendenz zu verstärken, eine Entwicklung, die neuen Schwung erlangte, als die Kampfkunst auf das Gebiet des Sports übertragen wurde, mitsamt den zwangsläufig damit verbundenen Anpassungen.
Foto 1
Foto 1 und Grafiken unten: Das Foto zeigt eine im Original farbige Holzstatue im Shanhua-Kloster von Datong und Malereien im Nanshansi-Tempel im Wu-taishan-Gebirge (China).
Die himmlischen Wächter schwenken eine sehr altertümliche Waffe, die Wurfscheibe aus Metall (Messerscheibe), die von den Völkern des alten Indien stammt. Ihre Körperhaltung nimmt bestimmte Bereitschaftshaltungen (Kamae) vorweg, die Bestandteil chinesischer Tao und alter Kata sind. Vergleichbare Statuen findet man bereits in Indien unter den Namen Vajrapani oder Vajradhara, und ihre Bereitschaftshaltungen finden sich in der indischen Kampfkunst Vajramushti wieder. Indem man zornige Gottheiten nachahmte, erhoffte man sich, vergleichbare zerstörerische Energien – auf Menschenmaß reduziert – entfesseln zu können.
Foto 2
Foto 2: Kongo rikishi (Tempelwächter), eine bemalte Holzstatue aus dem Japan des 13. Jahrhunderts (Nationalmuseum von Kyôto). Man findet solche Wächter an den Eingängen buddhistischer Tempel. Sie werden immer paarweise aufgestellt, einer der Wächter repräsentiert dabei das positive Prinzip (Mushaku rikishi), und der andere das negative (Kongo rikishi). Für gewöhnlich werden sie grün bzw. schwarz bemalt. Neben dem offenkundigen Zurschaustellen von Muskelkraft sollen sie auch die kosmische Energie und den Dualismus der Kräfte Yin und Yang symbolisieren. Die Ähnlichkeit der Haltungen der alten indischen, chinesischen und japanischen Wächterstatuen (Grafiken S. 30, Fotos 1 und 2) ist bemerkenswert, vor allem, wenn man berücksichtigt, daß sie Jahrhunderte und zudem tausende Kilometer voneinander entfernt entstanden sind. Beachtenswert ist ebenfalls, daß man die Haltung der Statuen auch so interpretieren kann, daß sie die Stellung des Menschen zwischen Himmel und Erde verdeutlichen – eine Hand ist erhoben, die andere weist zum Boden. Somit verkörpern sie bereits den Dualismus zwischen der „Vorderseite“ (Omote, das Sichtbare) und der Rückseite“ (Ura, das Interpretierte) in ein und derselben Erscheinungsform.
Foto 3
Foto 3: Tôguchi Seikichi Sensei vom (Shôrei kan) beim Vorführen der Kata Seienchin (Gôjû ryû). Die Haltung ist eine menschliche Interpretation eines himmlischen Wächters, wie sie auf den Grafiken auf S. 30 und auf den Fotos 1 und 2 zu sehen sind, und sie kann auf die gleiche Weise gedeutet werden. Die Koshiki Kata des Karatedô enthalten philosophisch-religiöse Elemente sehr alter Kulturen, auch wenn man sich dessen nicht in jedem Fall bewußt ist.
Die sekundäre Bestimmung der Tao bzw. Kata als Mittel der Initiation geriet rasch ins Hintertreffen. Ein Grund hierfür ist darin zu finden, daß eine solche Bestimmung ungeeignet für die Erziehung von Massen ist, die entweder zu ungebildet oder in ihrer Aufmerksamkeit durch verschiedene Einflüsse zu zerstreut sind. Ein weiterer Grund ist, daß die häufige Weitergabe der Formen durch die Meister an ihre Schüler die in den Bewegungsfolgen verborgene Botschaft rasch verblassen ließ. Meister wie Schüler waren stets Menschen, und nicht immer leitete ein höheres Interesse ihre Taten. Heute ist die Unwissenheit über diese „andere“ Seite der Tao bzw. Kata sehr groß, selbst in China oder Japan. Somit haben wir, die praktizierenden Europäer oder Amerikaner, eine gute Entschuldigung, waren wir doch lange Zeit auf das angewiesen, was uns die zeitgenössischen „Meister“ des Ostens als Orientierung für unsere Suche vorgaben. Erst später haben wir erkannt, daß diese Orientierung, von nahem betrachtet, oberflächlich, unbefriedigend oder, schlimmer noch, geradezu armselig war. Unsere Sehnsucht blieb. Tatsächlich nahm ein großer Teil des neuerwachten Interesses für die Kata als Weg der inneren Suche im Westen seinen Ausgang. Die Wegbereiter im Fernen Osten, auf solche Weise an ihre Verantwortlichkeit erinnert, waren nicht immer in der Lage, dieser Form der Wißbegierde zu begegnen. Diese Überlegung ist kein Ausdruck fehlender Bescheidenheit oder mangelnden Urteilsvermögens. Sie ist nichts als eine formale Feststellung: Sogar in Japan und in China gibt es nur wenige wahre Meister, die in der Lage sind, derartige Anforderungen zu erfüllen. Hinzu kommt, daß einige von ihnen dies auch gar nicht wünschen. Die Gründe hierfür sind oft nicht schwer zu verstehen: Man darf bezweifeln, daß ihre Bemühungen in der gegenwärtigen Welt der Kampfkünste ein nennenswertes Echo erfahren würden.
Es ist bekannt, daß der Begriff „Kata“ als „Form“ oder „Gußform“ übersetzt werden kann. Wer die Kata respektiert, kann sich durch sie „formen“ lassen, denn die Kata ist sehr wohl ein auf den Körper übertragbares Schema. Die in ihr verschlüsselten Bewegungsfolgen, durchdrungen von einem bestimmten Geisteszustand, sind für zwei Arten der „Bildung“ vorgesehen: Auf der ersten Ebene dienen sie der äußeren Bildung, der Vorbereitung auf den Kampf; auf der zweiten Ebene dienen sie der inneren Bildung, der Selbstfindung. Die Kata mag einfach oder kompliziert wirken, lang oder kurz sein, immer jedoch regt sie das Streben nach Vervollkommnung an. Nur dank dieses Strebens kann man darauf hoffen, daß sich das Ergebnis einstellt, für das man sich letzten Endes den Zwängen der Kata fügt. Alles muß ergründet werden: die Automatismen, die Phasen, in denen sich die Kraft konzentriert, und die Rhythmen. Man muß nach vollendeten Bewegungsfolgen und nach einem perfekten Zusammenwirken von Körper und Geist streben. Alles muß daran gesetzt werden, den Körper zu einer vollkommenen Waffe werden zu lassen, aber gleichzeitig muß man lernen und akzeptieren, daß diese Waffe nie zum Einsatz kommen wird. Dieser scheinbare Widerspruch – ein weiteres Beispiel für das dualistische Prinzip – bewirkt mit der Zeit (die hierbei ein wesentlicher Faktor ist) eine Evolution des Geistes. Durch unermüdliches Wiederholen der Kata den „Geist zu schmieden“, ist ein Ausdruck, der auf der ersten Ebene eine kriegerische Bedeutung innehat: lernen, mit starkem Geist zu kämpfen. Auf einer zweiten Ebene, die die erste ablösen sollte, geht es um die Suche nach jenem inneren Zustand, der oft als „leerer Geist“ charakterisiert wird und der die Quelle der wirklichen Effizienz darstellt, nach der alle Künste des Fernen Ostens streben. Wird eine Kata auf höherem Niveau ausgeführt, so muß dies ohne Angriffslust oder Verteidigungsbereitschaft erfolgen, ohne einen bestimmten Seelenzustand, ohne eine bestimmte Absicht, ohne Selbstgefälligkeit, ohne Furcht, einzig und allein mit Kraft und Bestimmtheit, die auf kein Ziel gerichtet sind.
„Leerer Geist“ (Mushin) bedeutet nicht die Abwesenheit des Geistes, sondern einen bestimmungslosen und dennoch präsenten Geist. Dieser Zustand ist gekennzeichnet durch inneres Gleichgewicht; Energieflüsse werden freigesetzt und mit vollendeter Gelassenheit gesteuert. Hinter diesem scheinbar unbeweglichen Geisteszustand verbirgt sich die wahre Effektivität. Um dies mit einem Bild zu verdeutlichen: Ein Kreisel ist genau dann effektiv (das heißt, er erfüllt den Zweck, für den er geschaffen wurde), wenn seine Achse unbeweglich ist und er sich zugleich mit voller Geschwindigkeit dreht.
Es ist in jedem Fall wichtig, die Arten der Kata, die uns überliefert wurden, nicht miteinander zu verwechseln. Eine Kata kann im Laufe der Zeit stark modifiziert worden sein. Dennoch wird vom Ursprünglichen noch einiges in ihr enthalten sein. Und ebendies ermöglicht uns zu erkennen, was einst die wahre Natur dieser Kata gewesen ist.
Die klassische Kata als verschlüsselte Kampfform
Das kriegerische Element durchdringt jede Kata, und es ist ihr offensichtlichstes Merkmal. Dies gilt zumindest für Teilabschnitte, oft aber für die Gesamtheit der Bewegungsfolgen. Der erste Zweck einer Kata besteht darin, den Praktizierenden das Kämpfen zu lehren, und dies auf eine sehr pragmatische Weise. Dabei darf jedoch niemals vergessen werden, daß in die Kata der Geist, die Erkenntnisse, die Strategien und das technische Rüstzeug der Epoche, in der sie entstanden ist, eingeflossen sind. Manch einer wird sich fragen, was von diesen Kenntnissen heute noch Gültigkeit besitzt. Schließlich verfügen wir gegenwärtig über ein weit umfassenderes Wissen. Wir können Kampfkünste, die aus der ganzen Welt stammen, miteinander vergleichen. Das Ergebnis ist eine völlig neue Kategorisierung der Kampftechniken. Heutzutage kann ein Champion seine Titel gewinnen, ohne daß er sich zugleich mit Kata abmüht. Das ist häufig der Fall. Wie steht es nun um die tatsächliche Effektivität der Techniken der Kata?
Im Karatedô ist die Erscheinungsform einer Kata nicht die gleiche wie die des Kumite, selbst wenn beide offenkundig über die gleichen Grundlagen und über eine Anzahl gemeinsamer Techniken verfügen. Die Kata repräsentiert eine fiktive Situation, in der sich der Kämpfende in einer schier aussichtslosen Lage befindet. Er muß dabei mit mehreren Gegnern kämpfen, die ihn von allen Seiten angreifen. Dies ist eine Situation, in der es um Leben oder Tod geht. Aufgrund der Wiederholungen und der Automatismen der Kata gelangt der Praktizierende jedoch oft in einen Zustand, in dem eine Art zweite Natur in ihm erwacht, die es ihm gestattet, eine „Energie der Verzweiflung“ zu mobilisieren. Ein aktiver, doch zugleich gelassener Geisteszustand ermöglicht es ihm, diese Energie zu kontrollieren. Aus alledem ergibt sich eine potentielle Wirksamkeit, die jedoch nie tatsächlich überprüft werden kann, da solch eine Situation in der Praxis für gewöhnlich nicht auftritt. Die Kata muß perfekt beherrscht werden, aber diese Perfektion dient zu nichts anderem, als den Geist zu „polieren“, indem der Körper trainiert wird. Man begreift nun, daß die öffentliche Vorstellung einer Kata zu dem einzigen Zweck, einen Titel bei Kata-Meisterschaften zu gewinnen, tatsächlich keinerlei Sinn hat für denjenigen, den Funakoshi Gichin als „Mensch des Weges“ bezeichnete.
Das Kumite zu Ausbildungszwecken, wie das Ippon- oder das Sambon-Kumite, ist der Kata verwandt, vor allem unter dem Aspekt, daß es der Kontrolle über das Selbst ebenso verpflichtet ist wie diese. Hingegen stellen das freie Kumite (Kampf) und – schlimmer noch – das von Schiedsrichtern geregelte Shiai (Wettkampf) unmittelbare Konfrontationen dar, bei denen es um die Bestätigung „hier und jetzt“ geht, daß einer der Kämpfenden besser sei als der andere. Dieses Ziel ist ebenso präzise wie beschränkt, es ist frei von darüber hinausgehenden Ambitionen. Es geht den Kämpfenden ausschließlich darum, nach den gegebenen technischen Regeln zu gewinnen, und dies im Sinne eines Spiels (auch wenn dieses Spiel durch Gewalt geprägt ist). Das ist der Grund, weshalb Kumite und Kata nicht wirklich zwei Seiten ein und derselben Medaille darstellen. Es scheint naheliegend zu sein, sich die Frage zu stellen, ob es denn tatsächlich notwendig sei, sich mit den eintönigen Wiederholungen einer Kata abzuplagen, um schnell die für den Kampf erforderliche Effektivität zu erlangen. Schließlich scheinen die in der Kata enthaltenen Techniken nicht an die Entwicklungen und Abläufe, wie sie in einem modernen sportlichen Wettkampf auftreten, heranzureichen. Doch dies ist in Wirklichkeit ein Trugschluß, der auf einer oberflächlichen Betrachtungsweise der in der Kata zu erkennenden Techniken beruht.
Wie bereits weiter vorn erwähnt, bieten alle fernöstlichen16 Formen der Suche und des Lehrens zwei mögliche Wege: den äußeren Weg (Omote17) und den inneren Weg (Ura18). Analog dazu gibt es in den Koshiki Kata ein „Behältnis“ (die Erscheinung, die sichtbaren Techniken: Omote waza) und den „Inhalt“ (das Verborgene, die unsichtbaren Techniken: Ura waza). Ersteres ist jedoch auf eine Weise konzipiert, daß der Zugang zum „Inhalt“ erschwert wird. Die Gründe hierfür sind folgende:
Die Kata ist eine Sprache, eine Zeichenfolge, mit der Wissen bewahrt und zum Ausdruck gebracht wird. Dieses System der Lehre und der Übertragung ist gewissermaßen durch einen Code verschlüsselt. Um das zu verstehen, muß man begreifen, daß es sich um gefährliches Wissen handelt. Gefährlich schon allein deshalb, weil es im Kampf wie eine Waffe eingesetzt werden kann, und gefährlicher noch, wenn das Element der Beherrschung des Selbst hinzukommt, sofern es mißbräuchlich eingesetzt wird. Somit erfüllte die Codierung des Wissens den Zweck, es von jenen fernzuhalten, die seiner nicht würdig waren. Es ist nun offenkundig, daß ohne den Code-Schlüssel für etwas, was anscheinend jedermann lernen kann, die klassische Kata überholt, unnütz und ineffektiv erscheinen kann. Wozu also Zeit und Energie investieren, um sie zu praktizieren? Derartige Überlegungen führten tatsächlich dazu, daß immer häufiger moderne Kata entwickelt werden, denen man eine höhere Effektivität zutraut, nicht zuletzt, weil sie spektakulärer wirken oder technisch „vollständiger“. Dies bedeutet jedoch nichts anderes, als daß bei diesen modernen Kata mangels inneren Gehalts (Ura) das Äußere (Omote) im Vordergrund steht. Man muß wissen, daß in allen Stilrichtungen des Karate die heute praktizierten Kata nur noch Schatten ihrer Vorläufer darstellen, gespickt mit Fehlern, Deformationen und Lücken. Die Ursache hierfür können Fallen sein, die die Meister als Prüfung eingebaut haben oder auch Übermittlungsfehler bei der Weitergabe durch die Schüler. Und dies gilt für alle Formen, von welchem der Experten unserer Zeit sie auch immer praktiziert werden.
In erster Linie liegt das an der Intensität, mit der die Bunkai19 studiert werden, und diese Intensität war in früheren Zeiten bedeutend höher. Das Bunkai ist ein zum Zweck der Erklärung angefertigtes „Abbild“ der Kata für das Üben mit Partner, eine vollständige „Gebrauchsanweisung“, die den Umfang der ursprünglichen Kata beträchtlich „aufbläht“. Früher, als es noch üblich war, sich während des ganzen Lebens mit zwei oder drei Kata, wenn nicht gar nur mit einer einzigen zu befassen, war das zu zweit geübte Bunkai von großer Reichhaltigkeit. Es gab zahlreiche Varianten, Weiterführungen, verschiedene strategische Bedeutungen, unterschiedliche Gesichtspunkte, je nachdem, welche Art von Konfrontation betrachtet wurde. Das ging so weit, daß die Bunkai nur noch sehr entfernt an die vereinfachten Formen, wie sie in der Kata zu finden sind, erinnerten. Heute kann man sich das nur noch schwer vorstellen. Angetrieben durch die Entwicklung und die Rivalität der einzelnen Schulen, vervielfältigte sich die Zahl der Kata, und verschiedene Kata wurden miteinander kombiniert. Das hatte zur Folge, daß immer weniger Zeit für das Vertiefen der Bewegungselemente in Paaren aufgewendet wurde.
Die Vernachlässigung von etwas derart Fundamentalem ließ zwangsläufig manches in Vergessenheit geraten, und es kam zu Verlusten bei der Übertragung traditioneller Kenntnisse. Die heute vorhandenen Reste der klassischen Kata stellen das Endergebnis einer Verarmung dar, die bereits vor langer Zeit ihren Anfang nahm. Es versteht sich von selbst, daß mit fortschreitenden Verlusten hinsichtlich der äußeren Form der klassischen Kata auch die traditionelle Kata verloren gegangen ist, das heißt, das „hermetische“ Doppel der klassischen Kata. Diese Verluste traten beim Übergang von einer Generation auf die nächste auf, aber auch durch die Auswanderung von Kampfkunstexperten in alle Teile der Welt. Die Auswanderer lösten sich langsam, aber sicher von ihren Quellen, aus denen sie nun keine neue Kraft mehr schöpfen konnten. Verstärkt wurde diese Tendenz durch den Tod der letzten allgemein anerkannten, respektierten und gefürchteten (!) Meister. Allein schon die äußere Form dessen, was von den Koshiki Kata geblieben ist, verrät viel über die Unvollkommenheit der ererbten Formen. Die Bewegungen sind oft auf reine Andeutungen reduziert und lassen realere, vollständigere Bewegungsformen nur noch erahnen. Bunkai wirken häufig willkürlich und aus der Luft gegriffen, denn für die Anwendung im wirklichen Kampf sind sie nicht geeignet. Es gibt Techniken, die zwar ästhetisch erscheinen, aber nicht ohne weiteres anwendbar sind, Schrittfolgen, die umgekehrt aufzufassen sind, unvollständige Bewegungen, die nie zu Ende geführt werden, Anfänge von Fährten, die nur angedeutet werden, fehlende Übergänge, … Die technische Ausrichtung der „modernen“ Kata ist somit aus bestimmten Umständen hervorgegangen, ihre Zweckbestimmung ist das Ergebnis eines Abkommens vom Weg. Sie ist eine kämpferisch-sportliche Ausdrucksform ohne nennenswerten Bezug zu ihrem Vorläufer. Die Kata dient heute dazu, etwas zur Schau zu stellen. Sie ist ästhetischer geworden. Der Preis dieser trügerischen Entwicklung ist ein Verlust an äußerer wie an innerer Wirksamkeit.
Verantwortlich für diese Erosion ist das typisch östliche Lehrsystem, das sich als nicht geeignet erwiesen hat, Wissen über eine gewisse Anzahl von Generationen von Meistern hinweg getreu zu übermitteln, und das sich als noch ungeeigneter erwies, als es sich mit den Erfordernissen einer quantitativ schnellen Entwicklung der Kampfkünste konfrontiert sah. Einige der Fallstricke oder Lücken, die man in einer klassischen Kata, wie sie heute praktiziert wird, nachweisen kann, wurden absichtlich in die Bewegungsfolgen eingebaut. Derartige „Fehler“ beruht auf der Absicht, eine Art Labyrinth zu konstruieren, das einerseits dazu diente, Spione, die von anderen Schulen kamen, zu verwirren, damit sie das Wissen nicht stehlen konnten, und das andererseits die Praktizierenden zu großen Anstrengungen anspornen sollte. Hierdurch sollte verhindert werden, daß jedermann den Zugang zum inneren Wesen der Kata finden konnte, ohne es verdient zu haben und ohne bereit zu sein, diese „Wahrheit“ ertragen zu können. Andere Fehler entstanden jedoch unabsichtlich, durch unvollkommene Übertragung des Wissens vom Meister auf den Schüler. Der Grund hierfür ist die Gewohnheit der klassischen Meister der traditionellen Kampfkünste in Japan, zwei Nachfolger zu ernennen: einen offiziellen und einen inoffiziellen. Das zeugt, wie wir sehen werden, von einem gewissen strategischen Sinn, aber es verkomplizierte die Angelegenheit ungemein.
Gemäß der Tradition bestimmt ein Meister zu seinen Lebzeiten mindestens zwei seiner engsten Schüler, die nach seinem Tode an die Spitze seiner Schule treten. Einer der Nachfolger wird unter den Uchi deshi20 ausgewählt, er ist der „Erbe im Schatten“ (kage deshi). Er wird der weniger bekannte sein, dem jedoch die Gesamtheit der Lehren vermittelt wird, einschließlich der esoterischen21 Aspekte. Der zweite wird unter den Soto deshi22 des Meisters ausgewählt, und er ist der offizielle Erbe, jener, der, nach außen hin bekannter, für die Entwicklung der Schule verantwortlich sein wird. In diesem durchaus originellen Verfahren spiegelt sich die Koexistenz des Schattens (Yin) und des Lichts (Yang) wieder, aber in einem umgekehrten Sinn, als man erwartet hätte: Der Erbe, der im Schatten bleibt, ist in Wahrheit der, welcher das Licht des Wissens empfangen hat. Aber ein solches System führt auch zu einem besonders schnellen Aufsplittern der Stammbäume der Schulen, denn der Prozeß wiederholt sich bei jeder neuen Übertragung des Menkyo kaiden, der höchsten zu erreichenden Berechtigung in einer klassischen Kampfkunst, die Lehren einer Schule weiterzugeben. Dieses dokumentierte Recht wurde offiziell auf jeden „in Erscheinung tretenden“ Nachfolger übertragen und garantierte, daß sein Träger die Gesamtheit der Techniken der Schule beherrschte. Wie wir gezeigt haben, konnte jedoch nur ein innerer Schüler (Uchi deshi) die wahren „Geheimnisse“ der Kata kennen, das heißt, die Schlüssel für den Code, mit dessen Hilfe sich der verborgene Sinn der Kata erschließen ließ. Doch ein Uchi deshi wird sein Wissen stets am Rande des offiziellen und lärmenden Lebens der Schule weitervermitteln. Manche Uchi deshi starben auch, ohne ihre Kenntnisse weitergegeben zu haben, da sie entweder nicht in der Lage oder nicht willens gewesen sind, die Abstammungslinie im Schatten weiterzuführen.
Diese Methode der Weitergabe von den Geheimnissen einer Kata ist nach und nach zum Erliegen gekommen, oder sie kommt gegenwärtig zum Erliegen. In unserer Zeit verwirklicht sich die Dynamik der weltweiten Entwicklung des Karate nicht mehr auf dem Weg „offizieller“ Nachfolger. Mehr noch: Es gibt niemanden mehr, der die gegenwärtige Entwicklung kontrolliert, niemand genießt mehr Respekt im klassischen Sinne. Hingegen ist die Zahl der „kleinen“ äußeren Schüler allgemein anerkannter Meister, die bereits vor langer Zeit verstorben sind, groß, und sie alle erheben Anspruch auf ein Erbe. Solch ein Anspruch ist im allgemeinen unmöglich zu verifizieren. Oder sie erklären sich einfach selbst zu Meistern, mit dem Recht, Kata zu modifizieren oder neue zu schaffen. Wie soll man sich da noch zurechtfinden? Unser Zeitalter gehört nicht mehr den unumstrittenen Meistern. Es scheint heute so viele von ihnen zu geben! Nicht wenige der hochrangigen Karateka von heute haben bedenkenlos alle Spuren zertreten und, ohne sich dessen bewußt zu sein, die Schüssel verloren für ein Verständnis dessen, was sie zu vermitteln vorgeben.
Wo aber findet man heute noch das Dô des Karate, den Weg? Er ist nach wie vor im nahezu anonymen Wirken einiger alter Meister zu entdecken, deren Namen nicht einmal in den neuesten bekannten Stammbäumen der Schulen erscheinen, wonach sie im übrigen auch gar nicht trachten. Diese Meister überlassen es anderen, im blendenden Scheinwerferlicht zu stehen und sich der Bewunderung eines unwissenden Publikums hinzugeben. Sie erteilen kaum noch Unterricht, oder sie vermitteln ihr Wissen so wenigen Schülern, daß die Gefahr besteht, daß diese Männer, authentische lebende Schätze einer praktisch verschwundenen Kunst, aussterben und das echte „Leben“ der Koshiki Kata mit ins Grab nehmen. Aber auch andere hervorragende Menschen, seien sie bekannt oder unbekannt in der Welt des Karate, haben endlich die Gefahr begriffen. Sie versuchen, hier und da den fatalen Prozeß aufzuhalten, indem sie anderen die Situation bewußtmachen und sie zum Nachdenken anregen. Aber was kann eine Handvoll kompetenter Menschen guten Willens schon ausrichten, wo die Mehrheit der Karateka oft nur vorübergehend einen Sport ausübt und nicht mehr eine Lebenskunst zu verwirklichen sucht? Kaum jemand weiß noch von dem Dualismus des Inneren und des Äußeren bei dem, was er eigentlich tut, ein Dualismus, der sich noch in der Bezeichnung wiederspiegelt, die Funakoshi Gichin um 1930 wählte, um seine Kunst zu benennen, die er von Okinawa nach Japan gebracht hatte.23
Zunächst hieß diese Kunst Tôde, wobei to ein chinesisches Begriffszeichen ist, das auf okinawanisch tô ausgesprochen wird und die Dynastie der Tang bezeichnet. In der weiteren sprachlichen Entwicklung weitete sich die Bedeutung des tô auf alles, was vom benachbarten chinesischen Festland stammte, aus. De bedeutet eine Technik. Tôde kann demzufolge als „Technik der Tang“ oder „Kontinentaltechnik“ interpretiert werden. Aus dem okinawanischen Begriff Tôde wurde nun der japanische Begriff Kara te. Te heißt auf japanisch „Hand“, aber auch „Kunst“. Kara bedeutet „leer“ im physischen Sinne, aber das Ideogramm für kara kann auch als ku gelesen werden, was „leer“ im metaphysischen Sinne bedeutet, womit die Brücke zu Mushin, der Leere des Geistes geschlagen wird.24 Wenn man kara te als „leere Hand“ interpretieren kann, so kann man es auch als „Kunst des Zustands der Leere des Geistes“ interpretieren. Dies hebt alles auf ein gänzlich neues Niveau, und gleiches gilt auch für die Namen der Kata. Auch diese lassen sich auf verschiedenen Ebenen des Verständnisses unterschiedlich interpretieren.
Alle Probleme, die sich aus solch einer Komplexität der Zusammenhänge ergeben, haben die Verbände des Sportkarate auf ihre Weise gelöst, indem sie eine Vereinheitlichung jener Kata angeordnet haben, die auf den Meisterschaften oder für die Verleihung von Graden vorgeführt werden. Die Bewegung ist damit zum Selbstzweck geworden, was zählt, sind die Kraft, der Effekt und die Ästhetik. Dem Publikum gefällt das natürlich, und das Publikum ist wegen der Dynamik der Entwicklung der Mitgliederzahlen in den Vereinen zu einem wichtigen Faktor geworden. Der Zweck der Kata ist kein erzieherischer mehr, sondern die Kata soll gefallen, die Mühsal ist durch die Mühelosigkeit abgelöst worden. Selbst die Kata aus Okinawa, die den Ruf haben, die getreuesten Überlieferungen der Koshiki Kata zu sein, sind nicht unbeeinflußt geblieben von dem internationalen Erfolg, der ihren japanischen Abkömmlingen zuteil wurde. Dadurch, daß sie der Kritik ignoranter Beobachter ausgesetzt waren, verloren die „unendlichen Schätze“ von ihrem Glanz.