promo_banner

Реклама

Читать книгу: «Die unbeschriebene Welt»

Шрифт:

DIE
UNBESCHRIEBENE
WELT

Robert Hoffmann

Roman

Kapitelübersicht

Der Wasserfall

Memoria

Die Schmiede

Der Sonnenschirmmacher

Am Ende der Welt

Die Aufgabe

Der Konvent

Der längste Tag

Der Plan

Salvento

Das Gründungsfest

Zeitenwende

Kairos

Acra

Jules

Maria

Katharsis

Der Turm

Paul

Die Erde

Die unbeschriebene Welt

Der menschliche Antrieb

Geboren in eine Welt der Unterscheidung — das Ich, das Ihr und das Dingliche — wollen wir uns erkennen, um uns zu befreien, von der Fremdbestimmung.

Der Zündfunke menschlicher Intention ist das Bestreben erkannt zu werden, damit wir uns erkennen. Uns erfahren — nicht als ein Objekt, sondern als Mensch.

• • •

Sidus von Bouquin — Die freie Gesellschaft

Der Wasserfall

( . )

Ich öffne die Augen, helle Schlieren flirren über die Netzhaut, geblendet halte ich die Hand vor das Gesicht. Ein tiefes Rauschen dringt an meine Ohren; die mit Feuchtigkeit gesättigte Luft vibriert, es riecht erdig nach nasser Vegetation. Eine Taubheit breitet sich von meinem Kopf bis in die Glieder aus. Ich spüre den Boden, wie er sich mit meinem Atem hebt und senkt, als wäre ich mit ihm verwachsen, als hätte er mich soeben erst geboren. Wie nach einem tausendjährigen Schlaf, zwinge ich meine Lider, sich mehr und mehr zu öffnen, sich tränend an das grelle Sonnenlicht heranzutasten. Aus den unscharfen Konturen entsteht ein erstes klares Bild: eine wippende Baumkrone, ein blasser Regenbogen, ein weißer Vogelschwarm. Meine Hände ertasten den Untergrund: feuchtes Moos und kantiges Felsgestein. Ich richte meinen Oberkörper auf; dünne Bäume mit großen, kreisrunden Blättern umgeben mich, dazwischen drängen sich hohe Sträucher, an denen gelbe Früchte wachsen. Insekten schwirren herum und verfangen sich in einem Spinnennetz. Die Fülle der Sinneseindrücke überkommt mich wie die Sintflut einen Dürstenden: diese würzige Luft, diese intensiven Farben, dieses durchdringende Rauschen. Etwas stimmt nicht — wo bin ich?

Nichts.

Wie komme ich hierher?

Nichts.

Ich richte mich, an einen Baum stützend, auf. Was ist das Letzte, an das ich mich erinnern kann? Alles, was vor dem Aufwachen geschah, scheint wie ausgelöscht, eine klaffende Leere, die mich anstarrt. Als hätte es ein davor nie gegeben, als wäre es überhaupt lächerlich danach zu suchen — gleich der Frage, was vor dem Urknall war.

Ich blicke an mir hinunter: ein braunes Jackett, eine blaue Jeans und für diese Gegend viel zu schlichte Schuhe. Vielleicht bin ich gestürzt und mit dem Kopf aufgeschlagen? Ich taste durch die Haare hindurch den Schädel ab, kann aber, mit einer gewissen Enttäuschung, keine schmerzhafte Stelle oder Wunde entdecken. Ein entferntes Dröhnen lässt den Boden erschüttern, dann höre ich nur noch durchdringendes Rauschen. Irgendwo in der Nähe muss ein Wasserfall sein. Die Vegetation ist hier so dicht, dass ich kaum weiter als ein paar Meter blicken kann. Sobald ich herausfinde, wo ich bin, wird mir sicher wieder alles einfallen. Mein Körper bahnt sich einen Weg durch die Sträucher. Der sandige Boden gibt meinen glatten Sohlen Halt. Das Rauschen schwillt zu einem tosenden Fauchen an. Im Gewirr der Zweige kann ich eine Lichtung erkennen. Die Luft ist von feinen Wassertropfen durchsetzt und taucht die Gegend in einen diesigen Schleier. Ich drücke die letzten Sträucher zur Seite. Mit wackeligen Beinen betrete ich die Lichtung.

»Was ... ?«

Ich blicke auf eine Wasserwand, die wie ein flatterndes Tuch von der Felskante hoch über mir herabfällt. Weiße Streifen von aufgeschäumtem Nass ziehen ihre Bahnen im endlos blauen Gewebe. Die tosende Masse stürzt haushoch vor mir herab. Auf der rechten Seite wird die Strömung flankiert von einer Felswand, auf der linken Seite scheint es kein Ende zu geben. Dort winden sich die Wassermassen Hunderte von Meter dahin, bis sie in einer Biegung aus dem Sichtfeld verschwinden. Meine Augen versuchen unwillkürlich, dem herabfallenden Geflecht aus weißen Formen zu folgen. Mir wird schwindelig und mein Körper fängt an, unkontrolliert hin und her zu schwanken. Ich strecke, nach Balance suchend, die Arme aus und mein Blick findet im grasigen Untergrund Halt.

Unmöglich!

Ich müsste mich doch an eine derartige Szenerie erinnern können. Dieses Vakuum in meinem Gedächtnis droht, meinen Verstand zu verschlingen. In meinem Kopf sehe ich einen Lichtblitz, Energiewellen, die sich verdichten, Staub, der sich zu Sternen formt, Galaxien, die auseinanderdriften — mein persönlicher Urknall — gab es mich zuvor gar nicht? Gab es bis vor wenigen Minuten überhaupt irgendetwas? Ich habe das Gefühl zu fallen — in das Nichts, von dem ich gekommen bin.

Die Wolken geben die Sonne frei und das nasse Gras schimmert farbig im Licht. Ich spüre die Wärme auf der Haut und atme tief ein. Es wird sich schon alles wiederfinden, von irgendwo muss ich schließlich hergekommen sein. Niemand entsteht einfach aus dem Nichts. Ich erkunde, immer noch mit wackligen Beinen, die kleine Lichtung. Auf der linken Seite endet sie in einem Abgrund. Erst jetzt erkenne ich, dass dort der Wasserfall noch tiefer hinabstürzt. Auf der rechten Seite befindet sich eine Anhöhe — zu steil, um hinaufzuklettern. Vielleicht gibt es weiter vom Wasserfall entfernt irgendeinen Pfad?

Ich gehe zurück durch die Sträucher, erklimme linker Hand eine Böschung, dann klettere ich über Steinblöcke. Da ich in meinen Schuhen auf den feuchten Felsen immer wieder wegrutsche, komme ich zunehmend ins Schwitzen. Eigentlich, wie ich feststelle, ein angenehmes Gefühl von Körperlichkeit, von Lebendigkeit. Ich bemerke, wie sich auch auf dieser Seite ein Abgrund vor mir auftut. Je näher ich der äußersten Kante komme, umso klarer wird mir, dass ich hier keinen Weg finden werde.

Auf einem Felsen lassen meine Knie nach, und ich muss mich entkräftet hinsetzen. Von hier ist die Aussicht ebenso beeindruckend. Der Wasserfall ergießt sich weit unter mir in einen großen See. Der blaue Himmel verfärbt sich zum Horizont in orangefarbene Dunstschwaden, die nur hier und da von blassblauen Hügeln durchstoßen werden. Bänder von grüner Vegetation umrahmen ockerfarbene Felder. Überall zeichnen weiße Blumen kreisförmige Muster. Die gesamte Landschaft wird von immer feiner verästelten Flüssen durchzogen, welche vom See gespeist werden, der wiederum vom Wasserfall genährt wird. Das weite Land ist ein lebendiges, atmendes Organ mit blauem Wasser statt Blut. Eine Brise wirbelt Pollen durch die Luft. Es riecht nach nassem Gras. Nicht weit ab von drei großen Flüssen, kann ich bei einem von ihnen rechteckige Gebäude erkennen. Sie ragen als gelbe Flächen aus dem dichten Wald heraus. Details sind nicht auszumachen, aber es muss eine Siedlung sein. Ob ich von dort komme? Müsste mir dann nicht wenigstens der Name einfallen? Der Name — in diesem Augenblick fällt es mir erst auf — wie ist mein Name?

Nichts.

Was ist bloß mit mir passiert? Es ist, als wenn mich eine große Hand packt, mich zurückzieht in das Nichts. Eilig durchsuche ich meine Hosentaschen: eine durchsichtige Plastikkarte, ein zerfranstes Papiertaschentuch — kein Name.

»Das kann doch nicht ...«

Moment, das Jackett. In der rechten Tasche spüre ich einen Gegenstand und ziehe ihn heraus. Es ist ein abgenutztes Notizbuch. Hektisch blättere ich durch die Seiten: Endlose Tabellen mit Häkchen, zahlen und Abkürzungen, die mir nichts sagen. Was soll das sein? Auf dem Umschlag befindet sich ein großes P.

Ein rot verschwommener Lichtreflex erscheint im Blickfeld. Er hat die Form eines Schmetterlings und bewegt sich, meinem Blick folgend, zu den gelben Blüten, dann verblasst er so schnell, wie er gekommen ist. Ich reibe mir die Augen. Es muss einen Weg zur Siedlung geben. Von hier aus gibt es nur noch eine Möglichkeit — zurück zum Wasserfall. Ich richte mich auf und entdecke eine flache Felsebene, dort entlang sollte es mir leichter fallen zurückzulaufen. Meine Gedanken kreisen weiter um das schwarze Loch in mir. Was, wenn meine Erinnerung für immer ausgelöscht bleibt? Kann man überhaupt jemand seien, ohne zu wissen, wer man ist?

Der Felsen führt mich auf einen Hügel, und obwohl die Steigung nicht stark ist, muss ich meine volle Aufmerksamkeit darauf richten nicht auszurutschen. Als ich die höchste Stelle der Anhöhe erreiche, halte ich inne und blicke mich nach allen Seiten um. Es ist ein Plateau! Ich befinde mich auf einer Hochebene, die wie eine mächtige Pfeilspitze mitten aus dem Wasserstrom herausragt. Somit gibt es nur einen Weg hinunter: durch den Wasserfall. Ich schüttle den Kopf. »Unmöglich«, hauche ich. Wie soll ich unter diesen reißenden Strom hindurch kommen? Gleich unterhalb der Erhöhung bemerke ich einen Pfad, der mit Steinplatten im Boden angedeutet ist. Er führt in einer geraden Linie auf den Wasserfall hinzu. Ich klettere an einem umgestürzten Baum die Böschung hinunter. Der Weg ist etwas erhöht, wirkt beinahe wie der Kamm auf einem Deich, nur, dass dieser direkt in das Wasser führt anstatt parallel dazu. Mein Blickfeld wird nun gänzlich von dem reißenden Wasserstrom eingenommen. Ein dunkler Spalt zeichnet sich in der weiß aufschäumenden Gischt ab. Einige Meter über dem Plateau befindet sich ein Vorsprung, an dem sich die Wassermassen teilen. Der Spalt scheint zunächst zu klein, um hindurch zu gelangen, aber mit jedem Meter, mit dem ich mich nähere, wird deutlich, dass in dieser Umgebung klein sehr relativ ist.

Es donnert nun ohrenbetäubend. Die Böschung ist hier mit großen Steinplatten verstärkt, sodass das Wasser zu den Seiten abgelenkt wird. Ich stelle den Kragen meines Jacketts auf. Die Wasserwand erzeugt einen kühlen Luftstrom, der mir entgegenschlägt. Das Licht bricht sich in unzähligen Prismen, offenbart kurz seine farbigen Bestandteile und fügt sich wieder zusammen. Das Schauspiel ist von solch erhabener Naturgewalt, dass ich nicht einmal mehr Angst verspüre. Zügig und gebückt schreite ich in den Wasserspalt. Es spritzt überall Gischt auf; meine Hose saugt sich bis zu den Knien mit Feuchtigkeit voll; ich laufe der Dunkelheit entgegen. Ein Name formt sich in meinem Kopf: »Paul!« Meine Stimme erschallt in der großen Kammer hinter dem Wasserfall. Ein Druck entlädt sich von meiner Brust, die innere Unruhe ebbt allmählich ab. Ein gutes Gefühl, seinen Namen zu kennen.

Der Raum ist mit mehreren Stützpfeilern durchzogen. Von der Decke hängen zwei diffus schimmernde Lampen. Auf der linken Seite befindet sich eine silbermatte Wand. Sie hebt sich deutlich von den sie umgebenen, dunklen Felswänden ab. Ihre Oberfläche wirkt, als wenn sie aus einem durchsichtigen Überzug bestehen würde, unter dem eine silberne Schicht liegt. Ich berühre die Fläche, meine Hand schreckt zurück — etwas leuchtet auf. Im Sekundentakt erscheinen weiße Symbole, dann bricht es ab. Mitten in der Wand befindet sich auf Hüfthöhe eine runde, wenige Zentimeter große Öffnung. Ich berühre die matte Fläche erneut. Die Sequenz mit den Symbolen startet von vorne. Einige Zeichen bestehen aus einem Kreis als Grundform, sie variieren durch Linien und Punkte innerhalb des Kreises. Andere Symbole basieren auf einem Quadrat, das auf verschiedene Weise mit Linien durchzogen ist. Die Quadrate wiederum sind zu Ketten verbunden. So sehr ich mich auch bemühe, ich kann daraus keine sinnvollen Ziffern, Buchstaben oder Darstellungen ableiten. Außer bei einem Symbol, das wie ein Zahnrad aussieht. — Wie seltsam es ist, dass ich weiß, was ein Zahnrad ist, ohne mich daran zu erinnern, je eines gesehen zu haben. Auf der rechten Seite zweigt ein Korridor ab und endet an einer Treppe. Ich folge unschlüssig dem Gang. Obwohl mir die Erinnerung fehlt, bin ich mir sicher, dass ich diesen Korridor noch nie betreten habe. Aber es ist offensichtlich der einzige Weg nach unten.

Überall liegen Felsbrocken herum und das Geländer ist an einigen Stellen verbogen. Die ganze Konstruktion wirkt wie eine uralte, große Nottreppe. Vorsichtig gehe ich Stufe für Stufe hinunter. Das Rauschen des Wasserfalls ist hier wesentlich leiser. Der Treppenschacht verläuft in einer Nische, die in das Gestein geschlagen wurde. Das Licht fällt durch einen breiten Spalt seitwärts auf die gesamte Struktur.

»Ah ...«, höre ich plötzlich.

»Ist da jemand?«

»Ja, hier drüben!«, schallt es zurück.

Auf jeder zweiten Etage befindet sich eine größere Plattform. Die Ebene direkt unter mir ist mit Felsbrocken übersät und Staub liegt in der Luft. In einer Ecke, nahe der Felswand, ragen Hände wild gestikulierend aus dem Geröll. Er hustet heftig. Seine Beine und der halbe Oberkörper sind unter einem Haufen aus Stein und Schutt begraben. Er hat schwarz zerzauste Haare, wirkt blass und hager. Ich schätze ihn auf Ende zwanzig. Er schaut mich mit großen Augen an und wischt sich den Staub aus dem Gesicht.

»Paul, richtig?«, stammelt er. »Ich wollt nach oben zum Plateau, dacht, da hätt' sich was bewegt, ... dann gab es diesen Rums und mit einem Mal bebte hier alles.«

Ich beginne, seinen Oberkörper freizuräumen.

»Du kennst mich? Ich ... ich bin oben aufgewacht, ... kann mich irgendwie an nichts mehr erinnern.«

»Ja, das ist hier quasi der Normalzustand.«

Auch wenn mich seine Antwort verwirrt, entferne ich weiterhin das Geröll.

»Da, das rechte Bein, es steckt fest«, sagt er.

Ein massiver, unförmiger Felsbrocken liegt als Letztes auf seinem Bein. Ich fasse ihn am Sockel, rolle ihn langsam herum, aber nach nur wenigen Zentimetern blockiert er. Ich drücke stöhnend, doch meine Schuhe rutschen weg, die Kraft lässt nach und schließlich wippt der Stein zurück.

»Au!«, schreit er auf, »Paul, vorsichtig! Der Brocken ist zu schwer für dich, ... vielleicht holst du besser Hilfe, von allein wird hier sicher niemand raufkommen.«

»Warum nicht?«, erwidere ich und taste prüfend den Brocken ab.

Er deutet mit den Händen auf die Umgebung.

»Weil sie Angst haben, dass hier womöglich alles zusammenkracht.«

»Verstehe.«

Immerhin scheint es ihn nicht davon abgehalten zu haben und mich offensichtlich auch nicht. Er bäumt sich auf und versucht, seinen Fuß herauszuziehen, gibt aber schnell mit einem frustrierten Gesichtsausdruck auf.

»Das bringt nichts«, meint er. »Wenn du unten in der Stadt erzählst, dass Will hier oben feststeckt, werden sicher einige helfen kommen.«

Ich möchte ihm zustimmen, doch da spüre ich, wie die Plattform vibriert, dann hört es schlagartig auf. Er schaut mich erschreckt an. Mit einem Mal höre ich ein knirschendes Geräusch über uns. In diesem Moment fällt ein Schwall von Geröll und Staub auf uns herab. Ich ziehe im Reflex die Arme über meinen Kopf. Zum Glück kommen keine größeren Brocken bis zu uns hindurch. Die Luft ist wieder mit Staub durchsetzt, und ich höre ihn heftig husten.

»Vermutlich haben wir dafür keine Zeit mehr«, meine ich.

»Ja, womöglich«, keucht er.

»Mir fällt gerade was ein, ... oben hab ich einige Stangen gesehen, die aus dem Geländer ragen. Ich werd mich mal umschauen.«

Er nickt und klopft sich den Staub von seinem Oberkörper.

»Einen Versuch ist es wert.«

Ich gehe, das Geländer prüfend, die Treppen hinauf. An einigen Stellen ist es so verbogen, dass sich die Querstreben am oberen Ende von der Brüstung gelöst haben. Ich umgreife eine Strebe und ziehe sie, ohne viel Kraft anzuwenden heraus. Wenn er meinen Namen kennt, wird er sicher auch wissen, was mit mir passiert ist. Vielleicht sind wir ja zusammen hergekommen? — Nein, dann hätte er wohl anders reagiert.

»Denkst du, dass dein Bein in Ordnung ist, nichts gebrochen oder verrenkt?«, frage ich, als ich wieder bei ihm bin.

»Alles okay, ich kann es sogar etwas bewegen«, erwidert er.

»Genug, um den Fuß herauszuziehen, sobald ausreichend Platz da ist?«

Er nickt. Ich suche eine gute Position, um die Stange anzusetzen.

»Bereit?«

»Sicher.«

Ich beginne den Stein zu rollen, klemme die Stange immer weiter nach vorne und drücke sie mit beiden Händen — noch ein bisschen, noch etwas. Verdammt! Kein Anzeichen eines Drehpunkts. Stattdessen biegt sich die Stange zunehmend. Ich hole etwas Schwung und presse mit aller Kraft. Ein knirschendes Geräusch und es macht »Plong«. Die Stange knickt in der Mitte ein und der Brocken rollt mit Wucht zurück.

»Vorsicht!«, schreie ich, springe zur Seite und kann mich gerade noch auf den Beinen halten. Jemand tippt mir auf die Schulter; ich zucke zusammen und drehe mich um. Er lächelt mich breit an und streckt mir seine Hand entgegen.

»Ich bin William, kannst mich Will nennen. Danke für deine Hilfe, Paul.«

»Keine Ursache, Will. Aber sag mir, woher kennst du mich?«

»Ich kenn dich nicht ... nur dein Namen. Den hast du vorhin laut genug gerufen, war nicht zu überhören.«

»Ach ja, stimmt. Aber wie kommst du darauf, dass es mein Name war? Ist doch eher ungewöhnlich, seinen eigenen Namen zu rufen.«

Er humpelt zum Geländer, stützt sich dort ab und klopft sich den Staub von der Kleidung.

»Okay, lass mich raten, du weißt nicht mehr, wie du hierher kamst und wer du eigentlich bist, stimmt‘s?«

Ich nicke. »Denk nicht, dass du womöglich der Erste bist, dem es hier so ergangen ist. Ob du es glaubst oder nicht, es ist uns allen passiert.«

»Allen? Aber es ist nicht von Dauer?«

»Wir erinnern uns mit der Zeit an bestimmte Dinge wie ... an unseren Namen oder zum Beispiel an — sagen wir — Pizza.«

»Ich weiß, was eine Pizza ist, das ist nicht mein Problem.«

»Dann geht das bei dir schneller, ich brauchte dafür ne Weile. Aber sag, kannst du dich auch daran erinnern, je eine gegessen zu haben?«

»Natürlich ...«, erwidere ich und suche nach einer Erinnerung, aber alles endet mit dem Aufwachen am Plateau. Für einen Moment durchfährt mich wieder diese Unruhe. »... ich ... nein ... wie ist das nur möglich?«

Will verlagert das Körpergewicht prüfend auf den lädierten Fuß.

»Tja, das ist die Frage. Lass uns erst mal von der Treppe runter«, meint er und zeigt die Stufen hinab. Ich nicke.

»Wenn wir uns erinnern, dann nur sehr eingeschränkt. Es fehlen quasi die Erlebnisse«, er kratzt sich am Kopf. »Wie sagt es doch Maria immer: Das faktische Wissen — also zum Beispiel, was eine Pizza ist — kommt zurück, aber nicht die gedanklichen Verknüpfungen.«

Mir wird schwindelig, und ich sacke auf einer Treppenstufe zusammen.

»Willst du mir damit sagen, dass niemand hier irgendeine Ahnung hat, was eigentlich passiert ist?«

Er nickt.

»Aber ... dann brauchen wir Hilfe. Wo ist die nächste Stadt?«

Er setzt sich neben mich.

»Es gibt hier nur eine Stadt und allen dort erging es so wie dir ... aber Paul, das ist halb so wild, uns geht es trotzdem gut.«

»Nur eine Stadt? Du meinst die Siedlung unten am Fluss?«

»Ja, Memoria.«

»Memoria? Wie lange bist du schon hier?«

»Meinst du in Tagen?«

»Zum Beispiel.«

Er prustet. »Also ... wo soll ich anfangen? Es wird dich überraschen, aber der Tag ist hier 28 Stunden lang.«

»Was? Wie kommt ihr darauf?«

»War nicht einfach rauszufinden, wo ja quasi alle Geräte, die wir so bei uns hatten, nicht mehr funktionieren. Zum Glück besaß Alex noch so eine altmodische Uhr«, erklärt er. »Okay, also alle hundert Tage feiern wir das Gründungsfest ... lass mal überlegen ... ja, vor Kurzem hatten wir das Zwanzigste, somit bin ich hier vor etwa ... zweitausend Tagen aufgewacht.«

»Das sind ... über fünf Jahre?«

Will blickt grübelnd nach oben.

»Wenn du es in die 365 Tage aufteilst. Aber es sind ja 28 Stunden pro Tag, zudem haben wir hier auch keine Jahreszeiten.«

Ich schüttle den Kopf und überlege, ob ich ihm glauben soll.

»Das ist mir erst aufgefallen, als ich einmal vom Schlittschuhlaufen träumte«, erklärt er und steht von der Treppenstufe auf. »Lass uns nach Memoria gehen. Maria richtet dir ne Unterkunft ein und du kannst dich erst mal einfinden.«

Ich richte mich auf und spüre, wie mein Magen knurrt. Wir folgen den Stufen, bis sie auf der Höhe des Sees enden. In der Nische hinter dem Wasserfall dominiert wieder das donnernde Getose. Er deutet in eine Ecke, von der aus eine flache Rampe in einen Tunnel führt. Hier hängen weitere diffus schimmernde Lampen von der Decke.

»Dort entlang«, meint er.

Ich kneife die Augen zu als wir aus dem Tunnel in die helle, offene Landschaft treten. Ein beißender Hunger macht sich bei mir bemerkbar.

»So eine Pizza könnte ich jetzt wirklich vertragen«, sage ich.

Er lacht. »Die haben wir leider nicht, aber andere leckere Dinge ... wie Mohnkuchen, Honwurst und Karmon.«

»Karmon«, murmele ich.

»Ja, das sind kleine runde Knollen, womöglich so ähnlich wie Kartoffeln.«

»Ich verstehe das einfach nicht, ich erinnere mich an den Geschmack von Kartoffeln, aber nicht daran, jemals eine gegessen zu haben.«

»Ich weiß, aber glaub mir, daran wirst du dich schnell gewöhnen.«

399
501,79 ₽
Возрастное ограничение:
0+
Объем:
441 стр. 3 иллюстрации
ISBN:
9783742709080
Издатель:
Правообладатель:
Bookwire
Формат скачивания:
epub, fb2, fb3, ios.epub, mobi, pdf, txt, zip

С этой книгой читают

Эксклюзив
Черновик
4,7
285