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Auf der Suche nach einem Winterquartier
Freitag, 30. Dezember. 72° 17’ südlicher Breite, 177° 9’ östlicher Länge. Endlich sind wir aus dem Packeis heraus! Diese Nacht um 1 Uhr steuerte Bowers die »Terra Nova« durch den letzten Eisstrom, und heute früh um 6 schwammen wir in offener See. Der gestrige Schneefall hatte aufgehört, aber der Himmel war noch grau und wolkig und hier und dort lagen Nebelstreifen. Um Mittag brach die Sonne durch Wolken und Nebel. Der Schneesturm der letzten Tage hatte alles Tauwerk mit einer Eisschicht bedeckt – jetzt blätterte sie ab und fiel klirrend auf das Deck, wo in der warmen Luft der feuchte Eisschlamm schnell verdunstete. Nach dem gestrigen Abend, wo alles triefte und man überall auf schlüpfrigen Schnee trat, war jedes trockene Fleckchen heute ein freudiges Ereignis.
Vom Packeis befreit waren wir während des Tages tüchtig vorwärtsgekommen und ich berechnete schon, dass wir am Neujahrstag auf der Höhe von Kap Crozier, unserem voraussichtlichen Winterquartier, sein müssten – da erhob sich um 3 Uhr nachmittags eine scharfe Brise aus Südsüdwest, die uns gerade entgegenwehte und sich zu einem regelrechten Südsturm entwickelte. Abends um 8 schlichen wir nur noch mit 3 ½ Kilometer Geschwindigkeit vorwärts! Schon wieder ist das Glück uns entgegen! Der kurze, scharfe Seegang ist für die Ponys das reine Gift und auch für uns nicht gerade ermunternd. Der Gefangenschaft des Packeises endlich entronnen zu sein, ist gewiss ein herrlicher Gedanke – aber an die Eingriffe, die der Kampf der letzten vierzehn Tage in unsere Kohlenvorräte gemacht hat, darf ich gar nicht denken!
Heute früh passierten wir einen kleinen Eisberg, auf dessen einer Seite sich ein Schwarm Eissturmvögel niedergelassen hatte, auf der anderen saßen Schneeschwalben. Augenscheinlich sind diese Vögel auf die Nahrung angewiesen, die ihnen See und Dünung auf die Eisränder hinaufwirft; nur wenige finden ihren Unterhalt im Packeis selbst, wo er zwar auch reichlich vorhanden, aber schwer zu erlangen ist. Eine Schar Eissturmvögel begleitete unser Schiff eine Strecke weit, indem sie es unermüdlich umkreisten! Die nördlicher lebenden Seevögel pflegen im Kielwasser zu folgen.
Sonnabend, 31. Dezember, Silvesterabend. Die vorige Nacht war entsetzlich! Wir hatten Vorder- und Achtersegel gesetzt und damit unsere Geschwindigkeit, aber nicht unsere Behaglichkeit vergrößert. Schlafen konnte ich nicht, denn ich musste immer an die schauderhafte Lage der armen Ponys denken, und so schleppte sich die Nacht endlos hin. Während der Morgenwache nahmen Wind und Seegang noch zu und um 6 wurde wieder Eis vor uns gesichtet. Unter gewöhnlichen Umständen wäre nichts sicherer gewesen, als schnell ostwärts zu steuern, aber uns musste alles daran liegen, der Ponys wegen glatteres Wasser zu erreichen – also vorwärts durch den Eisstrom, über dem Wasser stark brandete! Bei so hohem Seegang zwischen losem Eis zu fahren, war überaus gefährlich; aber bald kamen wir an ein kompakteres Eisfeld, und als wir es glücklich hinter uns hatten, fanden wir zu unserer Überraschung verhältnismäßig glatte See.
So weit war alles gut. Der Gefahr waren wir entronnen, aber nun erhob sich die Frage: Was wird länger dauern: der Sturm oder unser zeitweiliges Obdach, das uns zu dauerndem unnützen Kohlenverbrauch zwang?
Im Laufe des Tages wurde unsere Zuflucht unsicherer. Aus Süden und Westen kamen Anzeichen von Packeis, und um 8 Uhr abends mussten wir westwärts dampfen, um anderswo Schutz zu suchen, in dem böigen Wind ein bedenkliches Unternehmen. Aber jetzt nahm der Wind von Minute zu Minute ab und legte sich schließlich ganz, und als sich um 10 Uhr die Wolken im Westen verzogen hatten, bot sich uns ein zwar ferner, aber herrlicher Anblick: Alle Berge des Südviktorialandes lagen im prächtigsten Sonnenschein! Mount Sabine und Mount Whewell traten am deutlichsten hervor, Letzterer von hier aus als ein schönes, scharfes Horn, eine ebenso auffallende Landmarke wie Mount Sabine, der 204 Kilometer entfernt war, als wir ihn sahen; aber die Luft war so klar, dass er auch in 270 Kilometer Entfernung ebenso gut sichtbar gewesen wäre.
Der Sturm scheint nun endlich vorüber und das neue Jahr uns holder zu sein als das alte. Dann schreibe ich mit Vergnügen: Finis 1910!
Sonntag, 1. Januar 1911. 73° 5’ südlicher Breite, 174° 11’ östlicher Länge. Um 4 Uhr morgens dampften wir langsam nach Südwesten, und um 8 waren wir aus dem Eis heraus und steuerten unter Fock- und Achtersegel südwärts. Um diese Zeit klärte sich der Himmel auf und wir hatten den ganzen Tag über strahlenden Sonnenschein; noch jetzt, um 11 Uhr abends, sonnen sich die Leute bei gänzlicher Windstille und sitzen lesend auf Deck. Das Land ist völlig klar: Die Coulmaninsel ist 140 Kilometer im Westen sichtbar.
Die Dünung hat nachgelassen, aber nicht so schnell, wie ich erwartete. Doch sollen die Ponys sich gut gehalten haben, wie Oates meldet.
Montag, 2. Januar. Eine herrliche Nacht! Und ein herrlicher Vormittag! Die Sonne schien fast unausgesetzt und einige von uns zogen Eimer voll Seewasser herauf, um auf Deck ein Bad mit Salzwasserseife zu nehmen. Das Wasser war natürlich eiskalt, aber sich hinterher von der Sonne trocknen zu lassen, war ein Genuss. Seit wir den Südpolarkreis überschritten haben, ist die Gewohnheit, auf Deck zu baden, eingeschlafen; nur Bowers ist ihr bei jedem Wetter treu geblieben.
Abends 8 Uhr 30 sichteten wir den Mount Erebus in etwa 210 Kilometer Entfernung. Der Himmel ist mit leichten Haufenwolken bedeckt und der Wind weht aus Osten mit Stärke 2 bis 3. Da alle Segel gesetzt sind, kommen wir tüchtig vorwärts.
Dienstag, 3. Januar. Meine nächste Hoffnung ist bereits zuschanden geworden: Kap Crozier mit all seinen Anziehungspunkten bleibt uns versagt!
Schon am Morgen, als wir bei schönstem Wetter nur 45 Kilometer vom Kap entfernt waren und das Land immer deutlicher vor uns aufstieg, während der Erebus sich hinter Wolken verbarg, ahnte ich nichts Gutes: Wind und Dünung hatten zwar auf das fahrende Schiff wenig Einfluss, versprachen aber für die Landung die größten Schwierigkeiten. Bald nach Mittag kamen wir 9 Kilometer östlich von Kap Crozier an die Eisbarriere heran, die sich von dieser Ecke der Ross-Insel aus weithin nach Osten bis König-Eduard-Land erstreckt. Sie war nicht höher als 18 Meter und vom »Krähennest« aus gut zu überblicken; nach dem Rand zu senkte sich ein wenigstens 2 Kilometer langer sanfter Abhang, und dahinter war deutlich erkennbar, wie das Land der Schwarzen (oder Weißen?) Insel die ungeheuren Reihen der Presseisrücken überragte. Seit den Tagen der »Discovery« hatte sich hier nichts verändert; wir sahen unsere alte Posthausstange noch so gerade stehen, wie wir sie vor acht Jahren eingerammt hatten, und haben alles mit unseren alten Fotografien verglichen: Nichts ist anders geworden, was bei dem Barrierenrand sehr überraschend ist. Wilson meinte sogar, dass die Barriere noch an derselben Stelle mit den Klippen des Kaps zusammenstoße, und er zeichnete dieses Stück des Barriererandes, von da, wo wir herangekommen waren, bis zu den Crozierfelsen. 4 oder 5 Kilometer vor den Felsen macht die Barriere eine scharfe Wendung rückwärts, etwa einen Kilometer weit, dann läuft sie mit ziemlich regelmäßiger Oberfläche weiter nach Westen, bis sie einige Hundert Meter vor den Klippen aufhört. Den Zwischenraum zwischen Barriere und Felsen nimmt ein besonders hoher Presseisrücken ein; doch waren die Anzeichen der Pressung am Rand weniger stark ausgeprägt, als ich erwartet hatte.
Inzwischen war eins der Walfischboote ins Wasser gelassen worden, und Wilson, Griffith Taylor, Priestley, Evans und ich ruderten an Land. Die Achterwache, Oates, Atkinson und Cherry-Garrard, wollte es sich nicht nehmen lassen, die Riemen selbst zu führen; so konnte die Mannschaft an Deck bleiben und Cherry-Garrard fing bei dieser Gelegenheit einige Taschenkrebse.
Ich wollte die Möglichkeit einer Landung prüfen; vor allem hoffte ich festzustellen, ob zwischen dem Presseisrücken und den Felsen, auf dem Weg, den einst Royds zum Brutplatz der Kaiserpinguine hinuntergestiegen war, durchzukommen sei. Aber als wir uns der Ecke näherten, stellte sich heraus, dass sich eine große schmutzige Scholle Meereis zwischen Barriere und Felsen eingeklemmt und so stark aufwärts gekrümmt hatte, dass sie über einen Meter hoch über dem Wasser stand. Dabei brandete die Dünung so heftig zwischen den treibenden Eisblöcken längs des wirklichen Strandes und seines Eisfußes, dass von Landen gar keine Rede sein konnte; es wäre nur unser Boot zerschellt und wir alle wären miteinander ins Wasser gefallen.
Ich litt Tantalusqualen – nicht nur wegen der Unmöglichkeit der Landung überhaupt. Gerade auf diesem Stück alten Buchteises, etwa 2 Meter über uns, war ein lebendiges Pinguinküken trostlos gestrandet und dicht neben ihm schlief eines der getreuen Pinguineltern. Das Küken aber war in einem Alter und einem Entwicklungsstadium, in dem noch keiner von uns den Kaiserpinguin gefangen oder untersucht hatte: Es war im Begriff, seine Daunen zu verlieren, die Flügelstummel waren bereits ganz daunenfrei und genauso gefiedert wie die der ausgewachsenen Vögel; teilweise hatten auch schon der Kopf und, wie bei der gewöhnlichen Mauserung, ein senkrecht die Brust hinunterlaufender Streifen die Daunen abgeworfen. Es wäre also ein Triumph gewesen, dieses Küken dingfest zu machen, aber wir konnten nicht heran und ich durfte seinetwegen nicht unser aller Leben aufs Spiel setzen. So musste es denn bleiben, wo es war, da oben auf der einen Quadratmeter großen Eisscholle, dem verlassenen Überbleibsel einer blühenden Pinguinkolonie, die vor etwa Monatsfrist auf dem schwimmenden Buchteis nordwärts in See gegangen war. Rings war so viel blitzsauberes Eis, wie sie sich nur wünschen konnten – aber diese beiden Zurückgebliebenen hatten geduldig auf ihrer schmutzigen Scholle, die jetzt über dem Wasserspiegel emporgepresst war, gewartet und sich wohl alle Tage gewundert, dass sie sich nicht endlich auch der allgemeinen Auswanderung anschließen sollten. Der Vorfall war in jeder Beziehung interessant und führte auf allerlei Mutmaßungen über die langsame Gehirnarbeit dieses merkwürdigen Völkchens.
Aus der unteren Seite dieser etwa einen halben Meter dicken Scholle hingen Beine und untere Körperhälften toter Kaiserpinguinküken heraus, an einer Stelle auch Kadaver eines ausgewachsenen Pinguins. Diese traurigen Reste früheren friedlichen Lebens dort oben waren augenscheinlich auf der Oberfläche des Eisfeldes eingefroren und wurden jetzt von unten allmählich wieder herausgespült. So bot diese alte, schmutzige, eingeklemmte Scholle des abgetriebenen Buchteises einen förmlichen Abriss der Lebensgeschichte dieser seltsam primitiven Vögel.
Da eine Landung infolge der Dünung unmöglich war, ruderten wir eine Strecke an den Felsen entlang. Diese Crozierklippen sind sehr interessant. Sie bestehen hauptsächlich aus vulkanischem Tuff, schließen aber mächtige Schichten von säulenförmigem Basalt ein und zeigen prächtige Muster von eingeklemmten und gewundenen Säulen und von Höhlen mit ganzen und halben Pfeilern, die fast wie eine Miniaturnachbildung des Giant’s Causeway aussahen, des Riesendammes an der Nordostspitze von Irland mit seinen 40 000 Basaltsäulen.
Wenig fehlte und diese Kahnpartie hätte unserer ganzen Polwanderung ein vorschnelles Ende bereitet. Als wir unter einem der überhängenden Felsblöcke entlangruderten, meinten wir scherzend, wenn solch ein Block auf uns herunterfalle, würden wir den Spaß wohl nicht lange überleben. Doch war uns dabei etwas beklommen zumute, und wir waren froh, dass wir uns von hier wieder zum Schiff hinwenden konnten. Kaum waren wir etwa zwei-, dreihundert Meter von jener Stelle entfernt, als plötzlich ein donnerähnliches Krachen hinter uns ertönte und etwas mit laut klatschendem Schlag in die See stürzte, die hoch aufspritzte. Eine erstickende Wolke Gesteinsstaub hatte sich erhoben gleich dem Rauch bei einer Explosion, und als sie sich verzog, sahen wir, welch einem Unheil wir entgangen waren: Derselbe Block, über dessen bedrohliches Herabhängen wir gescherzt hatten, war abgestürzt und würde, wenn wir noch in seinem Bereich gewesen wären, uns alle vernichtet haben!
Überhaupt war diese Ruderfahrt mehr als aufregend. Ehe wir wieder an Bord gelangten, hatten wir noch das Vergnügen, es mit ansehen zu müssen, wie ein mächtiger Gürtel Packeis die »Terra Nova« so dicht an jene Klippen herandrängte, dass ihr nur die Wahl zu bleiben schien, entweder an den Felsen zu zerschellen oder sich dem Eis gefangen zu geben. Zu wenden oder die Maschine rückwärts zu stellen und mit dem Heck voran den Packeisgürtel zu durchbrechen, dazu war weder Zeit noch Raum, denn so schnell funktionierte leider die Maschine nicht. Als sich das Schiff schließlich doch noch durchzwängte, erhielt es schwere Stöße unter dem Heck und gegen das Steuer, denn die Schollen waren mächtig und die Dünung sehr stark.
Nachdem unser Walfischboot wieder glücklich an Bord gebracht war, fuhr die »Terra Nova« zum Pinguinbrutplatz. Die Hoffnung auf eine günstige Landungsstelle war so gut wie aufgegeben und belebte sich auch nicht wieder.
Die Pinguine waren vom Schiff aus deutlich zu erkennen. Auf dem großen Brutplatz bedeckten sie einen ungeheueren Flächenraum; sie hatten sich dort so weit ausgedehnt, wie sich nur irgend Schutz finden ließ. Ich beobachtete sogar zahlreiche Gruppen dieser Vögel auf den fern von den Brutplätzen hoch über der See emporragenden Schneehängen, was mich sehr wunderte. Was für ein gutes Leben müssen hier die Schwertwale haben, von denen sich mehrere dicht neben dem Schiff aus dem Wasser erhoben. Auf dem kleinen Brutplatz bildeten die Tiere vorläufig nur vereinzelte Flecke, und hier war noch reichlich Platz zur Ausdehnung der Kolonien. Solche unbenutzten Stellen hätten eine ideale Winterstation für uns abgegeben, und jede Einzelheit des Ufers sah vorteilhaft für eine Überwinterung aus. Jammerschade ist es, dass ich diesen, uns allen schon lieb gewordenen Plan, hier zu überwintern, widerwillig und betrübt aufgeben muss.
Mittwoch, 4. Januar, 1 Uhr nachts. Auf der Höhe des Kap Bird trafen wir auf Packeis, fuhren durch mehrere Eisströme und konnten dann einer offenen Wasserrinne dicht in der Nähe der eisgepanzerten Küstenlinie folgen. Kap Bird ist ein rundes Vorgebirge mit zahlreichen Landzungen, sodass es schwer zu sagen ist, welche von ihnen das eigentliche Kap ist. Westlich von ihm dehnt sich eine weite braunrötliche Landfläche aus mit zahlreichen grauen Flecken; es sind erratische Blöcke aus Granit. Mithilfe des Fernrohrs sahen wir einen dieser Blöcke auf einem Gipfel in mindestens 400 Metern Höhe über der See liegen.
Auch auf dieser Landfläche des Kap Bird befinden sich ein größerer und mehrere kleine Pinguinbrutplätze, und auch hier waren die Schwertwale zur Stelle. Wir beobachteten einen alten mit einer hohen Rückenflosse und verschiedene junge. Eine kleine Gesellschaft Pinguine schoss durch das Wasser ihren Feinden gerade entgegen; sie mussten bei ihren häufigen Luftsprüngen die dunkeldrohenden Flossen der Wale gesehen haben, nahmen aber nicht die geringste Notiz davon – ja sie huschten sogar über die Walfische hinüber, ohne dass ein Tumult im Wasser bemerkbar war, und schwammen dann auf der anderen Seite weiter. Wir konnten uns diese spielende Verträglichkeit der beiden Erzfeinde nur dadurch erklären, dass die Wale von ihrer letzten Mahlzeit noch übersättigt waren.
Als wir heute Kap Bird umfuhren, wurden in der nebligen Luft undeutlich unsere alten unvergesslichen Landmarken, der Mount Discovery und die Westberge, sichtbar; mit herzlicher Freude erkannte ich sie wieder. Es mutete so heimatlich an, die von der Fahrt der »Discovery« so vertrauten Schauplätze wiederzusehen. Am Ende sind wir auf dieser Seite der Ross-Insel doch besser aufgehoben! Kap Royds ist nur noch 9 Kilometer entfernt – dort müssen wir hin!
4 Uhr nachmittags. Diese Fahrt ist voller Überraschungen! Früh um 6 kamen wir 5 Kilometer nördlich von Kap Royds durch das letzte Packeis der Meerenge und steuerten nach dem Kap hin, in der festen Erwartung, den Rand des Packeises westwärts von ihm zu finden. Zu unserem größten Erstaunen fuhren wir aber über das Kap hinaus in freiem Fahrwasser, das nur stellenweise dünnen Eisschlamm führte. So ging es an Kap Royds, dann an Kap Barne vorüber, an der Südseite des Gletschers entlang, schließlich um Inaccessible Island herum und darüber hinaus noch gut 4 Kilometer südlicher; ja wir hätten noch weiter fahren können, aber dann schien der Eisschlamm dicker zu werden, und außer Kap Armitage, der noch 22 Kilometer entfernten äußersten Südspitze der Ross-Insel, auf deren kleiner Landzunge »Hut Point« (Hüttenspitze) ehemals die Hütte der Discovery-Expedition stand, gab es hier keinen Ort, der zum Überwintern geeignet gewesen wäre. Niemals habe ich das Eis dieser Meerenge so harmlos gesehen und das Land so frei von Schnee. Offenbar war der letzte Sommer ungewöhnlich warm und wir hatten nunmehr eine sehr reiche Auswahl bei der Entscheidung über unser Winterquartier. Wir konnten auf einer der kleinen Inseln landen, an der Gletscherzunge, am Festland, überhaupt überall, ausgenommen an der Hüttenspitze. Ich wünschte vor allem einen Platz, an dem wir nicht leicht von der Eisbarriere abgeschnitten werden konnten, und meine Wahl fiel auf ein Vorgebirge etwas hinter uns, das wir das »Raubmöwenheim« zu nennen pflegten. Es war von der alten Discoverystation durch zwei tiefe Meeresbuchten auf beiden Seiten der Gletscherzunge getrennt, die voraussichtlich bis spät in den Sommer hinein zugefroren blieben und deren Eis außerdem, wenn sie einmal zufroren, bald fest zu werden versprach.
Ich berief eine Ratsversammlung und unterbreitete ihr meine Vorschläge: entweder zur Gletscherzunge vordringen und dort überwintern – oder westwärts nach dem »Grabsteineis« und an der Nordseite des »Raubmöwenheims« einen Weg zu einem einladenden Platz bahnen. Ich war für das Letztere, und nach einer gründlichen Diskussion stimmten alle meinem Vorschlag zu. Wir wendeten also, fuhren dicht am Land um Inaccessible Island herum und steuerten in voller Fahrt nach dem festen Eis quer vor dem genannten Kap.
Ungefähr 3 Kilometer vom Ufer stieß das Schiff auf hartes Buchteis, das eine Straße nach dem Kap und eine haltbare Oberfläche zum Ausschiffen unserer Vorräte bot. Hier machten wir uns mit Eisankern fest und Wilson, Evans und ich gingen zum Kap, das ich zunächst, unserem trefflichen Kommandanten zu Ehren, in Kap Evans umtaufte. Ein Blick auf das nahe Land zeigte einen idealen Platz für unsere Winterstation. Das Gestein dieses Vorgebirges besteht vorwiegend aus stark verwittertem Olivinkenyt, und die Zersetzung hat große Mengen groben Sandes gebildet. Ein nach Nordwest gelegener Strand, der im Rücken durch zahlreiche Hügel geschützt war, schien alle Vorzüge für eine Winterstation in sich zu vereinigen und diesen Platz wählten wir deshalb zur Errichtung unseres Hauses.
Nach langem Grollen hat uns Fortuna mit ihrem freundlichsten Lächeln beglückt! Seit vierundzwanzig Stunden haben wir Windstille mit glänzendem Sonnenschein, können uns daher in dieser Gegend der Welt nicht gut behaglicher fühlen. Der warme Sonnenglanz, verbunden mit der scharfen Kälte der Luft, hat etwas ungemein Stärkendes, während das goldene Licht auf dieser wundervollen Berg- und Eislandschaft auch die höchste Anforderung an Großartigkeit der Szenerie befriedigt. Ponting, unser Fotograf, ist ganz hingerissen und gebraucht Ausdrücke, die überall anderswo hochgradig überspannt genannt werden müssten, und mir fehlen die Worte, um das Ergreifende dieses wundervollen Panoramas, das sich vor unseren Augen entfaltet, auch nur anzudeuten.
Die Landung an Kap Evans
Während wir am Ufer von Kap Evans waren, begann Campbell schon mit der Ausschiffung. Zuerst wurden zwei Motorschlitten hervorgeholt und standen bald blitzsauber und tadellos auf dem Eis; das Seewasser, das bei dem stürmischen Seegang auf der Herfahrt oft tonnenweise über ihre Kisten spülte, hatte ihnen also nichts geschadet. Dann kam die Reihe an die Ponys, die in Kästen von der Höhe des Schiffs herunterbugsiert wurden. Manche ließen sich nur durch freundliches Zureden oder durch die starken Arme der Matrosen in die Gestelle hineinbringen und begannen sogar zu bocken, so mager und kraftlos sie auch aussahen. Von dem Augenblick an, wo sie Schnee unter den Füßen spürten, schienen sie wieder aufzuleben. Welch ein Genuss muss es für sie sein, sich endlich wieder niederlegen oder aneinander reiben zu können; sie haben gewiss all die Wochen über an qualvollem Hautreiz gelitten, ohne sich helfen zu können, und sind nun eifrig dabei, durch gegenseitiges Benagen ihrer Flanken sich die so lange entbehrten Liebesdienste zu erweisen. Und auch ich atmete wie nach einem langen Albdruck wieder auf, als ich sie alle siebzehn auf dem Eisfeld angepflockt sah.
Die Hunde gingen unter Meares’ Führung mit leichten Lasten gleich ins Geschirr, zeigten aber schon am ersten Tag eine Demoralisation, die uns viel Ärger bereitete. Schuld daran waren die maßlos dummen Pinguine, die in Scharen auf unser Eisfeld losschossen. Mit dem Kopf in der Luft hin und her stoßend, watschelten sie heran, voll verzehrender Neugier und stumpfsinniger Gleichgültigkeit gegen die heulenden Hunde, die an ihren Leinen zerrten und zu ihnen hinstrebten.
»Hallo!«, schienen die Pinguine zu sagen, »das ist lustig, was wollt denn ihr lächerlichen Geschöpfe hier bei uns? Lasst euch mal anschauen!«
Dann kamen sie näher, und wenn die Hunde, soweit die Leinen nachgaben, auf sie zusprangen, sträubten sie das Gefieder, aber nicht aus Furcht, sondern nur aus Ärger, und in einer Haltung, als ob sie einem unmanierlichen Fremden den Standpunkt klarmachen wollten, schienen sie zu schreien:
»Oho! Ihr seid ja eine saubere Sorte! Na, da seid ihr aber an die Unrechten gekommen! Wir lassen uns nicht verblüffen! Den Schwindel kennen wir!«
Noch ein paar Schritte näher – ein Sprung – ein Aufschrei – und ein gräulicher roter Fleck auf dem Schnee ist das Ende. Aber nichts konnte die dummen Vögel abschrecken; scheuchte man sie fort, so duckten sie sich und wichen seitwärts aus, als ob sie sagen wollten: »Was fällt dir ein, alberner Esel? Lass uns in Frieden!«
Ausschiffung der Ponys
Sobald ein Opfer am Boden liegt, sammeln sich die Skuamöwen, die auf die Hunde keinen aufreizenden Eindruck machen, und warten, bis die blutige Mahlzeit beendet ist; dann stürzen sie sich schreiend und zankend auf den Rest der Beute. So ging es den ganzen Nachmittag und Meares war außer sich über die Zügellosigkeit seiner Schützlinge. Jetzt, am Abend, liegen sie, an einer langen Kette angebunden, zusammengerollt im Ufersand und scheinen sich recht wohlzufühlen.
Der ersten Fahrt der Motorschlitten sahen wir natürlich alle mit großer Spannung entgegen. Day lenkte den einen, Nelson den anderen. Ohne einige kleine Unglücksfälle ging es nicht ab, und von einem glatten Erfolg lässt sich noch nicht reden. Aber sie haben schon tüchtige Lasten ans Ufer befördert und ich verspreche mir von ihnen Außerordentliches.
Welch ein anderer Anblick jetzt ringsum als vor vierundzwanzig oder achtundvierzig Stunden! Der Baugrund für die Hütte ist bereits geebnet; das notwendige Bauholz ist alles am Ufer und die Bauabteilung haust dort ebenfalls schon in unserem großen grünen Zelt mit Lebensmitteln für acht Tage. Die Ponys sind unter der Obhut von Oates und Anton auf einem Schneeabhang angepflockt, damit sie keinen Sand fressen. Um mich herum tönt, während ich dies schreibe, das laute Schnarchen von Männern, die sich von einem anstrengenden Tagewerk
für das morgige ausruhen, und auch mir fallen die Augen zu, denn ich habe seit achtundvierzig Stunden kaum geschlafen – heute kann ich es, und fröhlich mag ich träumen.
Donnerstag, 5. Januar 1911. Als ich heute ziemlich spät – die Ladearbeit war schon seit 6 Uhr im Gang – auf der Bildfläche erschien, wurde ich Zeuge eines aufregenden Vorgangs.
Etwa fünf oder sechs Schwertwale, alte und junge, streiften in der Nähe des Schiffes herum; sie schienen in großer Aufregung, tauchten hastig auf und nieder, streckten die Mäuler aus dem Wasser hervor und kamen bis dicht an das Eisfeld heran. Ich hatte zwar allerhand unheimliche Geschichten von diesen Tieren gehört, ihnen aber niemals etwas sonderlich Schlimmes zugetraut. Unmittelbar am Rand des Eisfeldes lag das Hecktau des Schiffes und an diesem Drahtseil waren die beiden Eskimohunde festgebunden. Aber ich verfiel gar nicht darauf, dass sie etwa die Aufregung der Schwertwale könnten verursacht haben, und rief nur eilig nach Ponting, weil die Tiere gar zu schön nahe waren. Ponting rannte mit seiner Kamera herbei, bereit, sie beim nächsten Auftauchen auf die Platte zu bringen; soeben waren sie verschwunden, aber im nächsten Augenblick wölbte sich das Eisfeld unter ihm und den Hunden und zerbarst in Stücke! Man hörte deutlich das dröhnende Geräusch, als die Walfische sich unter dem Eis aufrichteten und mit dem Rücken dagegen prallten. Dann tauchten sie einer nach dem anderen in den Spalten, die sie gebrochen hatten, hervor und streckten ihre hässlichen Riesenköpfe zwei, drei Meter über das Wasser, wobei ihre braungelbe Kopfzeichnung, ihre kleinen, funkelnden Augen und ihr schreckliches Gebiss – bei Weitem das größte und furchtbarste auf der Welt – deutlich zu sehen waren. Die Bestien sahen sich offenbar mit größtem Interesse danach um, was aus Ponting und den Hunden geworden war.
Ponting war glücklicherweise auf den Füßen geblieben und hatte sich mit ein paar Sprüngen auf festes Eis retten können, und auch von den beiden Hunden war keiner ins Wasser gefallen, da das Eis zufällig um sie herum und zwischen ihnen geborsten war, aber sie winselten und heulten nicht schlecht, als der Kopf eines Schwertwales keine zwei Meter vor ihnen auftauchte. Ob dann den Räubern das Spiel zu unbedeutend vorkam, weil ihnen Ponting dabei fehlte oder was sonst der Grund sein mochte: Sie verschwanden nach anderen Jagdgründen hin und wir konnten die Hunde, und was fast noch wichtiger war, mehrere Tonnen Petroleum, die auf einem nicht mit abgesplitterten Eisstück lagen, in Sicherheit bringen. Dass die Wale jeden, der etwa das Unglück hatte, ins Wasser zu stürzen, wegschnappen würden, darauf waren wir natürlich gefasst, aber dass sie mit so überlegter List handeln, gemeinsam vorgehen und Eis von fast einem Meter Dicke zertrümmern könnten, war uns etwas völlig Neues.
Ich kann also nur bestätigen, was die naturwissenschaftlichen Handbücher vom Schwertwal oder Mörder (Orca gladiator) vermelden, dass er an Kraft, Wildheit und Gefräßigkeit alle anderen Walarten übertrifft. Die ausgewachsenen Männchen sind durchschnittlich 6, die Weibchen 4 ½ Meter lang, doch soll man in Greenwich einen von 9 ½ Metern erlegt haben. Ihre Zähne – elf oder zwölf auf jeder Seite – sind 8 Zentimeter lang und stehen 6 Zentimeter über den Kinnbacken; sie sind überaus stark und scharf und die kegelförmigen Spitzen greifen ineinander. Man hat den Schwertwal beobachtet, wie er mit einem Seehund zwischen den Kinnbacken über der Oberfläche auftauchte, sein Opfer schüttelte, mit Leichtigkeit zermalmte und mit Behagen verschluckte. Im Magen eines dieser Raubtiere fand man die Überreste von dreizehn Delfinen und vierzehn Robben. Drei oder vier Schwertwale zusammen besinnen sich keinen Augenblick, die größten Bartenwale anzugreifen, die, vor Schreck gelähmt, oft gar keinen Versuch machen zu entrinnen; ja, sie verbinden sich zu Genossenschaften, um ganze Herden Wale zu jagen, in eine Bucht zu treiben und buchstäblich in Stücke zu zerreißen. Es sind Fälle vorgekommen, dass eine Schar Schwertwale über erbeutete Walfische herfiel, die an Fangschiffen vertäut waren; obwohl man sie mit Lanzen angriff und mit Schiffshaken verwundete, schleppten sie dennoch ihre Beute fort. An Intelligenz sind sie allen übrigen Walarten überlegen, und nach der heutigen Probe haben sie auch uns Achtung und Vorsicht eingeflößt; wir wissen jetzt, was wir von ihnen zu halten – und wessen wir uns zu versehen haben.
Heute besuchte ich einen gestrandeten Eisberg, in dem Ponting gestern eine wunderbare Grotte entdeckt hatte; durch ihre Rückwand leuchtete der Himmel wie durch einen Lichtschirm aus herrlichen Eiszapfen, und zwar mit einer königlichen Purpurfarbe, die durch den Kontrast mit dem Blau der Grotte oder durch optische Täuschung entstanden sein mag. Durch eine größere Öffnung konnte man, teils auch durch Eiszapfen hindurch, das Schiff, die Westberge und einen violetten Himmel erblicken – ein hinreißendes Bild, von dem Ponting mehrere prächtige Aufnahmen gemacht hat.
Im Übrigen ging die Arbeit heute trefflich vonstatten, wenn auch eine bessere Organisation und größere Vertrautheit mit den verschiedenen Aufgaben noch günstigere Resultate liefern werden. Der Bau der Hütte ist schon fast beendet; sie steht etwa 3 Meter über dem Wasser, ist also vor Spritzwellen geschützt, auch wenn wir bei eisfreier See Nordsturm haben sollten. Petroleum und das übrige Öl, Haferschrot für die Ponys und tausend andere Dinge sind schon an Land, und morgen sollen die Ponys mit der Arbeit beginnen. Den Hunden wird das Ziehen am warmen Tag sehr schwer; Meares will sie jetzt nachts arbeiten lassen. Die Motorschlitten fuhren heute unablässig hin und her, und Day und Nelson sind voller Optimismus, dass sie Wunderdinge damit verrichten werden. Ich fürchte nur, dass sie so schwere Lasten, wie ich mir gedacht hatte, doch nicht bewältigen können.
Freitag, 6. Januar. Ich ging heute zu Fuß über unsere Halbinsel, um ihre Südseite auszukundschaften. Hunderte von Skuamöwen nisten dort und griffen mich, wenn ich vorüberging, in ihrer gewöhnlichen Weise an: Unter wildem Geschrei flogen sie im Kreis umher und sausten dann aus einer bestimmten Höhe mit großem Ungestüm herunter, bis etwa ein paar Handbreit von meinem Kopf; dann schwangen sie sich wieder empor; die am kecksten waren, schlugen mich sogar mit den Flügeln. Im Anfang ist das eine etwas aufregende Sache; aber weiter geht der Angriff der Tiere nie.